Charlotte Roche - Feuchtgebiete

Es gibt 90 Antworten in diesem Thema, welches 30.684 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Kirsten.

  • Wurde denn wirklich eine Diskussion in Gang gesetzt? Welche denn? Etwa über Hygiene? Ich kann das nicht entdecken. Das Buch schockiert zwar, bleibt aber vollkommen wirkungslos. Aus den Rezis hier und bei Amazon kann ich jedenfalls keinen gegenteiligen Schluss ziehen.


    Gruß, Thomas


    Hallo Thomas,


    ja, ich glaube schon, dass eine Diskussion begonnen hat, die es vorher so noch nicht gab. Zum einen in den vielen Talkshows, in denen über das Buch gesprochen wird, zum anderen aber z.B. auch ganz simpel und konkret in meinem eigenen Bekanntenkreis. Ich habe viele Freundinnen zwischen 20 und 30. In den letzten Jahren ist mir immer häufiger eine Verselbstständigung bestimmter Themen aufgefallen. Themen, die ich als traurig oder schade bis bedenklich empfunden habe (von denen ich selbst mich als junge Frau aber auch nicht ganz freisprechen kann). Zum einen konnte ich eine relativ offen gelebte Sexualität feststellen, zum Teil wechselnde Partner und/oder zumindest ein recht offenes Sprechen über die sexuellen Erfahrungen und ausgeübten Praktiken. Das klingt auf den ersten Blick irgendwie sexuell emanzipiert. Im gleichen Zuge gesellte sich dazu aber kurioserweise auch zunehmend ein Ekel vor dem eigenen Körper und auch den des Partners, eine große Angst davor, sexuell nicht ansprechend bzw. ungenügend zu sein usw.. Gespräche gingen immer öfter nur noch um Themen wie: "wie positioniere ich mich in Stellung XY so, dass er dies und jenes nicht sieht", "Hoffentlich will der Heute nicht mit mir ins Bett - ich hab keinen Rasierer dabei", "Mein Freund darf mich im Sitzen nicht umarmen, sonst merkt er meine Speckrolle", "bei meinem Neuen übernachte ich nicht, weil seine Rollos nicht 100% schließen - sonst sieht der mich im Morgenlicht noch, wie ich wirklich aussehe" usw., usw.. Schönheitsoperationen - das kennt man eigentlich nur aus Hollywood - kommen bei meinen (eigentlich sowieso schon attraktiven) Freundinnen inzwischen relativ häufig vor. Intimwaschlotionen und Rosettenbleaching - das sind teilweise tatsächlich Themen und das finde ich erschreckend. Ich kenne Mädchen, die sich die Beine und Arme nicht nur rasieren, sondern auch schminken (mit Make-up und Puder, wie das Gesicht). Dieser Wahn der sexuellen Attraktivität bleibt auch nicht nur bei den jungen Frauen, sondern wird zum Teil auch auf die Partner übertragen. Die Männer müssen mindestens im Intimbereich, der Brust und unter den Achseln rasiert sein. Eine Freundin von mir erwartet von ihren Partnern auch eine Rasur der Beine und Arme (bzw. halt eine Ganzkörperrasur). Frage ich nach dem "Warum", bekomme ich Antworten wie (und ich zensiere mal): "das ist doch sonst total eklig, ich will doch kein Haar von dem im Mund haben!". Nein, stimmt, ein Haar wie eklig - Schweiß, Sperma und Spucke sind aber o.k.. Mir begegete immer häufiger eine eigenartige Form der Doppelmoral, eine Scheu und ein Ekel vor dem Körper und eigentlich auch vor der Sexualität an sich. Ich könnte hier noch endlos viele Beispiele anbringen. Zeitweise hatte ich schon das Gefühl, dass man sich irgendwann nur noch im Ganzkörperanzug begegnen könnte oder es nur noch Cybersex geben könnte.


    Durch „Feuchtgebiete“ ist tatsächlich endlich eine Diskussion entstanden, die diese „Themen“ in frage stellt und kritikwürdig macht. Es mag schade sein, dass dazu ein Buch wie dieses notwendig war, die Wirkung gefällt mir allerdings :breitgrins:.


