Ildefonso Falcones - Die Kathedrale des Meeres

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    Inhalt:
    Arnau Estanyol hat keinen einfachen Start ins Leben: Von der Mutter verlassen, muss er mit seinem Vater Bernat, einem unfreien katalonischen Bauern, nach Barcelona fliehen. Wer sich ein Jahr und einen Tag in der Stadt aufhält, bekommt das Bürgerrecht und ist frei. Freiheit ist aber nur der erste Schritt auf dem Weg in ein besseres Leben: Auch für Unterkunft, Essen und Arbeit will gesorgt sein. Bernat und Arnau kommen bei Verwandten unter, die die beiden Flüchtlinge knapp dulden und nicht immer gut behandeln.


    Der junge Arnau findet jedoch in dem einheimischen Jungen Joanet einen guten Freund und gemeinsam bewundern sie die Lastenträger, die in ihrer freien Zeit riesige Steine zu der Kathedrale Santa Maria del Mar schleppen, die sich im Bau befindet. Noch als Halbwüchsiger fängt Arnau ebenfalls mit dem Steineschleppen an und erarbeitet sich bald einen Ruf als guter Arbeiter und angenehmer Zeitgenosse. Auf ihn warten jedoch harte seelische und körperliche Prüfungen, die er bestehen mus, während die Kathedrale weiter in den Himmel wächst.



    Meine Meinung:
    Ildefonso Falcones ist eigentlich Anwalt und das katalonische Recht des Mittelalters so etwas wie sein Hobby. Und nachdem er sich umfangreiche Kenntnisse über das Barcelona des 14. Jahrhunderts angeeignet hatte, trieb es ihn an den Schreibtisch, wo er sein erstes Romanmanuskript verfasste. Zum Glück, muss man sagen. Denn dabei ist ein wunderbarer, mitreissender historischer Roman entstanden, der sich mit den Referenzwerken des Genres durchaus messen kann.


    Der offensichtlichste Vergleich dürfte der mit Ken Folletts «Die Säulen der Erde» sein, in dem es ebenfalls um den Bau einer Kathedrale geht. Ein unfairer Vergleich, da Falcones im Gegensatz zu Follett kein Schwätzer ist, der 1200 Seiten braucht um eine Geschichte zu erzählen, deren Substanz allenfalls für die Hälfte reicht. Nein, bei Falcones bekommt der Leser 643 Seiten voller Geschichte und Geschichten, mal herzzerreissend tragisch, mal hochdramatisch und doch nie die Grenze zum Kitsch überschreitend.


    Die Kathedrale gibt dem Buch zwar den Titel, der Bau ist jedoch nicht so zentral, wie man vermuten möchte. Es ist vielmehr ein Panoptikum des mittelalterlichen Barcelona mit seinen Sitten und Rechten. Barcelona, die reiche und freie Stadt, eine Handelsmetropole des Mittelalters wird in all seinen Facetten beschrieben: die Handwerksgilden, das schlagkräfige Bürgerheer, das Zusammenleben von Bürgern und Adel und auch die jüdische Gemeinde und die Inquisition finden Platz in diesem dichten Roman, der das Leben des Hauptcharakters Arnau Estanyol von der Wiege bis ins Pensionsalter verfolgt.


    Unterwegs erhält man zahlreiche und bisweilen schockierende Einsichten in das katalonische Recht dieser Zeit. So konnte beispielsweise ein Mann, der eine unverheiratete Frau vergewaltigte, das Unrecht tilgen, indem er sie heiratete oder ihr einen angemessenen Ehegatten zuwies, der sie an seiner Stelle heiraten würde. Dass Falcones solche Dinge geschehen lässt und auch nicht jeden Lebenslauf gut enden lässt, zeigt, dass er keinen Wohlfühl-Kostümschinken, sondern einen möglichst authentischen historischen Roman schreiben wollte. Das ist ihm mit diesem dichten Roman gelungen. Spannende Fakten paaren sich mit einer dramatischen Lebensgeschichte und einem gekonnt konstruierten Ende.


    Für Fans von guten historischen Romanen ist «Die Kathedrale des Meeres» ein Must. Dafür gibt es von mir seltene 9 von 10 Punkten.


    :tipp:


    Für Fragen zum Buch stehe ich gerne zur Verfügung. :smile:


    Alfa Romea

    Wer anderen folgt, wird nie zuerst ankommen.

