Günter Grass bei der Waffen-SS?!

Es gibt 83 Antworten in diesem Thema, welches 23.023 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von helmutp.

  • (zumal Grass definitiv NICHT gelogen hat)


    Also hat GG seinem Biograf Jürgs zwischen 1944-46 eine Lücke hinterlassen, den Mund gehalten? Jürgs hat sich dann, um die Lücke zu schliessen, die Geschichte vom Flakhelfer aus den Finger gesogen? Wohl kaum! Und wie nennst du das in deinen Kreisen, wenn einer die Unwahrheit sagt?


    LG,
    dumbler


  • Also hat GG seinem Biograf Jürgs zwischen 1944-46 eine Lücke hinterlassen, den Mund gehalten?


    Ist die Biografie durch Grass autorisiert? Gab es nicht einen Streit zwischen Grass und dem Biografen oder verwechsele ich das mit einem anderen Buch?


    Gruß, Thomas

  • Hallo!



    Den Satz mit dem Schweigen findet man ja nicht erst seit gestern schon weit rechts aussen ... Der ist immer praktisch ... Klingt ungeheuer gut - sagt aber im Grunde genommen wie alle Parolen und Schlagwörter rein gar nichts.


    Der Satz mit dem Schweigen ist von Grass. Mit Bezug auf das Schweigen über das 1000jährige Reich. Wenn jemand bei anderen genau das kritisiert, was er selbst tut, finde ich das doppelbödig. - Das hat nichts damit zu tun, dass selbstverständlich alle Sinn- und Kalendersprüche - zweimal umgewendet - für alles und jedes Anwendung finden können.



    Aber - haben wir hier nicht wieder eine germanische (Un-)Tugend vor uns? Nämlich den Schriftsteller (den Dichter, nicht den Denker!) als moralische Anstalt ernst zu nehmen. Auch im jeweils eigenen Selbstverständnis: Böll hielt sich dafür, Grass ebenfalls ... Schon Schiller ... (Den ich überhaupt als Wurzel vieler merkwürdiger germanischer Ideen über Dichter und Denker, Dichtung und Denkung vermute ... ) Und natürlich auch die Nordgermanen des Literaturnobelpreiskommites vertreten diese Ansicht ...


    Ich halte keinen Schriftsteller für eine "moralische" Anstalt, und all jene, die sich dafür lauthals ausgeben, sind mir doppelt suspekt. Ich sehe auch niemanden, der behauptet hätte, dass das so ist oder auch nur so sein soll. (Eigentlich hast nur du behauptet, dass jemand, der Grass kritisiert, das so sehen würde. Für mich ist das definitiv falsch.) Aber eine Person, die mit diesem Anspruch auftritt, muss sich doch wohl auch gefallen lassen, mit seinen eigenen Maßstäben gemessen zu werden. Wenn der Pfarrer nach einer Kanzelrede über Tugend und Keuschheit ins Puff geht, wird man ihm ebenfalls - berechtigt - Doppelmoral vorwerfen (unabhängig davon, ob dieser Bordellbesuch an sich nun verwerflich ist oder nicht). Nochmal: Ich hätte mit dem Ganzen kein Problem (und zur Erinnerung, um hier keine falsche Aufgeregtheit zu erwecken, will ich nochmal auf meine Zucchini verweisen), wenn Grass recht bald nach dem Krieg seine Mitgliedschaft eingestanden hätte oder er sich nicht auf diese Weise exponiert hätte.


    Die Argumentation "alle lügen oder verschweigen" - "meine Oma lügt oder verschweigt" - "Oma ist aber lieb, weil sie mir zu Weihnachten ein Playmobil geschenkt hat" - "also darf ich Grass nur mit Großmuttermaßstäben messen" ist keine Argumentation, sondern eine Beschreibung der Welt. (An anderer Stelle (gehypte Bücher) habe ich - nebenher - erwähnt, dass eine Beweisführung durch Induktion problematisch (Unsinn?) ist, weil vorausgesetzt wird, was erst bewiesen werden soll. Das war weniger Erbsenzählerei als Hinweis darauf, dass einer Beweisführung durch Enum(m)eration keine Beweiskraft zukommt.) Die Tatsache, dass es mehr als einen Menschen mit bestimmten Verhaltensmustern gibt, hat nichts damit zu tun, dass diese Muster nicht kritisiert werden dürfen. Die Anzahl derer, die sich in grassscher Weise verhalten, ist für die geäußerte Kritik belanglos.


