Carlos Fuentes - Die gläserne Grenze

Es gibt 30 Antworten in diesem Thema, welches 14.594 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Saltanah.

  • V: Malintzin of the Maquilas:


    Diese Geschichte hat mich nicht so sehr beeindruckt wie die vorhergehenden, was an dem einfacher zugänglichen Stil lag. Inhaltlich hat sie mir aber - bis auf die auch von euch kritisierte Szene mit dem toten Kind - gut gefallen. Diese Szene hätte besser zu einem Roman von Charles Dickens gepasst, an den ich immer denken muss, wenn es um das Elend von Fabrikarbeitern geht. Verglichen mit den ArbeiterInnen im England des 19. Jh. scheint es den Arbeiterinnen hier aber verhältnismäßig gut zu gehen. Sie hungern immerhin nicht und können sogar den Arbeitsplatz wechseln, wenn sie merken, dass die eintönige Arbeit zu gesundheitlichen Schäden führt. Es könnte also viel schlimmer sein - aber auch viel besser. Von sozialer Absicherung kann nun wirklich die Rede sein; Krankheit oder Arbeitsunfall bedeuten das Aus, falls keine Familie da ist, die die Erkrankte auffangen kann. Und gerade da sieht es eher schlecht aus. Die alten Familienbande sind bei vielen zerrissen und neue nicht geknüpft, was ja auch zum Tod des Kindes geführt hat. Von daher ist die Szene doch nicht ohne Bedeutung.
    Dass Barroso sich keinen Deut um die Situation seiner Arbeiterinnen schert und es ihm nur um den maximalen Gewinn bei minimalem Einsatz geht, überrrascht nicht wirklich. Und wenn die Arbeiter gerade da wohnen, wo man so schön einen neuen Industriepark hinbauen könnte, dann ist das eben deren Pech. Die Bedenken des Amis, der doch leichte Gewissensbisse angesichts der Situation der Arbeiter hatte, werden durch die Aussicht auf einen großen Gewinn sehr schnell zerstreut.


    Ein Rätsel war mir der Titel, also habe ich gegoogelt und bin auf folgendes gestoßen:
    Malintzin (=Malinche):

    Zitat

    La Malinche (* ca. 1501 nahe Coatzacoalcos; † ca. 1529 in Mexiko-Stadt), indianisch Malintzin oder Malinalli genannt, und von den Spaniern auf den Namen Marina getauft, spielte als Übersetzerin und Geliebte des spanischen Eroberers Hernán Cortés eine bedeutende Rolle während dessen Eroberungsfeldzug in Mexiko.
    Im heutigen Mexiko genießt die Indianerin Malinche eine sehr geteilte Wertschätzung, manche sehen in ihr sogar eine der umstrittensten Frauen der Weltgeschichte. Während die nach der Eroberung verfassten aztekischen und tlaxkaltekischen Chroniken noch ein positives Bild von Malinche zeichneten, steht seit dem Aufkommen des mexikanischen Nationalismus im 19. Jahrhundert der Begriff malinchismo für den Verrat am eigenen Volk. Andere Mexikaner sehen in ihr, der Mutter der ersten historisch belegten Mestizen, eine Art Mutter der Nation (die Mestizen stellen heute die Mehrheit der mexikanischen Bevölkerung).

    (Ausschnitte aus dem Wikipedia-Artikel, meine Hervorhebung)
    Wieso Fuentes seine Protagonistin allerdings so nennt, ist mir nicht ganz klar. Ist Marina für ihn die Inkarnation der modernen mexikanischen Fabrikarbeiterin und die Mutter eines neuen Volkes oder ist sie eine Verräterin an den Traditionen der mexikanischen Landbevölkerung?

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • :winken: Hallo, ich bin auch wieder da, durch Jobstress diese Woche komme ich allerdings nur weniger intensiv zum Lesen als ich mir das wünschen würde.

    Zitat

    Wieso Fuentes seine Protagonistin allerdings so nennt, ist mir nicht ganz klar. Ist Marina für ihn die Inkarnation der modernen mexikanischen Fabrikarbeiterin und die Mutter eines neuen Volkes oder ist sie eine Verräterin an den Traditionen der mexikanischen Landbevölkerung?