  • Eine tolle Buchvorstellung :smile:


    Mich würde noch interessieren, ob der Erzählfokus eher auf die 'Zeichnung' des mittelalterlichen Barcelonas' ausgerichtet ist, mit der Hauptfigur Arnau als "Beiwerk", oder ob sich die beiden Erzählteile in etwa die Waage halten. Ein zuviel an Historie, auf Kosten der Handlung und der Personen, schreckt mich eher ab.

  • Hi Thomy!


    "Trockene" Exkurse gibt es in dem Buch kaum, die Handlung ist sehr auf Arnau und seine Lebensgeschichte fixiert. Das Porträt des mittelalterlichen Barcelona wird en passant eingestreut. Auch diese Teile sind so gut erzählt, dass keine Langeweile aufkommt.


    @HC:
    :breitgrins:


    Gruss


    Alfa Romea

    Wer anderen folgt, wird nie zuerst ankommen.

  • Klingt wirklich toll, aber da warte ich wohl, bis das jemand bei Amazon günstiger verkauft. :breitgrins:

    Viele Grüsse,

    Weratundrina :verlegen:


    Help me, help me ~ Won't someone set me free? ~ There's no right side of the bed ~ With a body like mine and a mind like mine

    ~ IDLES ~


  • Am liebsten würde ich gleich mit dem Buch anfangen :zwinker:
    Zunächst aber muss ich etwas an meinem SUB "arbeiten", deshalb wandert´s erstmal, leider, auf den Wunschzettel.
    Alfa_Romea, danke :winken:

  • Stand ohnehin auf meiner Wunschliste, ich finde auch den Titel recht cool. Allerdings hab ich ein Problem ganz anderer Couleur, muss nämlich eigtl noch Die Säulen der Erde lesen, weil ja Anfang März Die Tore der Welt rauskommt, und SdE hätte ich wahrscheinlich an sich gar nid mehr gelesen, zumindest vorläufig, aber wenn da nu auch ein zweiter Teil ansteht, möchte man das ja nid missen.

  • Ich weiß wie groß die Begeisterung ist und deshalb habe ich fast ein schlechtes Gewissen, dass ich diesem Roman - zumindest bis zur Hälfte - nichts Überdurchschnittliches abgewinnen konnte. Dabei habe ich mich sehr auf die Lektüre gefreut, weil ich gerne historische Romane lese. Das Buch ist außerdem wunderschön gestaltet. Nach der Rettung der jüdischen Kinder wird Arnau jetzt Geldwechsler, und ich setze meine ganze Hoffnung auf die 2. Hälfte.
    Zu Jahresbeginn habe ich "Riemenschneider" von Tilman Röhrig gelesen. Dieser Roman hat mich wiederum so beeindruckt, dass ich jetzt vielleicht Schwierigkeiten habe, etwas zu finden, was mich annähernd so begeistert.


  • Ich weiß wie groß die Begeisterung ist und deshalb habe ich fast ein schlechtes Gewissen, dass ich diesem Roman - zumindest bis zur Hälfte - nichts Überdurchschnittliches abgewinnen konnte.


    Mach dir nichts draus, so sind die Geschmäcker halt verschieden... Der Literaturkritiker Denis Scheck hat "Die Kathedrale des Meeres" in seiner Sendung "Druckfrisch" auch kurz [url=http://www.daserste.de/druckfrisch/thema_dyn~id,219~cm.asp]verrissen[/url] - was mich erstaunt hat, da sich mein Lesegeschmack sonst mit dem vom Herrn Scheck weitgehend deckt...


    :winken:


    Alfa Romea

    Wer anderen folgt, wird nie zuerst ankommen.

  • Hallo Alfa Romea!
    Ich habe einmal irgendwo gelesen, dass der mittelalterliche Mensch so gut wie keine Möglichkeit hatte, aus dem Stand, in den er hineingeboren wurde, auszubrechen. So hätte Arnau diesen Weg gar nie gehen können. In der Realität wäre er wahrscheinlich ewig Steineträger geblieben und mit 40 Jahren an der harten Arbeit gestorben. Das ist aber leider kein Stoff für einen Roman.

    , habe ich begonnen, den Roman als schönes Märchen zu lesen, und so hat mir die Geschichte dann doch noch ganz gut gefallen.
    Das Buch ist jedenfalls in seiner Ausführung wunderschön und wird, so wie jedes der Bücher, die ihren Weg zu mir finden, seinen Platz im Regal bekommen.