    Und - wer nicht in bestimmten Situationen war darf keine Kritik üben? Wer also nicht Präsident eines Staates war, darf Bush nicht kritisieren? Weil er die Schwierigkeiten einer solchen Position gar nicht kennt, den Druck der Lobbies, das Eingebundensein in komplizierte Entscheidungsprozesse etc.? Trotzdem haben fast alle Mitteleuropäer mehr oder weniger wohlmeinende Ratschläge für George W., und dies mit Recht. Ein nicht unwesentlicher Bestandteil unseres Lebens besteht darin, sich fremde Situationen vorzustellen und Handlungsmöglichkeiten zu erwägen. Dies ist Grundlage vieler Entscheidungsprozesse; kombiniert mit einem mehr oder minder großen Einfühlungsvermögen lässt dies erst ein gedeihliches Zusammenleben zu. Alles Strafrecht fußt auf solchen empathischen Überlegungen, man versucht sich in den Täter hineinzuversetzen, mildernde und strafverschärfende Umstände zu berücksichtigen. Aber kein Richter muss ein Handtaschendieb sein, um über ihn zu urteilen, er wird eben bloß die Beweggründe des Diebes abwägen und ein möglichst gerechtes Urteil zu sprechen versuchen.


    sandhofer


    Den Katholiken Böll und den Germanen Schiller opfere ich dir gern! Letzeren verwende ich ausschließlich als Zitatlieferanten (in dieser Hinsicht ist er aber fast unübertroffen), seine idealisierte Heroenhaltung als auch seine Einstellung gegenüber Frauen fand ich immer schon abstoßend.


    Grüße


    s.

  • Hallo zusammen,


    da wir uns ja alle - nach anfänglichem Zaudern - einig sind, dass wir nicht darüber reden, ob es verwerflich ist, 1944 mit 17 in die Waffen-SS eingetreten zu sein (obwohl ich xenophanes' Einwand für stichhaltig halte, aber soviel moralische Standhaftigkeit kann man sich wohl wünschen, kaum fordern, hmm), sind wir nun bei der Frage angelangt, die die Republik im Moment umtreibt. Es geht darum, dass Günther Grass, der einer der politischsten Schriftsteller Deutschlands ist und gerade in den 60ern, das wissen sicher die meisten hier, als Wahlhelfer für Brandt agierte, zwar stets sehr streng mit anderen war, diese Strenge nun aber für sich nicht mehr angewendet sehen will. Grass hat sich permanent in die Tagespolitik eingemischt, und das fällt ihm nun auf die Füße, da viele Leute ihm nun vorwerfen, und wohl nicht ganz zu unrecht, er messe mit zweierlei Maß.


    Ich selbst bin zu jung, um Grass politische Hochzeiten miterlebt zu haben, also bei der Diskussion, ob er früher anderen etwas vorgeworfen hat, was er heute für sich in Anspruch nimmt, auf die Zeugnisse derer angewiesen, die etwas älter sind.
    Luc Jochimsen (früher HR-Intendantin, heute für die Linke im Bundestag, aber das finde ich in dem Fall eher nebensächlich) hat heute früh in DeutschlandRadio Kultur eine ganz interessante Anmerkung gemacht. Sie sagte, Grass habe ihr früher deshalb so imponiert, weil er in einer Zeit, da alle Deutschen sich nur als Kriegsopfer sahen, die Opferrolle selbst niemals eingenommen, sondern im Gegenteil die eigene Täterschaft voll akzeptiert habe. Sie gab an, heute von Grass genau deshalb enttäuscht zu sein: Nicht weil er geschwiegen hat, nicht weil er in der Waffen-SS war, sondern weil er sich jetzt als Opfer stilisiert, dem die Öffentlichkeit, nur weil er die Wahrheit gesagt hat, nun übel mitspielt.


    Ich finde das eine ganz interessante Aussage einer Zeitzeugin. Grass demontiert sich als moralische Instanz - und die ist er für viele Menschen der ersten Nachkriegsgeneration - gerade selbst, weil er für seine SS-Mitgliedschaft die verbalen Prügel nicht einstecken will, sondern sich auf Jugend und Zwang beruft - etwas, das er nach Aussage Jochimsens in seiner politischen Tätigkeit der Nachkriegsjahrzehnte als Entschuldigung stets abgelehnt hat.


    Ich finde diese dritte Form der Kritik an Grass, die eher einer Enttäuschung Ausdruck verleiht, im Grunde sehr nachvollziehbar und auch weniger differenzierungsbedürftig als die zweite, hier nun lang diskutierte. Denn hier ist es schon ein Unterschied, wie ich finde, eine offizielle Ehrung an einem Grabmal zu kritisieren (wie in Bitburg) oder ein persönliches Schweigen zu einer Zeit, in der Widerstand zu leisten einfach unsere Bewunderung verdient, ich mir aber mit einem grundlegenden Tadel an fehlendem Rückgrat - und zwar gerade in eher symbolischer Weise, denn nach eigener Aussage hat Grass ja an keinerlei Gewalthandlungen mitgewirkt - wirklich schwer tue. Ich finde auf jeden Fall, man muss bei der Bewertung dieses Schweigens sehr behutsam vorgehen. Das Schweigen Grass' hat aufgrund der genannten Umstände sicher auch nicht dieselbe Qualität wie dasjenige Filbingers.


    Herzlich, B.

  • Hallo!


    Aber eine Person, die mit diesem Anspruch auftritt, muss sich doch wohl auch gefallen lassen, mit seinen eigenen Maßstäben gemessen zu werden.


    Nun - gefallen lassen sicherlich. Aber hier ist der springende Punkt: Egal, mit welchem Anspruch jemand auftritt - ich messe ihn nach meinem Massstab und nicht dem seinen. Das gilt für Rechts-, Linksradikale und alle dazwischen.


    Wenn der Pfarrer nach einer Kanzelrede über Tugend und Keuschheit ins Puff geht, wird man ihm ebenfalls - berechtigt - Doppelmoral vorwerfen


    "Man" - vielleicht. Ich nicht. Weil es mir nämlich wurscht ist, selbst wenn er nach so einer Predigt dorthin poppen ginge. Vielleicht geht er aber nur hin, um den dortigen Damen Tugend und Keuschheit zu predigen? :breitgrins:


    Ich erwarte von niemandem Moral - und kann deshalb auch niemandem Unmoral vorwerfen. Und wenn sich einer als Moralprediger aufspielt, so bin ich selber schuld, wenn ich ihm das abkaufe, seine Rolle, sein Spiel akzeptiere. Ob das nun der Dorfpfarrer ist oder Günter Grass. Hier ist der Punkt, wo ich die ganze Aufregung nicht nachvollziehen kann.


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Hallo!



    Nun - gefallen lassen sicherlich. Aber hier ist der springende Punkt: Egal, mit welchem Anspruch jemand auftritt - ich messe ihn nach meinem Massstab und nicht dem seinen.


    Das ist aber doch ein sehr solipsistischer Standpunkt. Ich denke, dass man Heucheleien durchaus kritisieren sollte.


    Was die politische Rolle eines Schriftstellers angeht, halte ich es wie andere hier, dass ich die Person vom Werk trenne. Die Rollenbewertung hängt aber auch vom politischen System ab, in dem ein Intellektueller agiert. Man denke etwa an die osteuropäischen Dissidenten während des kalten Kriegs, oder an die aktuelle Situation in China, Kuba oder Weissrussland. Hier finde ich es durchaus löblich, wenn sich prominente Autoren für Werte der Aufklärung engagieren und damit die politische Verantwortung ihrer Rolle wahrnehmen.


    CK

  • Hallo zusammen!


    Das ist aber doch ein sehr solipsistischer Standpunkt. Ich denke, dass man Heucheleien durchaus kritisieren sollte.


    Da hätte ich viel zu tun. :breitgrins: Mir reicht es, wenn ich versuche, dadurch nicht zu Schaden zu kommen.


