Christoph Marzi - Lycidas

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    "Die Welt ist gierig, und manchmal verschlingt sie kleine Kinder mit Haut und Haaren"


    Es geschehen seltsame Dinge in London. Im Waisenhaus des grausamen Mister Dombey traut die kleine Emily Laing ihren Augen nicht, als sie eines Morgens in der Küche von einer Ratte angesprochen wird, die sich ihr höflich als Lord Hironymus Brewster vorstellt. Eine Sinnestäuschung? Nein, denn bald darauf bleibt Emily nichts anderes übrig, als an die Existenz von wundersamen Wesen zu glauben - als sie nämlich Zeugin wird, wie ein Werwolf eines der Mädchen aus dem Schlafsaal für Neuzugänge stiehlt. In Begleitung der Ratte - sowie eine Elfen namens Maurice Micklewhite und des mürrischen Alchemisten Wittgenstein - macht sich Emily auf die Suche nach der verschwundenen Mara. Die Spur führt die Gefährten in die Uralte Metropole, eine geheimnisvolle Stadt unter der Stadt, ein dunkles, gefährliches Reich, in dem gefallene Engel hausen und antike Gottheiten über das Schicksal der Menschen walten. Doch was steckt wirklich hinter den Kindesentführungen, von denen London regelmäßig heimgesucht wird? Und wer ist der mysteriöse Herrscher der Uralten Metropole, der sich Lycidas nennt?


    Emily Laing ist ein Waisenkind. Ein Waisenkind mit einem Glasauge. Emily verbrachte ihr ganzes Leben in dem Waisenhaus Rotherhithe, das der üblen Gestalt von Mr. Dombey gehört. Ihre einzigen Freunde sind ihr Stoffbär, den ihr Mrs. Philbrick schenkte als ein Rohrstock, der eigentlich nicht für Emily bestimmt war, sie mitten im Gesicht traf und ihr dabei ihr Augenlicht raubte, und die dunkelhäutige Aurora Fitzrovia, die ebenfalls das Schicksal eines Waisenkindes teilt. Eines Tages überschlagen sich die Ereignisse, als Lord Brewster, eine Ratte, das Mädchen anspricht und ihr aufgibt, auf den Neuzugang Mara acht zu geben. Verängstigt und verwirrt muss Emily mit ansehen, wie ein Werwolf die kleine Mara entführt und ehe sie sich versieht, steht sie im Mittelpunkt von mysteriösen Zufällen. Aber: Zufälle gibt es nicht, wie Wittgenstein zu sagen pflegt…


    "Lycidas" ist ein phänomenales Werk. Es ist perfekt gestaltet und wohl überlegt. Emily und Aurora machen sich in Begleitung von ihren Gefährten in die Uralte Metropole auf, um einem uralten Geheimnis aufzulauern. Dabei geschehen wundersame Dinge, skurrile Gestalten kreuzen ihren Weg und sie geraten immer tiefer in die verstrickte Geschichte hinein.


    Dieses Buch ist nicht in ein bestimmtes Genre einzuordnen. Wenn überhaupt, dann passt es am ehesten zur phantastischen Literatur. Hat man es einmal zur Hand genommen, so kommt man nur schwer davon los. Der Leser fühlt mit der Geschichte, die Spannung packt zu und lässt nicht mehr so schnell los. Dabei ist vor allem das selbständige Denken gefordert. Man ertappt sich oft dabei, wenn man in den Gedanken die Geschehnisse noch einmal durchgeht und versucht, auf des Rätsels Lösung zu kommen. Ein besonderes Schmankerl ist die scheinbar zufällige Verwendung von Namen aus Dickens-Werken und die hin und wieder zufällig ähnelnden Handlungen zu Dickens- und Gaiman - Romanen. Aber wie schon gesagt: Zufälle gibt es nicht!


