Albert Vigoleis Thelen - Die Insel des zweiten Gesichts

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    Albert Vigoleis Thelen ist - auch nach dem Nachwort im Buch - der große Unbekannte der deutschen Literatur. Die Frage ist eigentlich, warum er es ist. Das Presselob auf der U4 spart nicht mit Superlativen, "Die Insel des zweiten Gesichts" ist auch ziemlich erfolgreich gewesen, seit ihrem Erscheinen 1953 immer wieder in neue Auflagen gegangen. Man könnte Thelen kennen, aber man kennt ihn nicht. Ein großer Fehler, wie sich bei der Lektüre dieses Buches, das mir von einem Freund empfohlen und geschenkt wurde, herausgestellt hat.


    "Die Insel des zweiten Gesichts" beschreibt als autobiographisch inspirierte Schelmengeschichte Thelens Zeit in Mallorca von 1931 bis 1936. 1931 wird er mit seiner damaligen Geliebten und späteren Frau Beatrice, einer Schweizerin, nach Mallorca gerufen. Beatricens kleiner Bruder Zwingli liegt im Sterben und bittet die beiden zu kommen. Umso erstaunter sind sie natürlich, als Zwingli sie wohl etwas abgerissen, aber keineswegs vom Tode gezeichnet, am Pier abholt. Es stellt sich heraus, dass das dramatische Telegramm eine Finte war, um Beatrice und Vigoleis von der wirklich sterbenskranken Mutter Beatricens wegzulocken. Denn Zwingli braucht zwar keine letzte Ölung, aber zweifellos Hilfe: Er hat sich in eine spanische Hure verliebt, die ihm nach und nach das Geld aus der Tasche zieht und die Syphillis aufhängt, von der er sich aber nicht zu lösen vermag, zum einen aus Faszination für diese Frau, zum anderen aus Furcht vor ihrer impulsiven Art, die auch vor dem Gebrauch eines Dolches nicht zurückschreckt.
    Vigoleis ist am Anfang keine große Hilfe, er verliebt sich sogar selbst in die schöne Spanierin und verschärft so das Problem sogar noch.
    Beatrice begleicht derweil mit ihrem stattlichen Vermögen die Schulden des kleinen Bruders, so dass die beiden Helden der Aufzeichnungen schon nach wenigen Seiten ohne finanzielle Mittel dastehen. Der stets ingeniöse, oft kuriose und manchmal auch erschreckende Kampf gegen die Armut steht ab da im Mittelpunkt der Erzählungen. Beatrice und Vigoleis landen zunächst im Hotel eines anarchistischen Grafen, dann im Bordell eines Drahtziehers des mallorquinischen organisierten Verbrechens, schließlich in einer eigenen Wohnung, für die sich unsere Helden zwar keine Möbel leisten können, die aber einen wunderbaren Garten besitzt.
    Wie durch ein Wunder gehen Vigoleis und Beatrice aus allen Abenteuern ohne größeren Schaden hervor, zwar leben sie in einem ständigen Auf und Ab von bescheidenem Wohlstand und totalem Verlust ihrer Ressourcen, sind nach der Machtergreifung der Nazis und durch den Aufstieg Francos stets neuen Schikanen ausgesetzt und müssen 1936 auch vor dem heraufziehenden spanischen Bürgerkrieg flüchten, doch durch ihre stets prekäre Lage lernen sie eine Menge Leute kennen, wie sie interessanter nicht sein könnten, teilen deren Leben, gewinnen meistens deren Zuneigung und Vertrauen und schaffen es so nicht nur zu überleben, sondern auch einen reichen Schatz an Geschichten aufzutürmen - zu deren Chronist Vigoleis dann im vorliegenden Buch wird.


    "Die Insel des zweiten Gesichts" ist - und hier liegt vielleicht eines der Geheimnisse ihrer relativen Unbekanntheit - 1953 vor der Gruppe 47 durchgefallen. Der unglaublich ausladende und sprachlich überbordende Stil wurde von den Kargheitspropheten um Hans-Werner Richter, die damals die Gruppe 47 offenbar bestimmten, nicht goutiert. Thelen, stets sensibel und überaus empfindlich, zog sich daraufhin wieder aus einem Land und seiner Kulturszene zurück, aus der ihn erst die Nazis vertrieben hatten und der er sich nur sehr zögerlich wieder zu öffnen begonnen hatte. Bis in die 80er Jahre lebte er in den Niederlanden und der Schweiz, wo er vor allem als Übersetzer tätig war. An den Erfolg seines Erstlings hat er mit den seltenen späteren Prosawerken nicht mehr anknüpfen können.