    Solipsismus? Ja. Bei den meisten jetzt en masse hervortretenden moralischen Kritikern Grass' - Solipsismus auf Grass projiziert. Jeder misst nach seinem eigenen Massstab, aber nicht sich selber, sondern Grass. Und alle, alle sind offenbar der Meinung, ihr Massstab und der von Grass seien identisch (gewesen) und sie müssten nun Grass verurteilen, weil er von dem ihren (und vermeintlich dem seinen) abweiche. "Kindische Enttäuschung" nennt es Bora osi.


    Die Frage sollte meiner Meinung nach lauten: Welche Bedeutung hat das Ganze nun - für mich? Diesen Gesichtspunkt vermisse ich in der Diskussion.


    (Meinethalben auch: Welche Bedeutung hat das für uns? Ob der Mensch aus der Geschichte lernen kann, ist seit Jahrhunderten fraglich; und auch hier scheint niemand bereit zu sein, Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Für sich selber, meinethalben für uns alle - aber sicher nicht für Grass alleine.)


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Hallo!


    Ich kenne derlei als gemütliche Biertischhaltung. Alle Menschen sind potentielle Heuchler, insonderheit jene in der Öffentlichkeit Stehenden (zusammengefasst wird diese Öffentlichkeit unter einem "die" oder "die da oben"). Und weil nun eben die ganze Welt unmoralisch ist, kann und darf man stets drauf verweisen, es immer schon gewusst zu haben; alles ist verkommen und verlottert - hat sich jemand bislang nicht als Arschloch deklariert, so ist das reiner Zufall. Wir wissen es nur noch nicht. Ich finde es aber keineswegs "kindisch", eine positive Erwartungshaltung zu besitzen.


    Das Ausmaß der persönlichen Enttäuschung über das grasssche Verhalten hält sich bei mir in Grenzen. Allerdings ist es mir immer angenehmer, jemand (wer auch immer) würde sich nicht als Pseudomoralist entpuppen. So auch bei Grass.



    Ich erwarte von niemandem Moral - und kann deshalb auch niemandem Unmoral vorwerfen.


    Wenn du von niemandem Moral erwartest, musst du auch von deinem persönlichen Umfeld ständig erwarten, belogen und betrogen zu werden. Ich zweifle, ob eine solche Haltung tatsächlich möglich ist. (Ich räume gerne ein, dass mein Zweifel nichts über die tatsächliche Möglichkeit einer solchen Haltung aussagt.)


    Meine persönliche Lebenshaltung ist eine andere. (Ob sie "richtiger" oder "falscher" ist natürlich unentscheidbar, weil dazu eine Übereinstimmung bezüglich der vorgestellten Welt, ihrer Werte erzielt werden müsste. Und warum Welt A der Welt B vorzuziehen ist. Welche Welt nun jemand für erstrebenswert hält, weshalb bestimmte Wege erfolgversprechender sind, ist eine ungeheuer komplexe Frage und im Rahmen dieses Threads ganz sicher nicht diskutierbar.) Jedenfalls: Wenn ich nach einer Straße frage, gehe ich von der Annahme aus, dass man mich nicht in die falsche Richtung schickt. Jeder bekommt eine Art Vertrauensvorschuss. Lerne ich jemanden kennen, lese ich einen Bericht, eine Email, einen Essay, vermute ich erstmal, dass das Geschriebene, Gesprochene aufrichtig gemeint ist. Oft genug mag sich die Irrtümlichkeit einer solchen Annahme herausstellen. Ich kenne aber sowohl private als auch in der Öffentlichkeit stehende Personen, deren moralische Integrität ich achte und von denen ich auch erwarte, dass sie sich weiter so verhalten. Wissen kann ich das selbstverständlich nicht, Enttäuschungen sind vorprogrammiert, aber v. a. in privater Hinsicht so selten, dass es mir anmaßend erschiene, diesen Vertrauensvorschuss nicht zu erteilen.


    Dieser Thread scheint mir ein Beweis dafür, dass man - langen Atem vorausgesetzt - immer bei Adam und Eva landet.


    Paradiesische Grüße


    s.

  • Zitat von "scheichsbeutel"

    Ich kenne aber sowohl private als auch in der Öffentlichkeit stehende Personen, deren moralische Integrität ich achte und von denen ich auch erwarte, dass sie sich weiter so verhalten. Wissen kann ich das selbstverständlich nicht, Enttäuschungen sind vorprogrammiert, aber v. a. in privater Hinsicht so selten, dass es mir anmaßend erschiene, diesen Vertrauensvorschuss nicht zu erteilen.