    Fuentes, so scheint es mit, spielt gerne mit Ambivalenzen. Das, denke ich, ist auch hier der Fall. Marina zeigt ja viele verschiedene Schattierungen der mexikanischen Frau, die hart arbeitet, aber trotzdem betrogen wird, die ihre Ideale hat, aber auch ein gesundes Maß an Pragmatismus. Einerseits ist dieser Typ Frau, gerade der hart arbeitende, Sinnbild einer neuen mexikanischen Generation, damit wird aber viel Tradition aufgegeben, so dass das eine wohl das andere bedingt.
    Erzählung sechs ist eine sehr angenehm zu lesende Sequenz, die aus meiner Sicht auch gut als Auftakt oder Grundgerüst eines eigenen Romans geeignet wäre. Die Genese der "gläsernen Grenze" ist aus meiner Sicht ohnehin eine spannende Frage. Hat Carlos Fuentes aus mehreren vorhandenen Ideen diese Synthese konstruiert? Oder hat er ohne größere Vorarbeiten etwas Grundständiges geschrieben?
    Auch die zuletzt gelesene Erzählung lebt wieder von ihren wunderschön ausgearbeiteten Gegensätzen, die eben nicht nur entlang der geographischen Grenzen, sondern auch an anderen Brüchen sichtbar werden.
    Es geht vielleicht weniger aufgeregt zu als auf den vorangegangenen Seiten, die Charaktere sind aber mindestens ebenso stark und schön beschrieben. Nicht schlüssig bin ich nach wie vor, wie das Ende zu verstehen ist. Stirbt Amy etwa in den Armen Josefinas? Für mich sind da mehrere Deutungen möglich....
    Mit großer Neugier gehe ich nun an das letzte Drittel dieses spannenden Werkes.
    rkmex

  • Hallo!



    Nicht schlüssig bin ich nach wie vor, wie das Ende zu verstehen ist. Stirbt Amy etwa in den Armen Josefinas? Für mich sind da mehrere Deutungen möglich....


    Ich fand das Ende irgendwie überzeichnet. An den Tod habe ich aber überhaupt nicht gedacht. Amy ist eine gehässige, harsche, alte Lady, die nie Zuneigung gezeigt hat und daher gescheitert ist (sie heiratete nicht den Mann, den sie liebte). Josefina ist eine demütige, höfliche, durch nichts aus der Ruhe bringende Frau, die die Liebe gefunden hat (auch wenn diese im Gefängnis sitzt). Diese zwei verschiedene Charaktere stehen sich quasi diametral entgegen. Und plötzlich am Ende diese Umkehr :confused:; ich fand es nicht glaubwürdig. Vielleicht ist es als ein kurzfristiger Ausbruch an Menschlichkeit zu verstehen, der dieses Schlafzimmer nicht verlassen darf.


    Interessant fand ich, dass Josefina aus Juchitán kommt. Diese Stadt hat einen besonderen Ruf; dort existiert angeblich eine von Frauen dominierte Gesellschaft. "Die Frauen von Juchitán verfügen über das Geld; ihnen gehören die Häuser, sie haben Kinder von unterschiedlichen Vätern; sie sind Händlerinnen und Produzentinnen; sie reisen seit Jahrhunderten mit ihren Waren über Land; sie bestimmen die Feste und Tänze, und sie bewahren die Tradition", so ein Auszug aus dem Buch Juchitán - Stadt der Frauen, von Veronika Bennholdt-Thomsen. Ich habe es nicht gelesen, es wurde aber in jeder Vorlesung zu Lateinamerika erwähnt. Aber Fuentes geht nicht näher darauf ein. Und ich weiß auch nicht, ob das überhaupt seine Absicht war. Mir ist nur der Name aufgefallen.


    Die nächste Erzählung geht einen Schritt weiter und beschreibt auf eine andere Art und Weise die "gläserne Grenze" zwischen Mexikanern und Amerikanern in den USA. Ich habe die Erzählung bis jetzt eigentlich nur überflogen, jetzt wartet eine längere Zugreise auf mich, also werde ich sie mir noch einmal vornehmen. Vor allem muss ich herausfinden, warum Lisandro seinen Namen nicht nennen wollte, sondern seine Nationalität hinschrieb. Sind interkulturelle Beziehungen unmöglich? Sind die Gräben zwischen diesen zwei Gesellschaften so unüberwindbar?