    Die Wucht, mit der der Leser auf über 900 Seiten mit minimalem Durchschuss konfrontiert wird, sucht in der Nachkriegsliteratur ihresgleichen. Verblüffend ist die Leichtigkeit, mit der Thelen trotz aller spürbaren und ausdrücklich immer wieder geäußerten Beleidigtheit seine Anekdoten präsentiert, mit welch unglaublich liebenswürdigem Augenzwinkern er von Begegnungen mit Touristen aus Nazideutschland, mit Flüchtlingen, Verbrechern und allen möglichen und unmöglichen anderen Gestalten berichtet, unter ihnen Berühmtheiten wie Robert von Ranke Graves und Harry Graf Keßler.


    Es gibt nichts Schlechtes über das Buch zu sagen, es ist außerordentlich gut geschrieben mit einem aktiven Wortschatz, der seinesgleichen sucht, es ist kurzweilig zu lesen, bei allem nervig kleinen Schriftbild (bei normalem Durchschuss wäre aber wohl irgendwann die Broschur auseinandergebrochen), es ist intelligent geschrieben, es ist menschlich, dabei nie weinerlich. Lest Thelen!

    Einmal editiert, zuletzt von Bartlebooth ()

  • Klingt ein bisschen wie die Geschichte des Wolf von Niebelschütz, der ja mit seiner Prosa in der Gruppe 47 auch nicht gerade auf ungeteilte Zustimmung gestoßen ist. Deine Rezi klingt sehr interessant, das Buch ist notiert :smile:

    Viele Grüße aus dem Zwielicht<br />[size=9px]Rihla.info | blooks - Rezensionen und mehr<br />[b][url=http://www.librarythi

  • Hallo Bartlebooth,


    vielen Dank für Deine schöne Rezension!
    Interessant sind die Parallelen, wie man zu diesem Buch kommt: auch ich bin durch einen Freund auf Albert Vigoleis Thelen gestoßen worden und auch ich habe es an Freunde weiterempfohlen, die alle gleichsam von dem Buch begeistert und berührt waren... Es ist wirklich schade, dass Thelen immer noch ein solch unbekannter Schriftsteller ist - aber immerhin funktioniert die Mundpropaganda! :smile:



    Es gibt nichts Schlechtes über das Buch zu sagen, es ist außerordentlich gut geschrieben mit einem aktiven Wortschatz, der seinesgleichen sucht, es ist kurzweilig zu lesen, bei allem nervig kleinen Schriftbild (bei normalem Durchschuss wäre aber wohl irgendwann die Broschur auseinandergebrochen), es ist intelligent geschrieben, es ist menschlich, dabei nie weinerlich.


    Besser kann man es wohl nicht auf den Punkt bringen. (In der Tat hindert einen einzig und allein das Schriftbild, in jeder Situation weiterzulesen...)


    Zitat

    Lest Thelen!


    Und dem kann ich mich nur uneingeschränkt anschließen!


    Liebe Grüße
    dubh

    Liebe Grüße

    Tabea

  • Bei mir waren es nicht Freunde, die mir das Buch empfahlen, sondern die Nachbarn meiner Eltern, die es mir als Jugendliche in die Hand drückten, und die mir so ein beeindruckendes Leseerlebnis bescherten. Sowohl sprachlich als auch inhaltlich begeisterte es mich damals, und ein Re-read ist, angeregt durch diesen Thread, geplant.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Oh, wie erfreuen mich Eure Reaktionen und Berichte! Ich bin auch schon fleißig dabei diesen Teil von Don Vigos Lebensgeschichte an meine Umgebung zu empfehlen.
    Dass er so unbekannt ist, ist bei näherer Betrachtung vielleicht gar nicht so unbedingt erstaunlich. Vielleicht wäre eine noch stärkere Fiktionalisierung einem Text wie diesem besser bekommen als diese doch sehr starke Anlehnung an das eigene Leben - wie pikaresk und farbenfroh es auch immer gewesen sein mag.
    Dennoch erstaunlich wie lange dieses Buch schon als Geheimtipp gehandelt wird. Noch erstaunlicher, warum es nicht längst stärkere wissenschaftliche Beachtung gefunden hat. Thelen gehört in jedes literaturgeschichtliche Schulbuch.