    Das ist schon ein bisschen der Punkt bei der Moraldebatte. Ich bin zwar kein Luhmannianer, aber damit, dass Vertrauen in der heutigen Welt unverzichtbar zur Komplexitätsreduktion ist, hat er schon recht. Dem Funktionieren bestimmter Organe und eben auch öffentlichen Aussagen möchte ich vertrauen können. Wobei Grass, auch da sind wir uns einig, mir da jetzt weniger wichtig ist als das Verfassungsgericht ;-).
    Und ist eine solipsistische Moral überhaupt noch eine? Braucht Moral nicht ein Minimum an Überpersönlichkeit?


    Zitat von "sandhofer"

    Die Frage sollte meiner Meinung nach lauten: Welche Bedeutung hat das Ganze nun - für mich? Diesen Gesichtspunkt vermisse ich in der Diskussion.


    Das musst du mir ein bisschen näher erklären, auch der Nachsatz in KLammer macht mir nicht klarer, worauf du hier hinauswillst. Was könnte es denn "für dich" oder "für uns" bedeuten?


    Herzlich, B.

  • Hallo!



    Das ist schon ein bisschen der Punkt bei der Moraldebatte. Ich bin zwar kein Luhmannianer, aber damit, dass Vertrauen in der heutigen Welt unverzichtbar zur Komplexitätsreduktion ist, hat er schon recht. Dem Funktionieren bestimmter Organe und eben auch öffentlichen Aussagen möchte ich vertrauen können. Wobei Grass, auch da sind wir uns einig, mir da jetzt weniger wichtig ist als das Verfassungsgericht ;-).
    Und ist eine solipsistische Moral überhaupt noch eine? Braucht Moral nicht ein Minimum an Überpersönlichkeit?


    Nach Deaktivierung meines Anti-Soziologenprogrammes 1.0 Betaversion (dessen Start automatisch bei der Nennung des Namens Luhman erfolgt) spätabendliche Kurzantwort (die schon wieder länger wurde): Grundsätzlich glaube ich nicht, dass ein solipsistischer und moralischer Standpunkt möglich ist - abhängig natürlich von den jeweiligen Definitionen: Ob erkenntnistheoretischer oder radikaler Solipsismus. Diesen zu vertreten ist widerspruchsfrei kaum möglich; ich glaube von Russel stammt die Anekdote, dass er einmal auf eine Vertreterin dieser Richtung traf, welche sich darob verwundert zeigte, dass sie die einzige ihrer Zunft sei und die sich auf die Suche nach Mitstreitern machte (die es geben müsse), weil ihre Position so einleuchtend sei.


    Wenn man Moral (in aller Kürze) als einen Katalog von Norm- und Wertvorstellungen begreift, der in einer Gesellschaft als verbindlich anerkannt wird und dem Einzelnen Rechten und Pflichten abverlangt, ist wohl nur der epistemische Solipsismus mit einem Wertesystem vereinbar. Aber selbst in einem solchen System müsste es unendlich viele Moralsysteme (so viele wie Menschen) geben, weil ja nur das der eigenen Erfahrung Zugängige anerkannt wird. Außer man behilft sich damit, die berichteten Erfahrungen anderer als die eigenen zu betrachten, obschon wir dann einer recht "normalen" (unserer?) Gesellschaft landen.


    Endgültig off topic: Vertrauen zur Komplexitätsreduktion scheint in jedem Fall ein probates, funktionierendes Mittel. Verstanden habe ich Luhmanns autopoietische Systeme (und besonders deren mir willkürlich erscheinenden Grenzen) nie wirklich, halte sie aber mutatis mutandis für sehr aussagekräftig und stimmig (wenn man sich etwa soziale Gruppen wie Mitglieder einer bestimmten Partei oder eines Fußballklubs ansieht). Aber im Grunde kenne ich viel zu wenig von ihm, um mir ein Urteil erlauben zu dürfen; das Lesen von Soziologen hat mir fast so wenig Freude bereitet wie das von Postmodernen und Dekonstruktivisten. Im Unterschied zu Letzeren (am schlimmsten: Postmodern dekonstruierte Psychoanalytiker - Lacan) gibt es ja wirklich lesbare Soziologen. Aber sehr oft lohnt es nicht (und ich werde alt und älter), auch wenn ich von kompetenter Seite in letzter Zeit Empfehlungen entgegennahm (worunter u. a. auch Luhmann war). Vielleicht ist noch nicht alle soziologische Hoffnung bei mir verloren.