    Edit: Spoilermarkierung eingetragen. LG nimue

    Einmal editiert, zuletzt von nimue ()

  • Mir ging es wie Dennis Scheck, und die hochgelobte Recherche konnte ich auch nicht erkennen. Leute von heute in einer bunten Kulisse, die vor allem aus Versatzstücken zusammengebaut war. Die Sache mit dem ius primae noctis hat mir Brechreiz verursacht. :grmpf: Ich hab irgendwann echt aufgegeben und war froh, als ich einen dankbaren Abnehmer fand. Aber der war mit dem Roman auch nicht glücklich. :breitgrins:
    Ich hab den Eindruck, da wollte jemand ein Stückchen vom Erfolg von Ken Follett abhaben. :zwinker:


  • Ich habe einmal irgendwo gelesen, dass der mittelalterliche Mensch so gut wie keine Möglichkeit hatte, aus dem Stand, in den er hineingeboren wurde, auszubrechen. So hätte Arnau diesen Weg gar nie gehen können. In der Realität wäre er wahrscheinlich ewig Steineträger geblieben und mit 40 Jahren an der harten Arbeit gestorben.


    Zweifellos. Aber wie du selber schreibst, hätte es dann gar keine Stoff für einen Roman. Nicht nur Falcones lässt Protagonisten unwahrscheinliche Entwicklungen durchlaufen, das geht bei der hochgelobten (und von mir ebenfalls sehr geschätzten) Rebecca Gablé genau gleich und Ken Follett (von dem ich nicht sehr viel halte) machts auch nicht anders. Historische Romane sind eigentlich immer Kostümschinken, da das mittelalterliche Leben eines gewöhnlichen Menschen in Realität wahrscheinlich recht langweilig war: Arbeiten, zur Kirche gehen, was zu essen auftreiben und versuchen, nicht an irgendwelchen Krankheiten zu sterben.



    Die Sache mit dem ius primae noctis hat mir Brechreiz verursacht. :grmpf:


    Dürfte aber damals Tatsache und keine Erfindung des Autors gewesen sein. Ebenso wie die Sache mit den vergewaltigten Frauen:



    So konnte beispielsweise ein Mann, der eine unverheiratete Frau vergewaltigte, das Unrecht tilgen, indem er sie heiratete oder ihr einen angemessenen Ehegatten zuwies, der sie an seiner Stelle heiraten würde.


    Da kann Falcones nun wirklich nichts dafür :zwinker:


    "Die Kathedrale des Meeres" ist jetzt wirklich eines der wenigen Bücher, wo ich die Kritik nicht verstehe (aber natürlich problemlos akzeptiere!). Aber eben, es kann schon sein, dass ich hier der Geisterfahrer bin und ein Buch gut finde, das es eigentlich gar nicht ist. :titanic:

    Wer anderen folgt, wird nie zuerst ankommen.


  • Dürfte aber damals Tatsache und keine Erfindung des Autors gewesen sein. Ebenso wie die Sache mit den vergewaltigten Frauen:


    Dafür hätte ich dann bitte gerne einen handfesten Beleg! :breitgrins: Auf den wartet die Geschichtswissenschaft nämlich, seitdem der Begriff in der Französischen Aufklärung aufkam. Vorher gab 's das nicht. Und die als Indiz angeführten Bezeichnungen für bestimmte Abgaben können sich allemal auf anderes Beziehen.
    Dass das Heiraten was kostet, ist ja auch heute noch so. Daraus zu schließen, dass man sich mit Standesamtgebühren davon freikauft, mit dem Bürgermeister oder Ortsvorstehen ins Bett zu müssen, finde ich schon ein bisschen krude. ;)


    Das MA stellt man sich offenbar in HR gerne als eine Zeit vor, in der Frauen für alle Männer Freiwild waren und eine Vergewaltigung die andere jagte. Man muss kein Kulturwissenschaftler sein um sagen zu können das Sittsamkeit in einer solchen Umwelt keinen Stellenwert haben kann. Ausreichend Forschungen gibts dazu zB über die Zeit der marodierenden Söldnerbanden im 17c. Damals gabs dank der Schweden und anderer Banden fast keine Jungfrauen mehr und schon ging es bei Frauen nur noch um die Arbeitskraft.