    Lg
    nikki

    Ich lese gerade:<br />Lion Feuchtwanger - Der jüdische Krieg

  • Hallo zum Wochenende!
    Die siebte Erzählung scheint habe ich sehr genossen, eingängig zu lesen, quasi ein Konzentrat des gesamten Buches. Das geht schon mit dem Titel los, der durch die Entwicklung hier ja gleich wieder einer ganz neue Bedeutung erhält. Sowohl stilistisch - Zusammenführung unabhängig scheinender Stränge in ein Gesamtkunstwerk, als auch inhaltlich - alle zentralen Leitmotive werden aufgenommen - eine sehr hübsche Miniatur, richtig romantisch.
    Erstmals werden aber auch stärkere Brüche an einzelnen Figuren sichtbar, Michelina verliert durch ihre Rückbesinnung viel von ihrem parvenuehaften Charakter, und auch Don Leonardo hat ja durchaus auch seine sympatischen Seiten, jedenfalls im Verhältnis zu diversen, knallharten Gringo-Kapitalisten.
    Sehr stark beschrieben und für mich tagtäglich erlebbar ist der Kampf der (früheren?) Mittelschicht im Kampf gegen das Abgleiten in die Unterschicht, ja, genauso stellt sich das dar, auch zehn Jahre nach Erscheinen des Buchs.
    Ich glaube übrigens nicht, dass der Flirt zwischen Audrey und Lisandro letztlich an kulturellen Hürden scheitert. Eher scheint es so, dass der Gegensatz oben und unten die entscheidende Barriere darstellt. Lisandro kann es doch gar nicht fassen, dass sich die reiche Gringa für ihn interessiert. Obwohl er einen erheblichen Stolz zur Schau trägt, leidet er doch unter erheblichen Komplexen, weil er seinen Abstieg nicht aufhalten konnte. Sein Hinweis, Mexikaner, ist für mich eine Art Warnung an Audrey, nach dem Motto, Vorsicht, ich bin doch nur ein kleines Würstchen...
    Gleichzeitig sollte diese Episode aber auch den Mexikanern sagen: Seid selbstbewußt, Ihr seid nicht schlechter als die anderen!
    Was mich übrigens wieder zur Frage bringt, ob Carlos Fuentes einen bestimmten Leserkreis im Auge hatte, als er an der gläsernen Grenze arbeitete. Ich bin mir jedenfalls sicher, dass die Perzeption in Mexiko, den USA, bei unbeteiligten Dritten und dann noch in verschiedenen sozialen Umfeldern sehr unterschiedlich ausfallen dürfte. Aber das macht meiner Meinung nach auch ein großes Werk aus.
    Ich freue mich schon darauf, über das Wochenende erfahren zu können, wie sich die einzelnen Fäden zu einem großen Ganzen verknüpfen werden!
    Viel Spaß!
    rkmex

  • VI - Las Amigas:


    Stirbt Amy etwa in den Armen Josefinas?


    So hatte ich das nicht aufgefasst, aber beim Wiederlesen erscheint diese Deutung möglich. Gerade die letzten Worte an embrace that while never repeated would last an eternity lassen Amys Tod wahrscheinlich werden. Ich hatte es allerdings so aufgefasst, dass Amy, diese alte, verbitterte Frau, die nie einem Menschen wirklich nahe gekommen war, durch das Gespräch mit ihrem Neffen, in dem sie erstens erfährt, dass sie den geliebten Mann aus eigener Schuld verloren hatte und sie zweitens aufgrund ihres Verhaltens im Begriff ist, auch den letzten Menschen, zu dem sie noch Kontakt hat - nämlich besagten Neffen, der sich von ihr losspricht - zu verlieren, einen gewaltigen Schock bekommt. Einen Schock so groß, dass sie doch tatsächlich über ihren eigenen Schatten springt, und wirklich direkt mit Josefina spricht und es zu einem Kontakt direkt von Mensch zu Mensch kommt, ungetrübt von Konventionen und Gewohnheiten. Den intensivsten Ausdruck erfährt dieser Kontakt in der Umarmung, die so "wahrhaftig" ist, dass sie nie wieder wiederholt werden muss. Die Nähe ist einfach da und braucht nicht weiter bewiesen zu werden. Die beiden Frauen sind trotz aller Unterschiede zu Freundinnen (siehe Titel) geworden. Ich denke, dass das die "Moral" der Geschichte ist. Es ist möglich (wenn auch nicht leicht oder wahrscheinlich), über alle Grenzen hinweg Freundschaft zu schließen. Ob Amy dann sofort stirbt oder nicht, ist für mich zweitrangig.