    Liebe Grüße
    Tia

  • [... gute Infos gelöscht...]


    Durch „Feuchtgebiete“ ist tatsächlich endlich eine Diskussion entstanden, die diese „Themen“ in frage stellt und kritikwürdig macht. Es mag schade sein, dass dazu ein Buch wie dieses notwendig war, die Wirkung gefällt mir allerdings :breitgrins:.


    Liebe Grüße
    Tia


    Ok, das ist tatsächlich an mir vorbeigegangen. Danke für die ausführlichen Erläuterungen.


    Gruß, Thomas

  • "Errungenschaften der Zivilisation" :vogelzeigen:


    Wieso?


    Im Original steht: "... das alle Schwellen des Ekels und der Peinlichkeit übertritt, die als Errungenschaften im Prozess der Zivilisation gelten." (Hervorhebung durch mich). Das ist doch sachlich korrekt. Egal wie man selber dazu steht.


    Gruß, Thomas


  • Wieso?


    Im Original steht: "... das alle Schwellen des Ekels und der Peinlichkeit übertritt, die als Errungenschaften im Prozess der Zivilisation gelten." (Hervorhebung durch mich). Das ist doch sachlich korrekt. Egal wie man selber dazu steht.


    Auch wenn der Satz an sich sachlich korrekt ist, wird zumindest meiner Meinung nach im restlichen Artikel doch deutlich, dass der Autor hinter dieser Meinung steht (eben durch Ausdrücke wie "unhygienisches Monster").

  • ja, ich glaube schon, dass eine Diskussion begonnen hat, die es vorher so noch nicht gab. [...] Ich habe viele Freundinnen zwischen 20 und 30. [...]


    Das spräche dafür, dass dies ein Buch von, für und über eine bestimmte Gruppe ist, die wiederum relativ eng definiert ist durch Alter, Geschlecht und ev. auch Wohnort (Grossstadt?). Interessant. (Das Buch als Phänomen, nicht die Gruppe an sich ... )

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Das spräche dafür, dass dies ein Buch von, für und über eine bestimmte Gruppe ist, die wiederum relativ eng definiert ist durch Alter, Geschlecht und ev. auch Wohnort (Grossstadt?). Interessant. (Das Buch als Phänomen, nicht die Gruppe an sich ... )


    Das wäre tatsächlich denkbar, ich weiß es aber nicht. Meine persönliche Erfahrung mit diesem Buch geht bisher in diese Richtung, das muss aber nichts sagen.
    Die Altersbegrenzung habe ich deshalb angeführt, weil ich mit meinen Freundinnen zwischen 40 und 50 z.B. noch nie über solche Themen gesprochen habe. Das liegt nicht an Scham o.ä., sondern an einer anderen und erstaunlicherweise weniger kasteienden Einstellung zum Körper. Zur Großstadt kann ich leider auch nichts sagen, da die meisten meiner jüngeren Freundinnen Kommilitoninnen von der Uni sind, und die kommen aus ganz verschieden Orten Deutschlands (es sind aber ganz sicher auch Mädchen aus Kleinstädten und Dörfern dabei).


    Nun kann es sein, dass es sich um ein Phänomen des Alters handelt, das sich mit der kommenden Gelassenheit der Jahre wieder geben mag. Ich glaube aber eher an ein Phänomen der Zeit. Eine neue Art des Schönheitswahns, der sich nicht mehr (oder nicht mehr nur) auf die Schönheit an sich bezieht, sondern vielmehr auf eine perfektionierte Sauberkeit in körperlichen Dingen und auch eine Normierung des Objekts Körper (man betrachte dazu nur einmal die neuen Schönheits-OPs für den weiblichen Intimbereich - das wäre vor relativ kurzer Zeit noch undenkbar gewesen). Obwohl das eine das andere natürlich nicht ausschließen muss.