    Schon klar, dass das angebvliche "Herrenrecht" in Sachbüchern gerne kolportiert wird (S.e.x sells!), aber abgesehen von einer einzigen Gemeinde in der Schweiz, in der ein Vogt sich ein solches Vorrecht gesetzt hat, um von Brautleuten Geld (!!!!) zu erpressen, stammt die erste Erwähnung dieses "Herrenrechts" aus den Ständekämpfen vor der Frz Revolution. Damals war beiden Sitten jedes Mittel recht, um sich zu bekämpfen und sexuelle Diffamierung gehört seit jeher zur wirksamsten Propaganda. Wenn man danach geht wär das alte Rom eine ununterbrochene Orgie gewesen. :breitgrins:


    Regelungen wie die von dir zitierte (die du wiederum aus dem Roman hast) können nicht als flächendeckendes oder dauerhaftes Recht nachgewiesen werden. Im übrigen funktionierte das nur, wenn derjenige, der für das Opfer verantwortlich war, einwilligte. Man kann aber nicht voraussetzen, dass das immer der Fall war. Das würde nämlich bedeuten, dass für jeden Mann alle weiblichen Wesen seiner Umgebung nur wandelnde Geschlechtsteile waren. Und das kommt mir eher wie ein Allgemeinplatz aus der radikalsten Ecke der Frauenbewegung vor. ;)


  • Dafür hätte ich dann bitte gerne einen handfesten Beleg! :breitgrins:


    Den kann ich selbstverständlich nicht liefern. Mag sein, dass es eine Erfindung ist, um das Mittelalter zu verteufeln und den Leuten zu erzählen, dass früher alles schlimmer war.


    Aber ich zitiere hier, was Falcones zum ius primae noctis im Nachwort schreibt:

    Zitat

    Das Ius primae noctis, das Recht der ersten Nacht, war tatsächlich Bestandteil der Rechte, welche die Usatges, das katalanische Rechtsbuch, den Grundherrn über ihre Leibeigenen zuerkannten. Diese Herrenrechte aus dem alten Katalonien führten zu ständigen Konflikten zwischen den Bauern und ihren Herren, bis sie schliesslich 1486 im Urteil von Guadalupe endgültig abgeschafft wurden (...)


    Ob das jetzt stimmt, schlampig recherchiert oder glattweg gelogen ist, weiss ich nicht. Aber wenn sowas in einem Nachwort steht, dann gehe ich davon aus, dass der Kerl schon weiss, wovon er schreibt. Innerhalb des Romans siehts natürlich anders aus - da nehmen sich Autoren ja gerne die eine oder andere dichterische Freiheit, weshalb ich auch nicht alles für bare Münze nehme, was in historischen Romanen steht.



    Das MA stellt man sich offenbar in HR gerne als eine Zeit vor, in der Frauen für alle Männer Freiwild waren und eine Vergewaltigung die andere jagte.


    Ja, so wirds oft dargestellt. Das heisst jetzt aber nicht, dass ich all diese Schilderungen deswegen für glaubwürdig halte. Wahrscheinlich wars weniger als halb so schlimm. Andrerseits waren Frauen eben auch weit weg davon, gleichberechtigt zu sein. Dass es da sicher des öfteren unschöne Szenen gab (es muss ja keine Vergewaltigung sein), die den Frauen gegenüber ungerecht und/oder schädlich waren, darf man glaube ich getrost annehmen. Dazu reicht ja ein Blick in heutige Drittweltländer, die die Gleichberechtigung der Frau auch nicht kennen. Die Frauen dort werden auch nicht ständig vergewaltigt und es gibt sicher viele, die mit ihrem Leben zufrieden sind, weil sie zB einen anständigen Mann geheiratet haben. Aber wenn man das nicht hat, dann siehts ziemlich düster aus. Und so wirds wohl auch den Frauen im Mittelalter gegangen sein.




    Regelungen wie die von dir zitierte (die du wiederum aus dem Roman hast) können nicht als flächendeckendes oder dauerhaftes Recht nachgewiesen werden.


    Behauptet ja auch niemand. Falcones behauptet (im Nachwort) lediglich, dass das für das mittelalterliche Katalonien gilt. Einen Beleg dafür führt er allerdings nicht an. Bringt uns in dem Moment auch nicht weiter. Ich neige halt einfach dazu, Dingen, die im Nachwort stehen, Glauben zu schenken. Wenn der Autor seine Fehler/schlampigen Recherchen verbergen möchte, kann er sowas im Nachwort (sofern überhaupt vorhanden) ja einfach verschweigen. Aber wenn einer hinschreibt "das war so und so", dann vertraue ich einfach darauf, dass der Autor weiss, was er da schreibt...


    :winken:


    Alfa Romea

    Wer anderen folgt, wird nie zuerst ankommen.

  • Hallo Alfa Romea und Geli!
    Das ist ja eine interessante Diskussion, die Ihr da führt, und ich muss auch noch meinen Senf dazugeben.