    Christoph Marzi ist hiermit ein besonderes Werk gelungen und man darf gespannt sein auf die Fortsetzung. 5ratten


    EDIT: Amazonlink eingefügt. LG, Saltanah

    Einmal editiert, zuletzt von Saltanah ()

  • Das Buch hab ich mir erst kürzlich gekauft!!! Freue mich auch schon sehr darauf, weil ich Neverwhere von Neil Gaiman auch sehr mochte - und je mehr Dickens-Anspielungen umso besser :breitgrins: .
    Allerdings überlege ich, ob ich mit dem Lesen nicht warte, bis der zweite und dritte Teil auch draußen sind - weil wer weiß, wie lange ich dann warten kann?!

    Jahresziel: 2/52<br />SLW 2018: 1/10<br />Mein Blog

  • Wer einen Roman erwartet, indem es Drachen und Zwerge, Elfen und Orks gibt, indem Schlachten geschlagen, Helden geboren werden, indem das Gute strahlend und das Böse dunkel sind, der wird von diesem Roman enttäuscht sein. Hier begegnen dem Leser Figuren, die er schon lange kennt, aus Religion und Mythologie, Legenden und Märchen. Und doch setzt Christoph Marzi diese Kreaturen in einen neuen, überraschenden Zusammenhang, verändert das Attribut, das ihnen gegeben wurde, findet neue Erklärungen für Exsistenz und Handeln dieser Wesen.


    Lycidas ist nicht einfach nur spannend, es ist in einer wunderbaren Sprache geschrieben, herrlich alt und doch jung, so vielfältig. Manche Ausdrücke oder Redewendungen habe ich schon lange nicht mehr gehört und doch sind sie in dem Buch so selbstverständlich. Und Lycidas ist ein Buch zum Nachdenken, soviel Philosophie ohne erhobenem Zeigefinger und das in einem Fantasy-Roman.


    Allerdings muß man sich auch auf das Buch einlassen wollen. Es entwickelt sich manchmal gemächlich und wird dann rasant, nur um wieder gemächlich zu werden. Und es läßt sich nicht in kleinen Häppchen lesen. Dieses Buch verlangt vom Leser Aufmerksamkeit und Zeit, es fordert Umdenken und anders sehen lernen. Lycidas ist alles in allem ein Lesegenuß der ganz besonderen Art, Fantasy für Leser, die normaler Fantasy nichts abgewinnen können, Märchen für Realisten. Ein zeitloses Buch, daß zwischen Gestern und heute eine ungewöhnliche Brücke schlägt und einen Leser zurücklässt, dessen Sicht auf die Dinge sich vielleicht sogar verändert hat.



    5ratten

    Liebe Grüße<br />Galadriel<br /><br />Das Lächeln ist eine Kurve, die manches gerade biegt.

  • Hi!


    Hier kommt meine Rezi zu dem Werk:


    Inhalt:
    Die elfjährige Emily Laing, die in einem Londoner Waisenhaus ein klägliches Dasein fristet, wird von einer Ratte um Hilfe gebeten: Sie soll ein Auge auf die kleine Mara Mushroom haben, die im selben Waisenhaus wohnt. Als Mara von einem Werwolf entführt wird, ist das für Emily der Startschuss, aus ihrem traurigen Dasein auszubrechen: Sie flieht Hals über Kopf ins winterliche London, wo sie bald die Bekanntschaft von Mortimer Wittgenstein macht. Wittgenstein ist ein Alchemist, der keine Kinder mag, aber trotzdem den Auftrag bekommt, sich um Emily und ihre beste Freundin Aurora Fitzrovia zu kümmern. Emily Wittgenstein und den Ratten helfen, die entführte Mara wiederzufinden, die man in den Fängen von Master Lycidas vermutet, der die Stadt unter der Stadt, also das unterirdischen London, beherrscht.


    Meine Meinung:
    Wer oben stehende Inhaltsangabe schon kompliziert findet, sei gewarnt: Das Buch selber ist es auch. Christoph Marzi entführt die Leser in eine Welt, in der von Anfang bis Schluss nie ganz klar ist, wer denn jetzt die Guten und wer die Bösen sind, wer was verheimlicht und wer die Wahrheit sagt. Auch sonst gibt er sich kräftig Mühe, seine Leserschaft zu verwirren: Die Beschreibung der Zustände in Emilys Waisenhaus klingt sehr nach 19. Jahrhundert, und plötzlich ist von U-Bahnen die Rede. Nicht so schlimm, denkt man sich anfangs. Aber das hat Methode und zieht sich durch das ganze Buch. Immer wieder wird man aufs Glatteis geführt und entwickelt mit der Zeit ein gewisses Misstrauen gegen das Buch und die Charaktere, die darin vorkommen.
    Ein weiteres auffälliges Merkmal von «Lycidas» ist, dass Marzi immer wieder mal Andeutungen macht, die dann erst sehr viel später aufgelöst werden. Ich habe das als ziemlich nervtötend empfunden, das Buch wäre auch ohne solche Kunstgriffe spannend genug. «Lycidas» ist für mich ein Buch, bei dem man sich im ersten Durchgang fast ein bisschen quälen muss, das aber beim zweiten Lesen sehr viel Spass machen könnte, weil man dann bei den Andeutungen weiss, worauf das Ganze hinausläuft und nicht gnadenlos in der Luft hängen gelassen wird. Ständig offene Fragen zu haben (die man sich nicht selber stellt, sondern die einem vom Autor aufgezwungen werden), schmälert in meinen Augen das Lesevergnügen beträchtlich.
    Aber genug der Kritik, «Lycidas» würde nicht vier Ratten bekommen, wenn es ein schlechtes Buch wäre. Die positiven Aspekte sind beispielsweise die Charaktere. Sie sind fast durchgehend sympathisch, was auch daran liegt, dass auch die «Bösen» ihre guten Seiten haben und die «Guten» nicht perfekt sind. So ist der Ich-Erzähler Wittgenstein ein ziemlicher Griesgram, allerdings mit einem guten Herzen. Und bei Master Lycidas weiss man bis zum Schluss zwar, dass er vor allem seine eigenen Interessen verfolgt, aber ob er jetzt ein «Guter» oder ein «Böser» ist, möchte ich nicht entscheiden. Jedenfalls sind die Charaktere vielschichtig und schön ausgearbeitet, glaubwürdig.
    Gewöhnungsbedürftig ist die Erzählperspektive: Das Geschichte wird von Wittgenstein erzählt. Lustigerweise auch dann, wenn er gar nicht zugegen ist. Er erzählt von Dingen, die erst im Nachhinein erfahren hat oder die er eigentlich gar nicht wissen kann, wie wenn er dabei gewesen wäre. Aber das ist eben auch «Lycidas»; Verwirrung überall. Wie wenn das alles noch nicht reichen würde, kommt noch eine reichlich komplizierte Geschichte dazu: Es geht zwar in dem Buch grundsätzlich darum, Mara Mushroom wiederzufinden, gleichzeitig erforschen die Charaktere aber noch alte Legenden und die Geschiche Londons gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Dazu kommen noch Intrigen, Lügen, Politik und falsche Spuren und man kann als Leser nie sicher sein, ob das, was man erfährt, wahr ist oder ob es ein paar Seiten weiter hinten wieder über den Haufen geworfen wird.
    Wer sich darauf einlässt, wird seinen Spass an «Lycidas» haben, die anderen werden das Buch entnervt in die Ecke werfen.
    «Lycidas» ist ein spezielles Buch und es ist schwer zu sagen, wem es gefallen könnte und wem nicht. Wer Fantasy mag, sollte ihm eine Chance geben. Für Kinder ist es aber definitiv nichts, dazu ist es zu kompliziert und auch zu brutal, auch wenn zwei der Hauptfiguren selber Kinder sind. Davon sollte man sich nicht täuschen lassen.


    4ratten


    Gruss


    Alfa Romea

    Wer anderen folgt, wird nie zuerst ankommen.

  • Huhu,

    Meine Meinung:


    Waisenkind Emily Laing ein 13jähriges Mädchen, das im Waisenhaus von allen nur "Missgeburt" wegen ihres fehlenden Auges genannt wird und deren einzige Freundin das "Schokoladenmädchen" Aurora ist, stolpert unvermutet in eine unglaubliche Geschichte. Zuerst wird Emily von einer Ratte, die sich Lord Brewster nennt, angesprochen, und dann wird auch das Kleinkind Mara von einem Werwolf aus dem Waisenhaus geraubt. Emily macht sich auf die Suche und schließlich nimmt sich der Eigenbrötler und Alchemist Wittgenstein des Mädchens an. Emily muss erkennen, dass in London nicht so ist, wie es auf den ersten Anblick erscheint.