    Herzlich: Bartlebooth.

  • Moin, Moin!


    Oh, ich habe die Rezension erst jetzt entdeckt, weil ich diese Rubrik eigentlich sonst außen vor lasse. Ergänzend und für diejenigen, die mal hineinschnuppern wollen, seien noch meine <a href="http://www.bibliomaniac.de/fab/split/thelen.htm">Zitate aus dem Buch</a> erwähnt.

  • Ich hab das Buch auch hier liegen - in niederländischer Übersetzung (Het eiland van het tweede gezicht), ein ganz schöner epischer Brummer. Vergleichbar den Jahrestagen von Uwe Johnson...


    Wann ich es aber schaffen werde, das Thelenepos zu lesen, ist noch unklar. Ich lese noch in einigen anderen epischen Werken...


    Grüße, FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig.<br /><br />Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

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    Ein beherzter Novellist hätte die Fabel auf maximal 100 Seiten zu einem glücklichen Ende gebracht. Aber dann wäre dieses Buch nicht das, was es ist: ein wildwuchernder Romanurwald, randvoll mit prallen bunten Früchten, ein Faselteppich, über und über mit mäandernden Dekoren bedeckt; ein Schelmenroman simplicissischen Ausmaßes; ein Labyrinth ineinander und mit dem Erzählstrang verschlungener Digressionen.


    Wenn man sich auf den Weg durch die über 900 engbedruckten Seiten dieses Romans macht, lässt man sich auf ein Erlebnis ein, das an die großen Romane Jean Pauls erinnert, manchmal auch an die „Blechtrommel“ des Zeitgenossen Grass: man taucht für mehrere Wochen in eine andere Welt mit einer anderen deutschen Sprache ab – wobei hier die bizarre Handlung nicht völlig fikitional, sondern zu einem guten Teil autobiographisch belegt ist. Thelen, der Mann mit dem mächtigen Kinn unter den ewig abwärtsweisenden Mundwinkeln, hat tatsächlich fünf Jahre zwischen 1931 und 1936 schwankend zwischen persönlichem Elend und grotesken Episoden auf Mallorca zugebracht, bis ihm und seiner Beatrice im Gefolge des spanischen Bürgerkriegs der Boden zu heiß wurde. Und: man taucht in eine Sprachwelt ein, die eigentlich vorbild- und traditionslos ist. Thelen muss über einen unglaublichen Wortschatz verfügt haben; dazu über eine erstaunliche Phantasie im Erfinden von Neologismen. Es hat keinen Sinn, jedem seltsamen Wortgebilde in diesem Roman in einem Wörterbuch hinterherblättern zu wollen. Vieles wird dort gar nicht drinstehen, erschließt sich aber aus der Redundanz des Textzusammenhangs und hindert den Lesefluss nach einer Weile nicht mehr.


    Was geschieht in diesem Buch? Der in seinem Alter Ego „Vigoleis“ gespiegelte Erzähler folgt mit seiner Verlobten Beatrice, einer Schweizerin mit einem Stammbaum, der in einer helvetischen Gelehrtendynastie gleichermaßen wie in dem Boden lateinamerikanischer Indianergeschlechter wurzelt, dem telegrafischen Ruf von Beatricens Bruder Zwingli, der behauptet, im Sterben zu liegen, nach Mallorca. Zwingli erweist sich als etwas desolat, aber durchaus fidel; sein Problem besteht in den erotischen Ansprüchen seiner Konkubine Maria del Pilar – einer Prostituierten, wie sich bald herausstellt. Man wohnt eine Weile gemeinsam in einer Wohnung in Palma bis zum Zerwürfnis mit Zwinglis „Zaupe“(der Synonyme hiervon gibt es hier zahllose!), bezahlt dessen beträchtliche Schulden und steigt dann auf der Leiter der Mittellosigkeit ins nackte Elend hinab. Einen Sommer lang haust man in einem Anwesen vor der Stadt benebst einem unüberschaubaren Rattenheer und stellt fest, dass man hier in einem riesigen wie primitiven Stundenhotel gelandet ist. Mit Gelegenheitsarbeiten, der Bekanntschaft verkrachten Landadels und einiger skurriler Inselexistenzen erarbeitet man sich eine halbwegs akzeptable Bleibe in Palma, kann aber das Erreichte nicht sichern – verdientes Geld wird konsequent für Bücher auf den Kopf gehauen oder es rinnt den Helden auf andere Weise durch die Finger. Deren konsequente und moralisch aufrechte Verweigerungshaltung gegenüber dem langen Arm des Nationalsozialismus und gegenüber den Schergen des an die Macht geratenen Generalissimus Franco bringt Vigoleis und seine Beatrice in akute Lebensgefahr, es bleibt am Ende nur die Flucht.