    Was die Situation der Frauen betrifft, war, glaube ich, alles noch viel schlimmer, als wir es uns vorstellen können, zumindest bei der unteren Gesellschaftsschicht. Die adeligen Damen wurden - im Hochmittelalter - zwar von den Minnesängern verehrt, wie das bei ihren Ehemännern ausgesehen hat, ist wieder eine andere Frage.
    Prinzipiell jedoch waren sie Arbeitskraft und zur ständigen Schwangerschaft verurteilt, bis die meisten früher oder später im Kindbett starben. Und die adeligen Gebärmaschinen wurden von jeder Bildung möglichst ferngehalten.
    Außerdem sollten wir nicht übersehen, dass die heutige Männerwelt von sexuellen Reizen so überschwemmt wird wie zu keiner anderen Zeit. Der mittelalterliche Mann war da in einer ganz anderen Ausgangssituation, die, verbunden mit dem niedrigen Stellenwert der Frau, sicher noch häufiger zu Gewalttätigkeiten führte als heute.
    Der Existenzkampf war insgesamt sicher härter, der Tod ein viel selbstverständlicherer Gast und die Kirche hat äußerst dominant selbst in die intimsten Lebensbereiche eingegriffen. Wo sollte da Raum bleiben für Individualität und Aufbegehren gegen das Schicksal? Schließlich hatte auch alles seine von Gott gegebene Ordnung, wer wollte das schon hinterfragen? Da mußte noch einige Zeit vergehen, bis es soweit war.
    Und von den wenigen weiblichen Ausnahmen, die es gegeben hat, lesen wir dann in den historischen Romanen. Sorry, das war ein kleiner Scherz bei einem ernsten Thema. Schönes Wochenende wünscht Euch Sue.


  • Den kann ich selbstverständlich nicht liefern. Mag sein, dass es eine Erfindung ist, um das Mittelalter zu verteufeln und den Leuten zu erzählen, dass früher alles schlimmer war.


    Es war ursprüngliche eine von mehreren verleumderischen Vorwürfen, mit denen die bürgerlichen Vertreter der Französischen Aufklärung in Flugschriften gegen den adligen Feudalismus kämpften. Man nannte diese erfundenen Zustände später immer öfter "mittelalterlich". ;)


    Zitat

    Aber ich zitiere hier, was Falcones zum ius primae noctis im Nachwort schreibt:


    Was im Usatges (engl. Online-version) steht, ist folgendes:

    Zitat

    85. If anyone violently rapes a virgin, either let him marry her if she and her parents are willing and let them give her dowry to him or let him give her a husband equal to his rank. If one violently ravishes a women who is not a virgin and makes her pregnant, let him do the same.


    Das bedeutet, das Opfer durfte nicht gegen seinen Willen verheiratet werden (übrigens eine Errungenschaft, die auf die Bedingung des Konsens unter den Ehepartnern für das Zustandekommen einer Ehe zurückgeht, und der ist genuin christlich und von "der Kirche" gegen die germanische Sitte durchgesetzt worden, nach der ausschliesslich der Vater oder Vormund bestimmte, wen die Tochter heiraten musste/durfte!). Es ging in dieser Regelung darum, die Ehre des Mädchens und seiner Familie wiederherzustellen, nicht um Geld! Eine Entschädigung durch Geld oder Güter hätte das Mädchen zur Prostituierten gestempelt!


    Weiter steht da:

    Zitat

    87. Likewise concerning the possessions and property of adulteresses if the adultery is committed against the husband’s will, let them and their lords have equal portions of all the adulterous wives’ property. But if, God forbid!, this adultery is committed with the will, order, or assent of the husbands, let their lords have full right and jurisdiction in such cases.


    88. However, if the women do not carry this out by their free will but from the fear or order of their husbands, let them be exempt from the actions of their husbands and their husbands’ lords and not subject to the loss of any of their own property. And if these same women desire it, they may separate from their husbands and yet nevertheless let them not lose their dowry or wedding gift.


    89 Husbands can accuse their wives of adultery or even of the suspicion of it and then they must clear themselves by their affirmation on oath and by judicial battle if there are clear indications and evident signs in these. Moreover, wives of knights should do so by oath and likewise by judicial battle between knights. Wives of townsmen and burghers and noble bailiffs, by judicial battle between foot champions. Wives of peasants, by their own hands through the ordeal of boiling water. If the wife is victorious, let her husband honorably keep her and make compensation to her for all expenses which her retainers have incurred in this suit and judicial battle. But if she was defeated, let her come into the custody of her husband with everything she has.


    Ansonsten gibt es keine weiteren Hinweise im gesamten Text zum Thema "Jungfrau", "Mädchen", "Braut", "Hochzeit". Ergo: In den Usatges de Barcelona steht nichts von einem "ius primae noctis".


    Wenn man die Gesetze zusammenfasst, dann bedeutet das, dass im Falle des unfreiwilligen/Gewaltsamen Beischlafs mit einer verheirateten Frau (also auch einer Braut!) eine Entschädigung zu erfolgen hatte, die auch so aussehen konnte, dass die Frau sich von ihrem Mann trennen und einen Ehemann von Rang des Täters fordern konnte. Das heißt, wenn eine Leibeigene von ihrem Grundherrn missbraucht wurde, konnte sie dadurch sogar in den Adel aufsteigen! Und weil das sicherlich nicht gewollt war, verhinderten diese Gesetze geradezu den Missbrauch Abhängiger. ;)


    Seit 1462 gab es Unruhen unter den Leibeigenen Katalaniens (Guerra dels remences), die erst 1486 beigelegt werden konnten. Damals wehrten sich die Leibeigenen dagegen, dass die Adligen sie durch immer schärfere Abgaben und Strafen an die Scholle binden wollten. Seit dem 13c fand nämlich Landflucht statt und als im 14/15c die Seuchen ("Pest") und eine Klimaverschlechterung dazukamen, war die Getreideversorgung nicht mehr sicher. Also hielt man die Bauern auf dem Land fest. Das führte dann wohl auch zu Übergriffen. Aber gesetzlich legitimiert waren diese angeblichen "Herrenrechte" nie und nirgends!!!!


    Es lässt sich leicht erklären: in den Sitten der germanischen Völker gilt (wegen der männlichen Erblinie) der außereheliche Verkehr der Frau als eine der schwersten Schanden, die einer Familie zustoßen kann. Es wäre also ein extremer Verstoß gegen das Rechtsverständnis dieser Menschen und eine ganz üble Form von Willkür, wenn Herren die Frauen und Töchter ihrer Untergebenen geschändet hätten. Das mag durchaus vorgekommen sein, aber es war eine Straftat. Ein Adliger hätte ein unverheiratetes Mädchen oder Frau nach den Gesetzen im Usatges dann selbst heiraten oder ihr einen adligen (!) Ehemann verschaffen müssen. Oder im Falle einer verheirateten Frau für entsprechende Wiederherstellung ihrer Ehre sorgen müssen. Eine Braut, die in der Hochzeitsnacht von ihrem Herrn missbraucht worden wäre, hätte ihren Mann verlassen können und ihre Familie hätte vom Täter das Recht auf eine Verheiratung mit ihm oder einem seinem Stand entsprechenden Mann erzwingen können. Das war damals kodifiziertes Recht, das man auch als Leibeigener einfordern könnte. Wer behauptet, dass das doch nur Papier gewesen sei, entwertet damit jede schriftliche Fixierung von Gesetzen als sinnlos.
    Außerdem fand der Aufstand wegen drückender Abgaben und unrechtmäßiger Übergriffe fast 150 Jahre nach dem Beginn der Handlung statt. Und allein schon der gesunde Menschenverstand sagt, dass Menschen sich nicht sechs Generationen lang dermaßen auf der Nase herumtanzen lassen. Das "Argument", die hätte sich nicht getraut oder hätten nicht gekonnt, ist vorgeschoben und historisch nachweislich grober Unfug! Dann ist nämlich jede Verschriftlichung von Recht und Gesetz schon immer sinnlos gewesen. Warum hätte man das denn dann tun sollen?
    Andererseits waren Behauptungen über unrechtmäßige (und am liebsten s.e.x.uelle!) Übergriffe von Grundherren immer einen sehr wirkungsvolle Methode, Menschen aufzuwiegeln. In den deutschen Bauernkriegen, denen Propagandakriege mit Flugblättern vorausgingen, war das genauso und man kann nicht alles für bare Münze nehmen, was in diesen Flugblättern stand!
    Wenn Falcones behauptet, das "ius primae noctis" hätte es damals in Katalanien gegeben, dann ist diese Behauptung schlichtweg eine Geschichtsfälschung.


    Zitat

    Andrerseits waren Frauen eben auch weit weg davon, gleichberechtigt zu sein.


    Männer auch! :D
    Die Gesellschaften funktionierten anders, die Menschen dachten ganz anders über sich und die Welt, auch "Gelcihberechtigung" wurde ganz anders wahrgenommen und ich finde es immer wieder äußerst arrogant, wenn wir heutigen "Erstweltler" uns für die Fortschrittlichsten halten.


    Ich hab mich 2205 3 Monate in Indien aufgehalten. Die Menschen leben zT in bitterstem Elend und der "Boom" kommt nur ganz ganz wenigenzu gute!!! In Zentral Indien, das einmal eine Kornkammer war, geht alles zugrunde, gerade weil man die armen Bauern mit gentechnisch verändertem Saatgut große Hoffnungen gemacht hat. Ich könnte dir viele Geschichten erzählen, wie der globale Kapitalismus auch und vor allem die Dritte Welt und die Schwellenländer Kaputt macht, und überall bleiben nur ein paar Reiche, die die letzten Paradiese ausbeuten -- das ist unsere moderne Welt!
    Als wir wieder in Frankfurt gelandet sind und mit der Bahn in die Stadt gefahren sind, war ich total schockiert: In Indien bin ich auf Menschen getroffen, die in ihrer scheinbar rückständigen Welt bei aller Armut fröhlich waren, liebenswürdig, höflich, offen. Die haben uns immer wieder beschämt mit ihrer Liebenswürdigkeit. Dann kamen wir nach Deutschland zurück und begegneten kalten, verschlossenen genervten Gesichtern.
    Ich möcht wirklich nichts idealisieren, aber diese Erfahrung fand ich schockierend! :(
    Wir sollten mal drüber nachdenken, ob unser Hang, die Vergangenheit immer als eine brutalere, schrecklichere, rückständigere, dümmere Form der Gegenwart hinzustellen nicht bloss eine Krücke ist, damit wir uns überhaupt noch wohlfühlen in unserem goldenen Käfig. ;)

  • Hi Geli


    Erstmal vielen Dank für deine ausführliche und sehr interessante Antwort! Deine Argumentation zeigt, dass offenbar immer noch gerne Unfug mit historischen Tatsachen betrieben wird - so nach dem Motto "Das prüft eh keiner nach und es klingt gut." Schade...



    Die Gesellschaften funktionierten anders, die Menschen dachten ganz anders über sich und die Welt, auch "Gelcihberechtigung" wurde ganz anders wahrgenommen und ich finde es immer wieder äußerst arrogant, wenn wir heutigen "Erstweltler" uns für die Fortschrittlichsten halten.


    Naja, ein Blick auf unseren Wohlstand (Ernährungssituation, Gesundheitswesen, "freie Gesellschaft" in dem Sinne, dass auch der Sohn eines Bauarbeiters Professor werden kann) scheint uns zumindest auf den ersten Blick recht zu geben.


    Es ist klar, dass in unserer Gesellschaft auch vieles schief läuft und dass ein Teil unseres Wohlstandes auf die Ausbeutung anderer Völker (Kolonialisierung) zurückgeht. Jede Epoche hat ihr Für und Wider, Fortschritt gab es zu jeder Zeit und ich bin weit weg davon, die mittelalterliche Bevölkerung als rückständig zu bezeichnen. Es war damals halt einfach anders und gewisse Dinge, die in früheren Jahrhunderten gang und gäbe waren, sind heute undenkbar. Und deshalb bin ich aus heutiger Sicht auch froh, dass ich ein Kind des 20./21. Jahrhunderts bin. Nicht, weil unser Jahrhundert das beste aller Zeiten wäre, sondern weil ich mich daran gewöhnt habe und mit dieser Gesellschaft am besten klar komme - inklusiver aller Mängel, die sie (wie jede andere Gesellschaft auch) aufweist.



    Ich hab mich 2205 3 Monate in Indien aufgehalten. Die Menschen leben zT in bitterstem Elend und der "Boom" kommt nur ganz ganz wenigenzu gute!!! In Zentral Indien, das einmal eine Kornkammer war, geht alles zugrunde, gerade weil man die armen Bauern mit gentechnisch verändertem Saatgut große Hoffnungen gemacht hat. Ich könnte dir viele Geschichten erzählen, wie der globale Kapitalismus auch und vor allem die Dritte Welt und die Schwellenländer Kaputt macht, und überall bleiben nur ein paar Reiche, die die letzten Paradiese ausbeuten -- das ist unsere moderne Welt!