    "Lycidas" ist eine Mischung aus Fantasy & Horror, Krimi & Abenteuer. Das Buch erinnert in der Dichte des Erzählstils und der einerseits modernen, andererseits absichtlich alt anmutenden Sprache an Bücher von Charles Dickens, doch auch Motive von John Milton, Gustav Meyrink, Neil Gaiman oder Oscar Wilde können aufmerksame Leser/innen in ganz neuem Gewand entdecken. "Lycidas" muss man vermutlich mehrmals lesen, um alle Anspielungen und Zitate auf Literatur und Film entdecken und verstehen zu können. Die Charaktere, die Christoph Marzi erschaffen hat, sind skurril, humorvoll, mutig, bösartig und manchmal schizophren: Allen voran die Figuren, die sich aus mehreren literarischen Vorbildern zusammensetzen.


    Der Autor ist kaum zu bremsen, bringt auf jeder Seite eine neue Idee unter, und dennoch fordert das Buch auch einen langen Atem, fordert Geduld. Anspielungen auf weitere Handlungsstränge werden hunderte von Seiten vor der dazugehörenden Auflösung gemacht. Die eigene Neugierde, die das Buch wiederum vorantreibt, wird so oft erst spät befriedigt. Ein weiteres Stilmittel des Autors ist das fast ständige Wiederholen bestimmter Phrasen. Das kann manchmal auch ganz schön nerven. Andererseits ist "Lycidas" ein einziger Genuss und ich ertappte mich oft dabei, dass ich Sätze mehrmals und extra langsam weiterlas, damit der über 800 Seiten starke Wälzer nicht so schnell ein Ende nahm. Die Atmosphäre ist oft sehr düster, viele Beschreibungen brutal. Auch wegen der vielen literarischen Anspielungen und der anspruchsvoll-anstrengenden Sprache ist das Buch nicht für Kinder geeignet, sondern spricht eher Erwachsene und ältere Jugendliche an.


    Sehr positiv ist auch, dass "Lycidas" zwei Fortsetzungen folgen werden - das Buch bietet aber ein in sich stimmiges Ende. Ein Feuerwerk an Ideen, für das man aber auch in der richtigen Stimmung sein muss. Aber dann ist das Buch für mich absolut empfehlenswert.


    5ratten


    Liebe Grüße
    nimue

    Rechtsextremismus ist wieder salonfähig gemacht worden, durch CDU/CSU und FDP.

    Einmal editiert, zuletzt von nimue ()

  • Es sind eigentlich alle Aspekte zu Lycidas bereits aufgezählt. :smile:


    Hinzufügen kann ich eigentlich nur, daß dieses Buch eindeutig das Beste ist, das ich im Jahr 2005 gelesen haben. Es ist fast unmöglich zu toppen und bekommt von mir natürlich volle fünf Ratten


    5ratten

  • Mir hat das Buch auch sehr gut gefallen, kann mich also nur den bisherigen Meinungen anschliessen. Nur den Anfang fand ich ein wenig verwirrend, bin aber froh, dass ich dabei geblieben bin.
    Ich freue mich schon auf den Folgeband! Der soll doch im Dezember kommen, oder?
    Von mir gibt es auch 5 Leseratten. :smile:
    5ratten

  • Ok, ihr habt es geschafft


    ICH MUSS DIESES BUCH HABEN !!!


    Eigentlich wollte ich diesen Monat aus kronischem Geldmangel keine aber wirklich keine Bücher kaufen :sauer:


    Aber bei soviel Lob über dieses Buch konnte ich nicht anderst und hab es eben bei Amazon bestellt, da meine Bibliothek es nicht hat :grmpf:

    Lieber barfuß als ohne Buch. <br />(Isländisches Sprichwort)<br /><br /><br />:leserin:

  • Ich habe das Buch jetzt auch gelesen.
    Nachdem dessen positive Seiten (die interessanten Figuren, der Ideenreichtum, die Grautöne, die Überraschungen und Schocks) von euch schon so ausführlich besprochen und gelobt worden sind, werde ich hauptsächlich meine Kritikpunkte darlegen.