    VII - The Crystal Frontier
    Nie hätte ich gedacht, dass die "gläserne Grenze" diese, ganz konkrete Form annehmen würde.
    Vor allem ist mir in dieser Geschichte aufgefallen, dass zum ersten Mal im Buch extreme Armut geschildert wird. Bisher waren die Leute zwar nicht direkt reich, aber das Überleben war - auch bei den Fabrikarbeiterinnen - gesichert. Hier aber wird gezeigt, wie der Kampf ums Überleben auch aussehen kann, womit ich nicht Lisandro und seine Familie meine, sondern das frühere Hausmädchen der Familie und deren Kinder. Da ist ja nicht einmal mehr von Kinderarbeit die Rede (in dem Sinne, dass sie für Arbeit einen wenn auch geringen aber immerhin sicheren Lohn bekommen), sondern jeden Tag wieder stellt sich die Frage, ob sie durch Bettelei, Vorführungen, Straßenverkauf überhaupt irgend etwas "einnehmen" werden.
    Nahezu tragisch empfinde ich es in diesem Zusammenhang, dass die mexikanischen Arbeiter Don Leonardo wirklich dankbar für ihre Arbeit sein müssen, denn er gibt ihnen mit seiner Aktion (bei der er garantiert einen schönen Gewinn macht) immerhin Arbeit und einen Lohn an den in Mexiko (selbst wenn sie dort Arbeit finden würden) nicht zu denken wäre. Don Leonardo als Wohltäter? :entsetzt: Es widerstrebt mir, ihn so zu sehen, und wie ich schon andeutete, so tut er das sicher nicht ohne selbst dabei zu gewinnen, aber immerhin... Aber soll man seinen Ausbeutern wirklich dankbar für die Brosamen sein, die dabei für einen selbst abfallen?
    Ebenfalls ist mir eine Parallele zwischen Michelina und Lisandro aufgefallen: beide sitzen halb gegen ihren Willen im Flugzeug, d. h., sie möchten eigentlich aus ihrer Situation heraus, fühlen sich aber durch Rücksicht auf ihre von ihnen abhängigen Familien dazu gezwungen.
    Diese Aspekte kamen mir wichtiger vor als das Treffen von Audrey und Lisandro. Die beiden, getrennt durch das Glas, können in den jeweils anderen alles das hineinlesen, was sie sich wünschen, im sicheren Bewusstsein, dass sie voneinander nie enttäuscht werden können, da ein näherer Kontakt von vorneherein ausgeschlossen ist. Hier, denke ich, sind es die äußeren Bedingungen, symbolisiert durch die gläserne Wand, die ein wirkliches Treffen unmöglich machen. Zu viele Grenzen liegen zwischen den beiden: Nationalität, Aufenthaltsort, Sprache, Schicht, Geschlecht. Dies alles zu überwinden ist kaum möglich und vielleicht auch gar nicht erwünscht. So können sie voneinander träumen, ohne sich der Wirklichkeit stellen zu müssen. Sie hat in ihm das Gegenteil zu ihrem widerlichen Ex gefunden, er in ihr die reiche Frau seiner "eigentlichen" Schicht, die ihn nicht als armen Mann verachtet, sondern sein wirkliches Ich sieht. Imagining each other, das ist, was sie tun.



    Ich bin mir jedenfalls sicher, dass die Perzeption in Mexiko, den USA, bei unbeteiligten Dritten und dann noch in verschiedenen sozialen Umfeldern sehr unterschiedlich ausfallen dürfte.


