Anne Michaels - Fluchtstücke

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    Eine atemberaubende Sprache, die mit der Zeit im Meer des Vergessens untergeht.


    Dieser Roman beginnt mit einem Ereignis, das Vernichtendes in einem Menschen auslösen kann, unvergessen bleibt, und vielleicht nie enden wird. Der kleine Jakob verliert seine Familie in den Schrecken des II. Weltkriegs …


    Er kommt davon, und läuft hinaus in den Wald. Ebenfalls auf der Flucht ist Athos, ein Archäologe aus Griechenland, der in Polen gearbeitet hat. Sie treffen sich, und ohne zu überlegen nimmt dieser weise Mann den Jungen mit nach Hause, auf seine Insel, und rettet ihm dadurch das Leben; sowie gleichzeitig sein Leben wieder einen Sinn bekommt. Die Beziehung, die sich zwischen beiden bildet, ist so liebevoll, gütig und rein; selten habe ich eine solche Harmonie in Büchern gelesen.


    Eigentlich trägt die Sprache im Roman den Verlauf der Handlung. Die Sprache, die hier in diesem Werk zu keiner Steigerung mehr fähig ist, wächst mit dem Gefühl der Zugehörigkeit zwischen Athos und Jakob, flacht nach Athos Tod ab, wird karg und unversöhnlich. Gedanken wie: Es ist keine Versöhnung möglich, da es Unrecht an den Toten sei; finden dort ihre Aneinanderreihung, und aus dieser Krise auch wieder heraus.


    “Fluchtstücke” sind frierende Gedankenstücke aus Erinnerungen einzelner Schicksale. Nur die Liebe kann heilen, und die Sprache trägt dann diese Heilung, und verebbt sobald die Liebe die Trauer nicht mehr tragen kann.


    Ein einzigartiger Roman mit einer faszinierenden Sprache, jedoch mit Handlungsschwächen. Ich halte ihn für ein lyrisches Experiment, und freue mich auf weitere Übersetzungen von Anne Michaels.


    3ratten

  • Ein kleiner Junge ist der einzige Überlebende in seiner Familie. Die Nazis haben seine Eltern getötet, seine Schwester ist verschwunden. Jakob hat sich tagelang im Wald versteckt gehalten, völlig verängstigt, den Kopf voller bedrängender und bedrückender Gedanken. Der Archäologe Athos liest ihn durch einen glücklichen Zufall auf, versteckt ihn unter seinem Mantel und nimmt ihn mit in seine Heimat, auf die griechische Insel Zakynthos.


    Allmählich lernen die beiden voneinander die jeweiligen Sprache und wachsen zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammen. Athos und seine Freunde sind Jakobs neue Familie, doch seine Eltern und vor allem Bella, seine verschollene Schwester, kann er nie vergessen. Auch als sein Weg in die USA führt, er erwachsen wird, ist Bella immer wieder da...


    Nach den ersten Seiten war ich ein wenig ratlos und verstört, rätselhafte Bruchstücke hatte ich da vor mir, kurze Absätzchen, die von Grauen und Angst zeugten. Man muss sich in den Stil ein bisschen einlesen, denn sprunghaft bleibt die Handlung das ganze Buch über. Gedankengänge vermischen sich mit dem Geschehen in der Gegenwart und mit den Erinnerungen an die Vergangenheit und ihren "Geistern", die Jakob sein Leben lang immer wieder heimsuchen.


    Lakonisch und unsentimental entsteht ein Bild der furchtbaren Geschehnisse, die Jakob durchmachen musste, aber auch von den schrecklichen Kriegsereignissen in Griechenland, die selten thematisiert werden. Hier wird nicht auf die Tränendrüse gedrückt, und trotzdem musste ich öfter schlucken.


    Die bereits erwähnte Sprunghaftigkeit passt zum Buch und zum Titel. Fluchtstücke, Bruchstücke von Jakobs Erinnerung an Nazigewalt und Flucht, aus seiner Gefühlswelt, seinem Erwachsenenleben. Obwohl nicht linear erzählt wird, zieht sich Jakobs persönliche Geschichte, aber auch die generelle Thematik der Juden, die den Holocaust überlebten, wie ein roter Faden durch das Buch.


    Es erfordert Konzentration beim Lesen, aber es lohnt sich unbedingt, und ich weiß jetzt schon, dass ich es noch einmal lesen möchte, um noch mehr zu verstehen und im Gedächtnis zu behalten.


    4ratten

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen