Anne B. Ragde - Das Lügenhaus

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    Über die Autorin
    Anne B. Ragde wurde im westnorwegischen Hardanger geboren. Heute lebt sie in Trondheim. Sie ist eine beliebte Autorin, die auch Kinderbücher und Krimis schreibt. Sie wurde unter anderem mit dem Norwegian Language Prize und dem Preis des norwegischen Buchhandels ausgezeichnet.


    Inhalt
    Anna Neshov wird mit einem Schlaganfall ins Krankenhaus gebracht. Ihr ältester Sohn Tor, der zusammen mit seinen Eltern einen Hof bewirtschaftet, muss seine Brüder verständigen. Margido und Erlend.
    Margido, ein Bestattungsunternehmer, wohnt nicht weit entfernt, hat aber den Kontakt zu den Eltern und Tor abgebrochen.
    Erland lebt seit 20 Jahren in Dänemark. Er ist Schaufensterdekorateur und lebt mit seinem Lebensgefährten Krumme zusammen. Auch er hat damals den Kontakt abgebrochen.
    Tor, der von der Schweinezucht lebt und diesen Tieren sehr zugetan ist, verständigt auch Torunn, seine Tochter. Er hat sie erst einmal gesehen und sie telefonieren nur drei, vier mal im Jahr miteinander. Torunn kennt die Familie ihres Vaters nicht und diese sie nicht.
    Auf dem elterlichen Hof lebt auch der Vater. Er ist innerhalb der Familie lediglich eine verachtete Randfigur.
    Durch die Krankheit der Mutter treffen sie alle zusammen. Eine Familie bestehend aus Fremden, die miteinander diese Zeit überstehen muss.


    Meine Meinung
    Meine anfänglichen Schwierigkeiten mit dem Buch haben sich ziemlich schnell gegeben. Sie bezogen sich auf das ungewohnte "Du" zwischen Fremden, das wie ich mich belehren ließ in den skandinavischen Ländern völlig normal ist (Vielen Dank an einige Forenmitglieder) und der Person Mardigos, mit dem ich nicht so warm werden konnte. Aber diese Probleme waren schnell vergessen.


    Das Buch gliedert sich in einen Prolog ,drei Hauptteile und einen Epilog.
    Die wenigen Seiten des Prologs spielen in der Nachkriegszeit. Beschrieben wird eine Frau, die auf jemanden wartet, mit dem sie eine geheime und verbotene Beziehung hat.


    Der erste Teil wird in drei Abschnitte aufgeteilt. In jedem lernt man einen der Brüder kennen. Drei völlig unterschiedliche Personen. Jeder Charakter ist sorgfältig aufgebaut. Hinter der Fassade jedes einzelnen verbirgt sich eine gequälte Seele. Das haben die drei als einziges gemein: Sie scheinen Gefangene in sich selbst zu sein.
    Voller Details werden ihre Lebensumstände geschildert ohne dabei langweilig zu werden.


    Der zweite Teil widmet sich dem Zusammentreffen der Familienmitglieder. Das Spannende daran ist die Frage, wer reagiert wie auf wen. Und vor allem warum. Warum, das ist die Frage, die den Leser ständig beschäftigt. Warum sind diese Menschen so? Warum behandelt man den Vater so? Warum weiß kaum jemand von Torunn? Warum?
    Irgendwann in der zweiten Hälfte dieses Teiles drängte sich mir eine Antwort auf, die ich nicht glauben konnte. Doch wenn man darauf achtet was jeder zu sagen hat, findet man eine Antwort darauf. Auch wenn sie ungeheuerlich erscheint.
    Im Krankenhaus sagt Margido zu Torunn: "Das ist keine Familie, in der du ... in der du dich besonders wohlfühlen würdest."
    Nein, ich glaube nicht, dass man sich wünschen würde in diese Familie geboren worden zu sein.


    Der letzte Teil könnte man auch mit Zusammenbruch und Erkenntnis umschreiben.
    Der Epilog rundet letztlich die gesamte Geschichte aufklärend ab.


    Keine große Dramatik. Trotzdem schafft es Anne Ragde es, die Geschichte fesselnd zu erzählen.


    Ein Buch, das von Schuld handelt. Den daraus entstehenden Lügen. Von Verzweiflung und Trauer.
    Und der Hoffnung auf gegenseitiges Verständnis.


    4ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:



    Im Juni 2008 kommt übrigens der Folgeband heraus.
    Einsiedlerkrebse

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    Dieses Buch werde ich sicher auch lesen.

  • Das Buch machte mich sehr traurig. Die ersten 100 Seiten lasen sich etwas zäh. Belohnt fand ich mich durch das Lesen der verbleibenden Seiten. Sehr spannend auch das verblüffende Ende, als das Lügenhaus zum Einsturz gebracht wird...


    yanni, ich freue mich schon auf den Nachfolger. Danke für die Information.

  • Danke nochmal für die interessante Rezi, yanni! Gefällt mir übrigens sehr gut, wie du das Buch in seine Bereiche gegliedert hast. So kann man sich richtig gut vorstellen, wie nach und nach die Geschichte aufgelöst wird. :smile:


    Das hört sich ziemlich bedrückend an, gleichzeitig aber auch sehr interessant. Das wandert sofort auf meinen Wunschzettel.

  • Kurz vor Weihnachten kommt die 80-jährige Mutter der Brüder Tor, Margido und Erlend ins Krankenhaus. Tor hat auch seine uneheliche Tochter Torunn verständigt, die er nur ein einziges Mal gesehen und seinen Brüdern immer verheimlicht hat. Obwohl zwischen den Familienmitgliedern zum Teil seit zwanzig Jahren kein Kontakt mehr bestand, treffen sich alle am Sterbebett. Dort verrät ihnen der Vater, der sich sonst aus allem tunlichst herausgehalten hat, ein lang gehütetes Geheimnis, das die ganze Familiengeschichte in einem anderen Licht erscheinen lässt.


    Echten familiären Zusammenhalt haben die Brüder nie kennen gelernt; entsprechend leben sie jetzt. Tor ist ledig und züchtet auf dem elterlichen Hof Mastschweine, während der ebenfalls unverheiratete Margido sich als Leichenbestatter selbständig gemacht hat. Der deutlich jüngere Bruder Erlund lebt mit seinem Lebensgefährten seit vielen Jahren in Kopenhagen und ist ein gefragter Dekorateur. Abgesehen von Erlunds Homosexualität, die seine Familie nie akzeptieren konnte, gab es keine Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen. Trotzdem sind sie außerstande, auch nur freundschaftliche Beziehungen untereinander zu pflegen. Keiner kümmert sich um den anderen, jeder lebt in seiner eigenen Welt.


    Es ist ein trauriges Bild einer Familie, das die Autorin entwirft. Alle hat sich ein eigenes Leben aufgebaut, in dem die anderen keinen Platz einnehmen. Ihre Einsamkeit ist fast greifbar, ebenso wie die Unfähigkeit, aufeinander zuzugehen. Margido und Tor haben sich eine Existenz aufgebaut, die sie gerade so über Wasser hält, aber nicht glücklich macht. Lediglich Erlund, der schon sehr jung den Hof und damit den Einflussbereich seiner Mutter verließ, hat in jeder Hinsicht das große Los gezogen. In Kopenhagen stößt sich niemand an seiner sexuellen Orientierung. Für ihn ist es selbstverständlich, einen großen Freundeskreis zu haben, der ihm die Familie ersetzt. Seine älteren Brüder leben nicht weit auseinander, sehen sich aber kaum. Sie haben nie gelernt, dass eine Familie auch Geborgenheit vermitteln kann oder die Wertschätzung innerhalb der Familie wichtiger ist als das Bild, das man nach außen darstellt. Unterschwellig mag ihnen klar sein, dass in der Familie Harmonie und Respekt voreinander fehlen, aber keiner hat je den Versuch unternommen, etwas daran zu ändern.