  • Wie ich sehe löst das Buch auch hier Diskussionen aus. Ich habe heute ein Interview mit der Autorin gelesen und mir dann die NDR-Show auf Youtube angesehen und ich musste die ganze Zeit lachen. Wie Roche mit diesem Thema umgeht finde ich wirklich gut und daher habe ich beschlosen das Buch zu lesen. Ich will mir selbst ein Bild machen.


    Aber eure geführte Diskussion finde ich schon mal sehr interessant und die Rezis spiegeln die verschiedenen Meinungen ja wieder. Ich bin schon gespannt zu welcher Gruppe ich gehören werde.


    Katrin

  • Ich gehöre zur Gruppe der 40 - 50jährigen (schon mehr zu 50 tendierend) und nach Eurer Diskussion hier, werde ich es lesen.


  • Ich habe heute ein Interview mit der Autorin gelesen und mir dann die NDR-Show auf Youtube angesehen und ich musste die ganze Zeit lachen.


    Das habe ich mir auch angesehen und den Auftritt bei Stefan Raab ebenfalls. Einfach herrlich. :breitgrins:


    In unserer Bibliothek gibt es inzwischen übrigens über 200 Vorbestellungen auf das Buch. :ohnmacht: Da komme ich in nächster Zeit wohl nicht dran.

    Einmal editiert, zuletzt von Thanquola ()

  • Hallo zusammen,


    so, ich habe das Buch nun auch endlich durch und war gestern auf einer Lesung von Frau Roche. Das war recht witzig. Ein bisschen erstaunt hat mich bei der Lesung, dass dort tatsächlich nur die Ekelszenen vorgestellt wurden und die ganzen leisen Töne und auch die Tragik aus diesem Roman gar keinen Raum fand. Das spricht schon ein bisschen für die Provokationstheorie. Vielleicht ist es auch einfach das, was die Leute von ihr im Bezug auf dieses Buch hören wollen: möglichst provokant, eklig und ein bisschen witzig. Das fand ich schade.


    Da ich "Feuchtgebiete" erst wenige Stunden zuvor ausgelesen hatte, war mir die andere Seite noch sehr gegenwärtig. Helens Verletzlichkeit, ihr Unsicherheit und der verzweifelte Versuche eine völlig zerrüttete Familie wieder zu vereinen. Ich finde jetzt übrigens um so mehr, dass das Drama um die Eltern einen sehr wichtigen Platz einnimmt. Meiner Meinung nach ist das die eigentlich Handlung und das andere eher der Rahmen drum herum (bzw. vielleicht sogar auch das Resultat des ersten). Es gab in diesem Buch schon heftige Stellen und damit meine ich nicht irgendwelche Anal-, Körpersaft- oder Sexspielchen. Schockiert haben mich ganz andere Dinge. Z.B. die völlig plötzlich in den Raum geworfene Sterilisation, die Geschichte mit den Wimpern und die Sache mit dem Gas. Wie wichtig Helen die Wiedervereinigung ihrer Familie ist, wird meiner Meinung nach in der Szene mit der Bettpedale deutlich. Diese Stelle fand ich sehr heftig und erschreckend.


    Natürlich gab es ein paar Dinge die ich eklig fand, andere wiederum eher menschlich - darüber spricht man (und vor allem frau) eben nicht. Das ganze Buch aber als eine bloße Aneinanderreihung von Ekel- und Sexszenen zu beschreiben, empfinde ich als ungerecht. Hinter all dem schlummert eine tiefere Geschichte, die immer wieder angedeutet, jedoch nicht völlig aufgeklärt wird. Die Protagonistin mag zum Teil lustig sein, von mir aus auch mutig und cool, wie Frau Roche selbst sagt, ich persönlich empfand Helen aber auch als verstört, unsicher und bemitleidenswert. Das dort geschilderte Verhalten trägt ganz klar sehr destruktive und selbstzerstörerische Züge (die Rasierstelle mit dem Unbekannten, der Drogenkonsum, der ungeschützte Verkehr, die Selbstverletzungen usw., usw.). Andere Dinge sind wieder normal pubertär (Herumexperimentieren, Verwirrungen bezüglich der eigenen Person usw.).