    Davon bin ich überzeugt. Je nach eigenem Hintergrund fallen den LeserInnen garantiert ganz unterschiedliche Aspekte auf und das Gute an diesem Buch ist gerade, dass es ganz verschiedene Deutungen zulässt.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Diese achte Erzählung - oder sind es zwei - hat mich reichlich ratlos zurückgelassen. :pueh: Besonders der düstere Teil aus der nordspanischen Provinz ist mir ehrlich gesagt ein Mysterium. Das Schicksal eines Mexikaners, der seinen drögen Alltag mit Hilfe von glücklichen Umständen hinter sich zu lassen scheint, wird offenbar durch eine völlig willkürliche Fügung zu einem abruptem Ende gebracht.
    Die USA spielen plötzlich keine Rolle mehr, stattdessen tritt das koloniale Erbe Spaniens auf. Don Leonardo bleibt als Korsettstange erhalten, aber sonst schwebt diese Geschichte im luftleeren Raum. Vom Erzählstil durchaus interessant und fesselnd gemacht, da erweist sich Carlos Fuentes wieder einmal als Meister. Aber die Einordnung in den Gesamtzusammenhang erschließt sich mir noch nicht wirklich.
    Ich schätze, dass diese Erzählung als Vorspiel zum großen Finale dient, das sich auf den kommenden Seiten anbahnt. Vermutlich werde ich erst dann klar analysieren können, was ich da zuletzt gelesen habe. Aber das macht die Vorfreude und die Neugier natürlich nicht geringer...
    Gruß rkmex

  • VIII - The Bet:
    Diese Geschichte, genauer gesagt ihr Ende hat mich enttäuscht. Lange fand ich sie gut, war fasziniert davon, wie leicht eine Grenze überwunden werden kann, wenn man sie nicht als gegeben akzeptiert, wie sehr die Grenzen also auch in unseren Köpfen entstehen. Encarnación setzt sich über die Gepflogenheiten zwischen Tourist und Fremdenführer hinweg, was ihr zugegebenermaßen auch leichter fällt, da sie selbst beides ist und es ihr so möglich ist, Leandros Verhalten zu analysieren und zu verstehen. Durch ihre Weigerung "mitzuspielen", bringt sie Leandro dazu, sein gewohntes Verhalten zu ändern, eine Grenze in sich selbst zu überwinden, und so erscheint die Geschichte optimistisch: es geht also doch! Zumindest kurzfristig; ob es auch langfristig möglich ist, diese Antwort wollte ich bekommen, als Leandro durch sein Zusammanstoßen mit Don Leonardo die Möglichkeit bekommt, nach Spanien zu reisen und Encarnación wiederzutreffen.
    Ehrlich gesagt fühle ich mich um diese Antwort betrogen. Noch keine Geschichte in diesem Buch hat ein solches Gefühl der Unzufriedenheit bei mir hinterlassen. Das Ende hat (soweit ich entdecken konnte) nichts mit dem eigentlichen Problem zu tun und ist einfach unbefriedigend.
    Dabei hat mir eigentlich auch der zweite Handlungsstrang gefallen, zumindest bis Paquitos Vater auftauchte. Es dauerte auch einige Zeit, bis ich verstand, dass sie nicht in Mexico spielt und ich war am Rätseln, wie sie mit dem Rest zusammenhängen könnte, wer das junge "Du" der Geschichte ist. Da hätte man viel draus machen können, eine eigene Geschichte vielleicht, aber so...?


    Dass die USA keine Rolle spielen, hat mich weniger gestört. Das Buch handelt ja von Grenzen im weiteren Sinne, nicht nur von der konkreten zwischen den beiden Staaten. Dass die USA sonst immer vorhanden sind, erklärt sich mMn durch den riesigen Einfluss, den sie auf das mexikanische Leben haben. Und auch ganz konkret ist es "DIE" mexikanische Grenze; ansonsten gibt es um Mexiko herum nur Wasser und das Minigrenzchen nach Süden hin. Ich denke, Fuentes wollte mit dieser Geschichte darauf hinweisen, dass es auch weitere Grenzen gibt, dass sich Mexiko nicht nur nach Norden, die USA hin orientieren soll, dass die Welt größer ist, als nur der Große Bruder im Norden.
    Dazu würde ein Aspekt der Geschichte zwischen Encarnación und Leandro passen, nämlich die Notwendigkeit, sich so zu akzeptieren, wie man ist. Sich nicht in fruchtlosem Neid darüber verreiten, dass man nicht so reich und erfolgreich wie andere (USA) ist. Never again would he say, "We're all screwed. from now on he'd say, "This is how we are, but together we can get better.", wie Leandro gegen Ende der Geschichte denkt. Das kann man mMn auch auf das Land Mexiko selbst übertragen. Dass Leandros Vorsatz sehr schnell an der Umwelt scheitert, ist eine andere Sache.