    Der Erzählfaden der Haupthandlung ist schon mit einer Unmenge saftiger Episoden behangen. Es gibt ganz zu Anfang eine drollige Studie über die Kunstfertigkeit spanischer Familienoberhäupter, der eigenen Kinderschar Ohrfeigen zu verabfolgen. Es gibt eine längere und zum Schreien komische Episode, in der der Erzähler schildert, wie er als völlig ahnungsloser Reiseführer eine deutsche Reisegesellschaft nach Strich und Faden zutextet, eine Ansprache hanebüchener als die andere. Es gibt eine Schilderung des zweifachen Fehlschlagens eines durchaus ernstgemeinten gemeinsamen Suizidvorsatzes, der in grotesker Weise im Vorbereitungsstadium steckenbleibt. Bizarre Figuren jeglicher Herkunft und jeglichen Standes kreuzen den Weg des Vigoleis, darunter lebensuntüchtige Hidalgos, Poeten im Bäckerladen, korrupte Beamte, ein aus Honduras verscheuchter, gescheiterter einarmiger Putschist, der mitsamt seiner obskuren Befreiungstruppe auf den großen Tag der Rückkehr wartet. Das alles würde bereits einen drallen Roman ergeben haben – aber immer noch nicht die „Insel“. Dieses Buch wird erst durch die Abschweifungen und Randanekdoten, die immer wieder eingeflochten werden, durch die Betrachtungen zum Zeitgeschehen und zu überzeitlichen Gedanken, und nicht zu letzt durch die wiederholten Reflexionen auf den Erzählvorgang selbst zu dem, was es ist.


    Und, nicht zu letzt: es ist, quasi nebenherlaufend, eine bemerkenswerte Geschichte über die Liebe zwischen Vigoleis und seiner Beatrice, ein Aspekt, der in vielen Besprechungen dieses Buches zu kurz kommt. Es gibt in dem ganzen langen Text eigentlich keine einzige wirkliche Liebesszene (jedenfalls nicht zwischen Vigoleis und Beatrice) oder auch nur eine Schilderung von Zärtlichkeiten. Wenn das Paar sich in den Armen liegt, dann aus Erleichterung über eine bewältigte Katastrophe – oder um nicht aus dem einzigen viel zu schmalen Bett zu fallen. Aber es gibt dafür etwas anderes, nämlich die wilde Entschlossenheit dieses Paares, einander unter gar keinen Umständen loszulassen, und die beiläufige Schilderung dieser Haltung ist einfach anrührend. Nur am Rande: es wird glaubhaft erzählt, die reale Beatrice habe ihrem realen Albert mehr als einmal aus Selbstmordversuchen heraus das Leben gerettet.


    In seiner barocken Fülle, seinem Antimilitarismus, Antifaschismus, seiner antiklerikalen Haltung und in der Sprachmächtigkeit erinnert mich dieses Buch manchmal an einen anderen etwas abseitigen Protagonisten der deutschen Nachkriegsliteratur: Arno Schmidt. Thelens Buch sieht mit der geographischen und konfessionellen Herkunft seines Autors für mich fast aus wie eine rheinländisch-katholisch geprägte Version der Schriften des Knarzkopfes Schmidt aus dem Heidenest Bargfeld, setzt dem aber trotz mancher ähnlichen Positionen eine mildere und positivere Haltung entgegen.


    „Die Insel des zweiten Gesichts“ ist, da gibt es nichts zu deuteln, ein Großbuch. Und wenn man es ausgelesen hat, ist man nicht einmal erschöpft von dem langen Weg durch den Erzähldschungel, den man gerade hinter sich gebracht hat, sondern irgendwie beglückt.


    Hier kann ich nicht anders:


    5ratten

    Einmal editiert, zuletzt von Gronauer ()