    Auf den ersten Blick passiert nicht viel, aber was passiert, beschreibt Anne B. Ragde äußerst ausführlich. Es kommt vor, dass etwas wie das Abstauben und Neuanordnen einiger wertvoller Sammelfiguren drei Seiten einnimmt. Geduld ist also gefragt. Der enge Wirkungskreis der Beteiligten wird präzise geschildert und vermittelt tiefe Einblicke. Die Dialoge sind karg, aber aussagekräftig. Da jedem der Brüder und auch der Tochter Torunn ausführliche Kapitel gegönnt werden, lernt man die Charaktere gut kennen, wenn auch nicht unbedingt lieben. Ihr Alltag und alles, was ihnen wichtig ist, mag es auch noch so banal sein, wird mit der Zeit immer interessanter. Außerdem sorgt der Klappentext mit der Ankündigung einer „riesigen Überraschung“, die leider lange auf sich warten lässt, für zunehmende Spannung.


    Das Ende der Geschichte stellte mich nicht zufrieden. Die Entwicklung und vielleicht auch die wahren Gründe für Entfremdung waren auch am Schluss noch zu wenig ausgeführt und das Ende selbst erschien irgendwie unfertig. Den Grund dafür habe ich auf der Suche nach weiteren Büchern der Autorin gefunden: „Das Lügenhaus“ ist der erste Teil einer Trilogie. Um mehr zu erfahren, muss man die weiteren Bände lesen. Leider war das bei meiner Ausgabe nicht ersichtlich.


    4ratten

  • Der Thread ist zwar schon älter, aber ich möchte noch etwas dazu anfügen, weil Anne Ragdes "Neshov"-Trilogie (Neshov ist der Name des Schweinemast-Hofs, um den sich alles dreht) eines meiner großen Leseerlebnisse des letzten Jahres war.
    Ich möchte kurz auf den zweiten Band "Einsiedlerkrebse" eingehen. Der Schweinezüchter und Vater der jungen Torunn, Tor, ist gestorben und Torunn die nächste Erbin. Nun gibt es in Norwegen eine gesetzliche Regelung, wonach, wenn auf einem Erbhof der landwirtschaftliche Betrieb eingestellt wird, der Staat das Vorkaufsrecht an dem Hof hat. Man nennt das "Betriebspflicht". Nach Tors Tod haben seine Brüder Erlend und Margido verschiedene Vorstellungen, wie es mit dem nicht eben rentablen Hof weitergehen soll. Jeder findet ein ländliches Grundstück direkt am Fjord toll, aber niemand will Schweinebauer sein, wie es die Betriebspflicht vorsieht. Torunn bewirtschaftet den Hof zunächst weiter - eher aus Pflichtgefühl als aus Neigung - und sorgt für den Opa, der noch dort lebt. Die Vielfalt der an sie gestellten Ansprüche lässt sie aber immer weiter einknicken.


    Spannend an Anne Ragdes Romanreihe um Neshov ist die Entwicklung der Charaktere. So erscheint der fröhliche Erlend, der in "Das Lügenhaus" einen sehr guten Eindruck gemacht hat, nach und nach in einem ganz anderen Licht. Auch der etwas stoffelig wirkende Margido wird näher beleuchtet und zeigt neue Charakterzüge. Im dritten Band der Reihe, "Hitzewelle", in dem ich überdies eine einzigartig einfühlsame Schilderung depressiver Zustände gefunden habe, gibt es eine Art Kulmination und ein Neuanfang deutet sich an.


    Inzwischen gibt es einen vierten Band, "Sonntags in Trondheim" (der wieder eine ganz neue Richtung einschlägt) und wie mir die Übersetzerin Frau Haefs mitgeteilt hat, kommt im nächsten Jahr noch ein fünfter.