    Ich erwarte von der letzten Geschichte eigentlich kein "großes Finale", sondern ein weiteres Puzzlestück, dass zusammen mit den anderen Geschichten gleichberechtigt ein Bild der "gläsernen Grenze" ergibt. Aber wir werden sehen.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Hallo!


    Ich habe das Buch nun zu Ende gelesen; gerade rechzeitig, da ich gestern meine Diplomarbeit zurückbekommen habe und einige Stellen überarbeiten muss.


    Was die achte Erzählung angeht, da reihe ich mich auch ein in den Klub der Ratlosen. Ich habe lange versucht, die Erzählung in ein historischen Kontext hineinzuzwängen, aber immer bleiben Fragen offen. Es muss aber im historischen Kontext gelesen werden, mir ist nur nicht das Licht aufgegangen, wie. Die Beziehung zw. Encarnacion und Leandro könnte stellvertretend als Beziehung zw. Spanien und Mexiko gelesen werden. Sie, die Herrische und Bemutternde; er, der Aufmüpfige aber sich doch Fügende. Ich weiß nicht. Ich habe sogar versucht, Paquito als stellvertrend für die Indios zu lesen, komme aber mit der Rolle des Vaters nicht zurecht. Und dann der Schluß... er zerstörte alle meine Versuche, die Erzählung zu verstehen. Ich war auch sehr enttäuscht.


    Dafür ist die letzte Erzählung mehr als gelungen. Besonders die zwei Erzählstränge haben mir gefallen, der Wechsel zwischen der bewegten Geschichte dieses Landes und der Ereignisse dieser einen Nacht, wo sich alle wiedertreffen. Und im Mittelpunkt steht der Fluss, die symbolische und geographische Grenze zwischen USA und Mexiko. In dieser letzten Erzählung bietet Fuentes ein breites Spektrum an Schicksalen, zeigt uns verschiedene Grenzgänger, macht uns mit ihren Problemen, Wünschen und Sorgen bekannt. Zusätzlich macht er uns auch mit der Geschichte Mexikos bekannt, wenn auch verkürzt. Er zeigt auf, wie konfliktgeladen die Beziehungen zwischen diesen zwei Ländern sind, beantwortet aber nicht die Frage nach dem Warum. Oder habe ich es überlesen?


    Am besten gefiel mir die Geschichte von José Francisco, dem jungen Schriftsteller, der Literatur verbreiten will "[...] damit es auf beiden Seiten der Grenze "ein Wir" geben sollte." Er entscheidet sich weder für die eine noch für die andere Seite, sondern vereint beide in sich. In dessen Rolle sieht sich Fuentes wahrscheinlich auch. Ich habe selten ein solch wortgewaltiges Buch gelesen, macht wirklich Lust auf mehr von ihm.


    Lg
    nikki

    Ich lese gerade:<br />Lion Feuchtwanger - Der jüdische Krieg

  • IX - Río Grande, Río Bravo:
    Auch ich habe gestern das Buch beendet. Welch ein Buch! Eindeutig eines der Highlights dieses Jahres, und daher erst einmal ein großes Danke an Rkmex dafür, dass er dieses Buch vorgeschlagen hat. Sonst wäre ich wohl kaum darauf gestoßen.


    Allerdings konnte mich auch die letzte Geschichte nicht ganz überzeugen. Zwar habe ich den kursiven Teil sehr gerne gelesen - stilistisch ein Genuss - aber um ihn richtig würdigen zu können, fehlt es mir einfach an Hintergrundwissen. Über die Geschichte Mexikos weiß ich leider überhaupt nichts.
    Die eingestreuten Vignetten über verschiedene Menschen, deren Schicksal eng mit dem doppelnamigen Fluss (ich wusste nicht einmal, dass Río Grande und Río Bravo zwei Namen für einunddenselben Fluss sind :rollen: ) zusammenhängt und die wir teilweise im Laufe des Buches schon kennengelernt hatten, waren mir zum Teil aber zu plump und von einem zu großen Zufall gesteuert. Damit meine ich vor allem Don Leonardos Ende durch Marinas Freund, wobei Juan Zamora rein zufällig auch noch vorbeikommt. Mir war das Ende zu gewollt, ein zu offensichtlicher Versuch, alle Geschichten zusammenzuknüpfen. Auch José Francisco, der Schriftsteller, der weder-noch, sondern beides ist, hat mir zwar der Idee nach sehr gut gefallen, in der Durchführung war er mir aber etwas zu überdeutlich.
    Solche Sätze hingegen würde ich gerne noch viel mehr lesen:
    will there be time? will there be time? will there be time?
    will there be time to see each other and accept each other as we really are, gringos and Mexicans, destined to live together at the border of the river until the world gets tired, closes its eyes and shoots itself, confusing death with sleep?

    und dann ganz am Ende:
    to the north the río grande,
    to the south the río bravo,
    let the words fly,
    poor Mexico,
    poor United States,
    so far from God,
    so near to each other

    Wow!