    Eine schöne Nacht!


    s.

  • Hallo zusammen!


    Ich kenne derlei als gemütliche Biertischhaltung.


    Unterschätzt mir die Biertische nicht ...


    Ich finde es aber keineswegs "kindisch", eine positive Erwartungshaltung zu besitzen.


    Aber das Gejammer über die Enttäuschung einer solchen Haltung?


    Wenn du von niemandem Moral erwartest, musst du auch von deinem persönlichen Umfeld ständig erwarten, belogen und betrogen zu werden. Ich zweifle, ob eine solche Haltung tatsächlich möglich ist. [...] Meine persönliche Lebenshaltung ist eine andere. [...] Wenn ich nach einer Straße frage, gehe ich von der Annahme aus, dass man mich nicht in die falsche Richtung schickt.


    Ich auch ... Ausser ... aber das kommt gleich ...


    Ich bin ja relativ simpel gestrickt. Ob epistemologisch oder moralisch funktioniere ich grosso modo nach einer simplifizierten Version von Vaihingers Philosophie des Als Ob. Das heisst, dass ich mir im Alltag keine allzugrossen Gedanken mache über das Ding an sich - mich aber auch nicht wundere, wenn sich eine Erscheinung als Fata Morgana entpuppt oder ich auf der Strasse in eine falsche Richtung gewiesen werde. (Was mir übrigens in Brasilien systematisch passiert ist. Bis ich herausgefunden habe, dass es dort als unhöflich gilt, einem Fragenden keinen Bescheid zu geben. Selbst wenn man den Weg nicht weiss, wird man dem Auskunftheischenden seinen Wunsch befriedigen und ihn in irgendeine Himmelsrichtung schicken.)


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)


  • Ach du lieber Himmel! Ich wußte gar nicht, daß der Ex-Mann von Ulrike Meinhof mit Günter Grass auf einer Schule war! Wow, interessant. Allerdings stellt es ihn heute wohl in einem falschen Licht dar, wenn man ihn einzig und allein als Mitgründer der linken Zeitschrift "Konkret" darstellt - er hat ja durchaus einen enormen politischen Wandel vollzogen und will sicherlich nicht nur auf diese Lebensphase reduziert werden. Schließlich ist er ja jahrelang schon in der FDP aktiv...
    :zwinker:
    (Sorry für OT.)


    Beim letzten zitierten Satz muß ich ihm aber eigentlich schon wieder recht geben - bewundernswert ist es allemal. :rollen:


    Liebe Grüße
    dubh

    Liebe Grüße

    Tabea

  • Hallo!



    Aber das Gejammer über die Enttäuschung einer solchen Haltung?


    In der Terrminologie werden unsere unterschiedlichen Einstellungen sichtbar. Ich empfinde eine Diskussion über ein widersprüchliches Verhalten nicht als Gejammer. Für mich ist ein solches Verhalten auch keine Selbstverständlichkeit, wenngleich sich mein Erstaunen über derlei Dinge in Grenzen hält. Ich weiß um die "Schlechtigkeit" der Welt (gern miteingeschlossen auch um meine eigene), ohne aber alle öffentlichen Repräsentanten für korrupt und verlogen zu halten. Und die Diskussion halte ich für wichtig und bin manchmal froh, dass andere sie mit bewundernswerter Ausdauer führen. Ich selbst bin für Derartiges ohnehin nicht geeignet, da ist eine mir tief innewohnende Gemütlichkeit davor. Und die Gefahr, wie weiland manch Listenreicher einen Marmor wieder und wieder wälzen zu müssen, ist - zugegebenermaßen - nicht unerheblich.


    Grüße


    s.