    Ich weiss, ich weiss... Aber diese Diskussion würde hier jetzt zu weit führen und auch nicht viel bringen. Ein Patentrezept habe ich leider auch nicht :sauer:


    Lieber Gruss


    Alfa Romea

    Wer anderen folgt, wird nie zuerst ankommen.

  • Hi Alfa Romea!



    Und deshalb bin ich aus heutiger Sicht auch froh, dass ich ein Kind des 20./21. Jahrhunderts bin. Nicht, weil unser Jahrhundert das beste aller Zeiten wäre, sondern weil ich mich daran gewöhnt habe und mit dieser Gesellschaft am besten klar komme - inklusiver aller Mängel, die sie (wie jede andere Gesellschaft auch) aufweist.


    Diese Sichtweise finde ich auch völlig in Ordnung, die teile ich auch. Nach der Zeit in Indien wusste ich, dass ich da aus verschiedenen Gründen nicht glücklich werden würde und war froh, dass mein Mann sich nicht entschieden hat, länger dort zu arbeiten. Man kann auf eine Menge Luxus verzichten, der ist gar nicht so wichtig wie man denkt. Aber über solches Elend und Unrecht hinwegsehen wie es dort gibt, das kann ich auf Dauer einfach nicht.


    Was diese Knallerthesen in historischen Romanen angeht: Das gibts ja leider auch genauso im Sachbuch. Man nimmt einen Vorwurf, der durch diese Kampfschriften entstanden ist und projiziert ihn einfach ein paar Jahrhunderte zurück. Behauptet also, weil die Geschichte sich immer zum besseren entwickelt, muss das gestimmt haben und davor noch viel schlimmer gewesen sein. ZB bei der Hexenverfolgung, die es im MA gar nicht gab, von der aber immer wieder behauptet wird, dass sie während des MA besonders schlimm gewesen sei. Die These, alles entwickele sich immer zum besseren, stimmt aber nicht, weils ja auch vor dem Dreissigjährigen Krieg nicht schlimmer zugegangen ist als während des Dreissigjährigen Krieges, und in der Weimarer Republik, also vor dem Dritten Reich nicht schlimmer als während der Nazizeit. ;)


    Aber wenn Leute sich an solchen dummen Thesen festgebissen haben, kriegt man sie nicht davon ab. :( :rollen:

  • Das ist ja eine sehr interessante Diskussion, die ihr hier führt. Vielen Dank, Geli, für deine ausführlichen Erläuterungen. Für den normalen Leser sind solche Dinge leider schwer einzuschätzen. Ich nehme in historischen Romanen zwar auch nicht alles für bare Münze, aber wenn es schon ein Nachwort gibt, erwarte ich natürlich, dass das dann auch so stimmt. Offensichtlich war ich bisher zu naiv, aber eigentlich sollte man sich ja nicht darüber wundern. Ich finde das schon ein bisschen enttäuschend.


    Das Buch selbst habe ich nach 200 Seiten abgebrochen. Den Anfang fand ich noch sehr dramatisch (auch wenn das mit dem "Ius primae noctis" nicht so ganz der Wahrheit entspricht :zwinker: ), Bernat als Person interessant. So wie jedoch Arnau und Joan erwachsen wurden, ging der Geschichte die Luft aus und wurde für mich immer uninteressanter. Beim Querlesen hatte ich außerdem das Gefühl, dass die Ereignisse immer unwahrscheinlicher werden.


    Nach reiflicher Überlegung habe ich das Buch abgebrochen. Dabei finde ich es gar nicht wirklich schlecht (rattenmäßig würde ich für die ersten 200 Seiten 3 Ratten vergeben), aber irgendetwas fehlt mir. Fairerweise muss ich aber dazu sagen, dass ich das Buch nur geliehen hatte und es andernfalls bestimmt zu Ende gelesen hätte. Ich bin aber offen gesagt, froh drum, dass ich mich jetzt wieder anderen Dingen widmen kann.

    Einmal editiert, zuletzt von Thanquola ()

  • Hallo ihr Lieben,


    ich höre gerade das Hörbuch und bin etwas traurig, dass ich durch den Thread, den ich interessehalber lesen wollte, schon ordentlich durchgespoilert wurde :sauer:
    Einen Satz habe ich mal als Spoiler markiert - da ist das Kind schon in den Brunnen gefallen. Aber mehr werde ich jetzt hier nicht mitlesen. Achtet ihr bitte ein bisschen auf die Spoilermarkierungen? :winken:


    Liebe Grüße
    nimue

    Rechtsextremismus ist wieder salonfähig gemacht worden, durch CDU/CSU und FDP.