    Ich fand "Feuchtgebiete" wirklich nicht schlecht. Gut gefallen hat mir, dass hier gar nicht erst der Versuch unternommen wurde, literarische Qualitäten, die nicht vorhanden sind, vorzugaukeln. So wirkt es relativ ungekünstelt.


    Schöne Grüße
    Tia

  • Hallo!


    Zitat

    Wenn ich mich recht entsinne, meinte die Autorin auch, dass gerade dieser Teil die stärksten autobiografischen Züge tragen würde. Ich denke also schon, dass es ihr wichtig war, und dass man es nicht als unglaubwürdig oder gar als Alibi betrachten sollte.


    Naja, wenn ich ein Buch lese, dann lese ich es in erster Linie mal als finktionales Buch, außer es steht "Autobiographie" drauf, aber selbst dann sollte man immer noch skeptisch bleiben (ich halte es da mit Max Frisch :winken:). Wie dem auch sei, ich kenne ja die Interviews von Frau Roche nicht und stolpere deshalb in ihrem Buch über eine in meinen Augen sehr klar ambitionierte Geschichte über Sexualität, (Un-)Hygiene und so nebenher auch ein paar Gedanken zum Thema Erwachsenwerden. Der quantitative Hauptanteil ist nun einmal der 'ekelige', und ich fand diesen Part um die Scheidung und den Selbstmordversuch der Mutter unglaubwürdig. Zum einen, weil er quasi als Rahmenhandlung da steht, und damit meine ich den Erzählrahmen. Am Anfang ein paar Worte dazu (bei denen ich mir große Hoffnungen auf ein differenziertes, wenn auch sicherlich provokatives Stück Literatur machte) und am Ende, als sich das Problem der armen, zu bemitleidenswerten 18jährigen Helen, die sich gerade noch selbst aufs übelste verstümmelte, im Nichts aufzulösen scheint. Zum anderen stehen die Gedanken, die sich die Protagonistin mache, zu klar im Widerspruch zu ihrem übrigen Tun und Lassen. Klar tragen viele junge Menschen (hei, ich bin ja auch noch jung ;) ) einen solchen Widerspruch in sich, aber dieser hier - ich denke, ein solches junges Mädchen bräuchte dringend professionelle Hilfe... Ihr "Hygieneverhalten" scheint ja nicht unreif zu sein, sie reflektiert ja darüber, was passieren wird, wenn sie den Tampon selbst bastelt oder ihn in den Fahrstuhl legt. Sie erzählt seitenlang, wie es geht, dass man sich eine Dusche... naja, ihr wisst schon. Ich will ja hier nicht alles verraten. Aber... mmh. Wenn ich das jetzt hier so schreibe, dann fällt mir schon auf, dass das der Versuch von Roche gewesen sein könnte, diesen inneren Widerspruch darzustellen. Dann würde ich aber sagen: Literarisch gescheitert :breitgrins: Um es für gelungen zu bezeichnen, hätte man vielleicht ein bißchen weniger Ekel und Skandal machen können. Aber so ist und bleibt diese "Meine Familie ist so kaputt und ich bin so verzweifelt" eine Randbemerkung zwischen "Ich brauche es immer und überall" und "Wenn andere nichts mit meinen Innereien anfangen können, sind sie selbst Schuld".


    Mensch, man kann über Schreiben zur Erkenntnis kommen. Wieder was gelernt :zwinker:


    Grüße!

  • Hallo,


    ich bin auch sehr skeptisch bezüglich des möglichen autobiografischen Anteils (wobei Frau Roche auf der Lesung sogar sagte, dass ca 70 % autobiografisch sind...).


    Der Scheidungskonflikt ist ganz sicher nur eine Rahmenhandlung und zweifellos ein recht dünner Rahmen. Dennoch finde ich ihn gewichtiger als den Rest. Ohne diesen Rahmen wäre es tatsächlich nur eine bloße Aneinanderreihung des Anstößigen geworden, die einzig und allein Provokation zum Ziel haben könnte. Nun könnte man natürlich mutmaßen, dass der schmale Rahmen diesbezüglich lediglich eine mildernde Alibifunktion erfüllen soll. Allerdings glaube ich das nicht (und wenn, ist es mir auch egal :smile:). Denn dieser Rahmen bedingt den Rest doch erst. Ohne den Rahmen und ihre Gedanken wäre Helen bloß eine kleine, aufdringliche Göre mit altersspezifisch unrealistisch perversen Tendenzen. So hat man aber auch ein andeutend erklärendes Element, auch wenn es nur bei Vermutungen bleiben kann und es keine Lösung in dem Buch gibt. Hierdurch erst, durch die Andeutung der äußeren Umstände, davon, dass da etwas ganz gewaltig im Argen liegt, wirkt die Protagonistin auch verletzlich, kindlich und in sich zerrissen. Ihr Handeln bekommt auch eine nachvollziehbare Komponente. Plötzlich hat man es nicht mehr nur mit einer geilen Heranwachsenden, sondern auch mit einem tief verletzten, verunsichertem und enttäuschtem Kind zu tun. Mich hat der vergleichsweise bloß angedeutete Rahmen weit mehr beeindruckt und beschäftig, als irgendwelche Anal- und Vaginalgeschichten, die ich zu einem nicht geringen Teil lediglich als Resultat dessen betrachte. Was muss das für eine Mutter sein, die ihr kleines Mädchen ganz offensichtlich aus Gründen des Neids optisch entstellt? Was könnte vorgefallen sein, das einen Suizidwunsch- und versuch rechtfertigt (zumal ja nicht allein...)? Hing dieses Geschehnis vielleicht mit der Scheidung zusammen? Wenn ja, was war der Grund für die Scheindung? Warum weiß Helen nicht, was ihr Vater beruflich macht? Wie groß muss der Leidensdruck einer 18 Jährigen sein, wenn sie sich bewusst den größten körperlichen Torturen aussetzt, nur um ihre Eltern zu vereinen? Und was muss das Ergebnis einer solchen Familienstruktur sein? à Eine denkbare Antwort auf diese Fragen liefert die Figur Helen, mit all ihren „Taten“ und Gedanken, mit ihrem ganzen Gebaren. Für mich ein gestörtes Mädchen, das noch nicht weiß wohin mit sich (ich vermute allerdings, dass Frau Roche nicht diesen Eindruck vermitteln wollte. Schließlich beschreibt sie Helen als „sehr cool“ – auf mich wirkte sie jedoch alles andere als „cool“).


    Alles ist denkbar. Die Vermutung eines sexuellen Missbrauchs würde sich beispielsweise geradezu anbieten. Das ist jetzt nur eine Möglichkeit und auch keine, die ich unterstellen möchte (geht ja auch gar nicht :breitgrins:). Aber auch dieser Gedanke kam mir eben unter anderem beim Lesen (die Szene mit der Spucke des Vater. Die andere Stelle, in der sie sinngemäß sagt: „man muss den Dingen auf den Grund gehen, wie mein Vater es tut – so lange bis man kotzen muss“ usw.). Helens Verhalten würde teilweise durchaus zu einem verdrängten Missbrauch passen. Aber das ist wie gesagt nur eine Vermutung, nur eine denkbare Erklärung von vielen möglichen. Wahrscheinlich ist es auch ganz falsch hier analysieren zu wollen. Vermutlich gibt es gar kein „Dahinter“ und man sollte hier nichts überbewerten, sondern die Sätze nehmen wie sie eben da stehen und gut. Aber genau das war für mich das Interessante an diesem Buch, das war es, was mir daran den Lesespaß bereitet hat.


    Ohne diesen ganzen „Rahmen“ wäre das Buch für mich persönlich wert- und reizlos gewesen. Ich hätte es sicherlich nicht zuende gelesen.


    Den pubertären Widerspruch meine ich auch in Helen zu erkennen (gut, das gibt es nicht nur in der Pubertät, aber da ist es doch ganz typisch). Verletzlichkeit und Forschheit, allgemein Denken und Handeln widersprechen sich zum Teil stark. Und auch ich bin eigentlich der Meinung, dass sie professionelle Unterstützung bräuchte.


    Allerdings muss ich gestehen, dass ich nicht ganz sicher bin, inwiefern die gelungerenen Aspekte überhaupt bewusst entstanden sind... :breitgrins: (auch wenn das jetzt furchtbar böse klingt...)


    Ach, eigentlich wäre dieses Buch doch eine intensivere Analyse wert. Oder vielleicht doch auch eine Analyse dessen, was ich mir zwecks Erhaltung des Lesevergnügens wann wie selbst konstruiert habe :breitgrins:.


    Liebe Grüße
    Tia

  • Hallo Tia,


    deine Analyse ist wirklich sehr interessant. Allerdings fürchte auch ich, dass Charlotte Roche nie so weit gedacht hat, als sie das Buch schrieb. Dazu stehen ihre Selbstaussagen zu sehr im Widerspruch dazu. Eigentlich schade. Aber man kann ein Buch ja lesen und verstehen, wie man will (zumindest bis zu einem gewissen Grad). Vielleicht sollte man das Buch unter dem Aspekt der inneren Zerrissenheit doch mal als Schullektüre ins Auge fassen. Aber da würden einem wahrscheinlich hunderte entrüstete Eltern die Tür einrennen. Also lassen wir das lieber und bleiben bei konventioneller Literatur. :breitgrins:


    Ich würde das gute Stück ja unter deinem aufgezeigten Aspekt nochmals lesen, aber ich fürchte, ich kriege die wirklich anstößigen Szenen nicht noch einmal runter...


    LG

  • Hallo Lidscha,


    ja, ich befürchte auch, dass meine Gedankengänge dazu gar nicht im Sinne und der Absicht der Autorin sind. Allerdings weiß ich von einer Freundin, dass ihr beim Lesen ganz ähnliche Dinge durch den Kopf gegangen sind. Sie studiert Literaturwissenschaften, vielleicht bekommt sie ja mal Lust auf eine Analyse (das würde michs sehr interessieren).


    Das Gedankenspiel, Feuchtgebiete als Schullektüre, habe ich ich übrigens auch gewagt :breitgrins:. Ich bin zwar keine Lehrerin, teile aber dennoch Deine Befürchtungen und nehme an, dass das die meisten Eltern nicht gerade erfreuen dürfte :breitgrins:. Obwohl ich mir eine elterliche Unterstützung bei den Hausaufgaben in diesem Fall wirklich sehr interessant vorstellen würde... Ich glaube, mir hätte das als Schülerin viel Spaß gemacht :breitgrins:.


    Liebe Grüße
    Tia

  • Hallo Ihr Lieben,


    ich habe das Buch mittlerweile zu einem großen Teil als Hörbuch gehört und bin sehr erstaunt, hier so viele positive Stimmen zu hören. Für mich ist das Buch eine Aneindanderreihung an Ekligkeiten, mit Natürlichkeit hat das nur begrenzt zu tun. Natürlich ist Schweißgeruch natürlich und selbstverständlich ist es nicht schlimm wenn man an einem warmen Sommertag nach Schweiß riecht. Muss ich das aber lieben? Und dann behaupten, dass ich es nur deshalb nicht liebe, weil die böse Gesellschaft mir mein ganzes Leben lang das Gegenteil eingebleut hat? Meiner Meinung nach nicht. Und ich muss mich deswegen auch nicht tagelang nicht waschen damit Männer mich "durch die Hose riechen" und so mittels Sexualduftstoffen von mir und meiner Weiblichkeit "überzeugt" werden. Wäre doch nett wenn uns noch etwas von Tieren unterscheiden würde. Das Verhältnis zur Sexualität der Protagonistin ist für mich zudem sehr unglaubwürdig. Ein 18-jähriges Mädchen, das in diesem Alter schon auf eine Reihe von Liebhabern und den ausgefallensten Sexualpraktiken zurückblickt ist für mich sehr unrealistisch. Die Art und Weise, in der Helen Sexualität konsumiert passt eher auf eine Frau ab Mitte 20, die ihren Körper kennt und nicht in einem vollkommen chaotischen pubertären Gefühlschaos steckt. Dieses Buch als Lektüre für Teenager? Bitte nicht. Mit Aufklärung hat dieses Werk wenig zu tun und für einen Heranwachsenden würde ich mir wünschen, dass Liebe und Sex in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen und nicht alles vollkommen egoistisch und voneinander losgelöst gelebt wird.



    Warum soll dieses Werk zudem emanzipatorische Ansätze haben?

    -Um Frauen zu zeigen, dass sie nicht nur mit rasierten Beinen, geruchlos und ohne sonstige optische Mängel liebenswert sind? Das sollte mittlerweile wirklich bekannt sein. Und die Frauen, die sich Männern bei Licht nicht unbekleidet zeigen, weil sie nicht perfekt sind verdanken dies nicht ausschließlich unserer Gesellschaft. Viele (die meisten?) Frauen wachsen in der gleichen Gesellschaft auf und haben diese Probleme überhaupt nicht.


    -Um klarzumachen, dass man über natürliche Körpervorgänge oder Sex offener sprechen sollte? Ich bin der Meinung, dass selten offener über Sexualität gesprochen wird als in der heutigen Zeit. Unter Freunden ist das heutzutage selten ein Problem und weitreichender muss man das doch auch nicht. Nicht aus Scham, sondern aus einem Verlangen nach Intimsphäre. Genau das selbe gilt für andere Körpervorgänge, z.B. die Menstruation. Natürlich muss man sich dessen nicht schämen, aber muss man deswegen

    ? Finde ich nicht. Und muss ich nicht. Habe nicht das geringste Bedürfnis dazu. Und finde es nicht emanzipiert, so etwas zu tun.


    -Um zu verdeutlichen, dass auch Frauen sich durchaus vulgär ausdrücken dürfen? Tun sie doch - wo und wann es passt! Wenn sie es denn selbst wollen.


    Momentan sieht es für mich nur nach einer Geschichte aus, die dem Voyeurismus eine geeignete Plattform bietet und mit der sich somit eine Menge Geld verdienen lässt. Tiefgang ist für mich derzeit nicht ersichtlich. Als Pornografie würde ich es auch nicht unbedingt bezeichnen...na ja, vielleicht doch. Erotische Lektüre (als die es auch schon angepriesen wurde) ist es jedenfalls auch nicht, für diese Empfindung muß man schon ziemlich speziell sein.



    Ich bin gespannt, ob sich meine Meinung in den letzten Zügen noch ändern wird...


    LG
    Bianca


  • Und die Frauen, die sich Männern bei Licht nicht unbekleidet zeigen, weil sie nicht perfekt sind verdanken dies nicht ausschließlich unserer Gesellschaft. Viele (die meisten?) Frauen wachsen in der gleichen Gesellschaft auf und haben diese Probleme überhaupt nicht.


    Aber wieso sind diese Frauen denn überhaupt der Meinung, dass sie nicht perfekt sind? Wer hat denn festgelegt, wie der perfekte Körper aussieht?

  • Hallo adia,


    ich habe mal einen Bericht darüber gesehen was Schönheit wissenschaftlich gesehen ausmacht und dass hierbei Symmetrie eine große Rolle spielt. Ansonsten ist es natürlich, worauf Du vermutlich herauswillst, unsere Gesellschaft. Momentan sind eben schlanke Frauen in Mode, früher waren es auch oft kräftigere (wo heutige Schönheiten als knochig und schlecht genährt gelten würden). Es gab also schon immer einen Maßstab für Schönheit und schon immer Frauen, die diesen nicht erreichen konnten. Und schon immer war es wichtig, dass dieser Maßstab nicht allgemeingültig ist und das persönliche Selbstwertgefühl so wenig wie möglich beeinträchtigen sollte.


    LG
    Bianca