    Trotz der Kritik, die ich hier und da anbringen musste, halte ich dieses Buch für sehr gut und unbedingt lesenswert. Erst mal durch den phantastischen Stil, der mich immer wieder begeistert hat und der mich wirklich traurig darüber macht, kein Spanisch zu können, aber auch durch den Inhalt. Ich hatte eine stärkere Schwarzweißmalerei erwartet, das arme, kleine Mexiko gegen die harten, unmenschlichen Vereinigten Staaten auf staatlicher Ebene, bzw. die ausgebeuteten Mexikaner gegen die ausbeutenden Amis auf der zwischenmenschlichen Ebene. Aber nein, Fuentes malt differenziertere Bilder. Mexikaner sind Opfer, aber auch Täter, Amis können auch gut sein, denn vor allem sind alle erst einmal Menschen, auch wenn sie das manchmal von sich oder den anderen vergessen.
    Leider musste ich erkennen, dass ich nur einen kleinen Teil dieses vielschichtigen Buches überhaupt sehen und verstehen kann, da es mir an Hintergrundwissen fehlt. Aber auch für eine ignorante Europäerin wie mich bot dieses Buch ein großes Leseerlebnis.


    5ratten

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Hallo Saltanah, hallo Rkmex!


    Ich möchte mich auch bei Rkmex bedanken, dass er dieses Buch vorgeschlagen hat. Mir ist beim Lesen des Buches die Rechnung in die Hände gefallen, gekauft am 04.09.2001 also lange, lange her!


    Saltanah: Der Schluß hat konstruiert gewirkt, aber das hat mich irgendwie nicht gestört. Das einzige, was doch übertrieben war, war das Schicksal von Don Leonardo Barroso. Das war nicht glaubwürdig.
    Und falls du mal Zeit und Lust hast, kann ich dir die folgenden Bücher über Mexiko vorschlagen:


    Sachbücher:
    Diaz del Castillo - Die Eroberung von Mexiko

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    Bartolomé de las Casas - Kurzgefasster Bericht von der Zerstörung der Westindischen Länder
    Falsche ISBN oder ASIN angegeben!


    Popol Vuh. Das Buch des Rates

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    Eric Wolf - Sons of the Shaking Earth

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    Hernan Cortes - Die Eroberung Mexicos

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    Und einige Romane bzw. Schriftsteller:
    Guillermo Arriaga - Der süße Duft des Todes (Krimi)
    José León Sánchez - Tenochtitlan. Die letzte Schlacht der Azteken (Historischer Roman)
    Octavio Paz
    Carmen Boullosa - Der fremde Tod
    Laura Esquivel - Bittersüße Schokolade
    Antonio Medíz Bolio - Legenden der Maya
    Sergio Pitol
    Juan Rulfo - Pedro Paramo, Der Llano in Flammen
    Subcommandante Marcos
    Jorge Ibargüengoiti - Augustblitze
    Jan Jacob Slauerhoff - Christus in Guadalajara
    und und und... ich habe sicher einiges vergessen!


    ... ein paar Anregungen :breitgrins: :winken:


    Lg
    nikki

    Ich lese gerade:<br />Lion Feuchtwanger - Der jüdische Krieg

  • Danke für die Buchtipps, Nikki! Ich werde sie mir demnächst genauer angucken. Bisher kenne ich nur das Buch von Laura Esquivel, das ich vor vielen Jahren mal gelesen habe. Du scheinst dich mit mexikanischer Literatur ja etwas auszukennen, ganz im Gegensatz zu mir.
    Vor ein paar Tagen stieß ich auf folgendes Buch, das ich mir zulegen werde (hatte da gerade kein Geld dabei):
    Cristina Garcia (Hrsg.): Bordering Fires: The Vintage Book of Contemporary Mexican and Chicana and Chicano Literature

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    Wir sind irre, also lesen wir!