  • Wie bedauerlich. Ich habe diese Diskussion mit großem Interesse und Vergnügen verfolgt, auch wenn ich mich nicht daran beteiligte. Ich empfinde es als Wohltat, wenn sich Leute so artikulieren, wie es hier einige vorgeführt haben. Wenn dabei Worte oder Themen oder Anspielungen zur Sprache kommen, die ich nicht kenne, fühle ich mich angestachelt, meine Unwissenheit zu beseitigen und habe damit nur gewonnen.


    Scheichsbeutel, vielen Dank für deine gelungenen Beiträge. Ich würde gerne mehr von dir lesen.


    Edit: Ich habe die Beiträge, die nichts mit dem Thema zu tun haben, abgetrennt und zur Forenregeldiskussion hinzugefügt. LG nimue

    Einmal editiert, zuletzt von nimue ()


  • möff...mal überlegt, daß er wahrscheinlich gerade aufgrund dieser Vergangenheit in die "Rolle der moralischen Instanz" schlüpft?
    Und allen, die der Meinung sind, daß ein 17jähriger schon sehr genau weiß was er tut, sei mal die Lektüre "Die Welle" empfohlen, ich finde da wird ziemlich eindrucksvoll geschildert wie schnell man in diesen Sog gerät.
    Nix für ungut, nur als Anregung und sorry falls es schon erwähnt wurde.

    LG Gytha

    “Dieses Haus sei gesegniget”

  • Als Emile Zola im Jahre 1898 mit seinem offenen Brief J’accuse an den französischen Präsidenten über die Hintergründe der
    Dreyfuss-Affäre informierte, da schrieb er Geschichte und gab der Affäre ein ungeahnte Wendung. Der zu Unrecht des Verrats bezichtigte jüdische Major Dreyfuss kam aus der Verbannung frei.


    Hierzulande ist es unter den prominenten Schriftstellern Günter Grass, der sich oft zu gesellschaftlichen und politischen Themen äußert. Zuletzt dieser Tage, als er dem früheren SPD-Chef Lafontaine Verrat vorwarf. Der Haken daran? Der Haken daran ist: Grass ist nicht Zola. Grass hatte jahrzehntelang andere SPD-Mitglieder bedrängt ihre braune Vergangenheit zu offenbaren, während er gleichzeitig die eigene Zugehörigkeit zur Waffen-SS verschwieg. Das war nicht nur feig, sondern auch pure Heuchelei.


    Als moralische Instanz hat Grass für mich versagt und seit diesem Tag ausgedient und ich muss zugeben, dass ich unangenehme Peinlichkeit und Fremdscham empfinde, wenn ich ihn wie dieser Tage den moralischen Zeigefinger heben sehe. Bitte ab jetzt nur noch zu Kochrezepten Stellung nehmen.


    VG Helmut

  • Mit dem Verschweigen seiner braunen Vergangenheit hat Grass natürlich einen Fehler gemacht.
    Nur, will man ihm das jetzt bis zu seinem Tod vorhalten? Darf sich jetzt dieser Mann nun niemals
    mehr zu einer moralischen Frage äußern oder anderen ihre Fehler vorhalten?


    Und wie sieht es mit uns selber aus? Habe ich schon mal einen moralischen Fehltritt begangen?
    Ja, mit Sicherheit.
    Heißt das nun, ich darf meinen Kinder in moralischen Fragen keine Ratschläge mehr erteilen weil
    ich sonst ein Heuchler sein könnte?


    Wenn es darum geht über andere zu richten, aber unsere eigenen Fehler außen vor zu lassen,
    sind wir Deutschen offensichtlich Weltmeister.

  • Zu Mal es nach wie vor ein Junge von 17 Jahren war und kein Erwachsener der damals im Krieg war, es wird immer so getan als ob er weiß gott was vertuscht hätte, aber er war sehr jung und grade hier kann man sich noch ändern. Und wer seine Romane gelesen hat, wusste sowiso das hier jemand schreibt der nicht einfach so auf seine Themen kam... Ich finde es wird hier in keinem Verhältnis geurteilt.
    Für mich ist Grass aus anderen Gründen kein Vorbild. Er meldet sich immer dann zu Wort wenn eigentlich schon alles gesagt ist und plustert sich gerne als Moralist auf. Immer dann wenn er mal wieder Aufmerksamkeit braucht. Das ist für mich nicht glaubwürdig.