    Der Stil:
    Der etwas altmodische Stil mit manch altertümlicher Wortwahl, in dem Wittgenstein die Geschichte erzählt, hat mir gut gefallen, und er passt auch gut zum Erzähler. Leider wurde an einer Stelle etwas "außen vor gelassen", was zum restlichen Stil überhaupt nicht passt.
    Auch das Stilmittel der oft abgehackten, sehr kurzen und unvollständigen Sätze gefiel mir anfangs. Im letzten Drittel begann es mich allerdings zu nerven, und während der letzten 150 Seiten fand ich es nur noch ätzend.
    Enervierend.
    Dieser Stil!
    Zu viel des Guten.
    Bei jeder neuen Stelle dieser Art habe ich nur noch die Augen verdreht und geseufzt.
    Eigentlich ein gutes Stilmittel, das aber leider durch übermäßigen Gebrauch abgenutzt wurde und seinen Effekt verlor.


    Gewisse Formulierungen:
    Immer wieder bin ich über Ausdrücke "gestolpert", die meiner Meinung nach nicht stimmen. Einige Beispiele:
    - "ein kleines Kind, dass mit den unsicheren Schritten einer Dreijährigen auf sie zuwankte"
    Die Dreijährigen, die ich kenne gehen sicher und wanken keinesfalls.
    - "Wenngleich Dorian kaum älter als zwanzig sein durfte, wirkte er doch erwachsen."
    (Dies sind Emilys Gedanken, die Dorian mit Neil vergleicht.) Für eine 12-jährige ist ein 20-jähriger erwachsen.
    - Eine vor kurzem erblindete Person besucht bekannte Räumlichkeiten zum ersten Mal nach Erblindung: "Die Leselampe, die sie hatte ertasten müssen."
    Wieso muss eine blinde Person eine Lampe ertasten? Etwa um sie anzuknipsen? Klar, sie kann die Lampe nicht mehr sehen, aber sie benötigt sie ja nicht, also kann von müssen nicht die Rede sein.
    Alles dies sind natürlich Kleinigkeiten, die mich aber im Lesefluss immer wieder unterbrochen haben, und die in ihrer Summe meine Beurteilung des Buches negativ beeinflussen.


    Die Wiederholungen:
    Als äußerst unnötig und störend empfand ich auch die häufigen Wiederholungen. Ich habe leider keine Strichliste darüber geführt, wie oft z. B. Emilys und Auroras erster Kontakt geschildert wurde. Auch der erste Satz des Buches, der eigentlich wunderbar ist, wurde etwas zu häufig in Variationen oder wörtlich wiederverwendet. Und bei der Formulierung "... betrat er durch das dortige Portal die Stadt unter der Stadt, wie sie von den Alten genannt wurde" habe ich geschrien. Auf Seite 773 ist diese Information nun wirklich nicht mehr nötig, da schon des öfteren geliefert. (Dies nur als Beispiel, ich könnte noch einige weitere liefern.)


    Die Namen:
    Auch die Namensgebung gefiel mir anfangs sehr. Ich liebe es, wenn in ein Buch Hinweise auf andere Bücher eingebaut werden, um so mehr, wenn viele dieser Namen aus Werken meines geliebten Charles Dickens stammen. Aber leider waren einige der Namen zu "sprechend", sie verrieten zu viel über die Person. Wer "Das Bildnis des Dorian Gray" gelesen hat, und außerdem James Steerforth aus Dickens "David Copperfield" kennt, weiß, was von Dorian Steerforth zu halten ist. Das ist schade, denn dadurch entgeht den LeserInnen eine Überraschung.


    Die Länge:
    Siehe auch "Die Wiederholungen". Es war insgesamt zu lang. Eine Straffung und Kürzung hätte ihm meiner Meinung nach gut getan. Ich nehme an, dass ein Teil des Problems sich dadurch erklärt, dass es als Trilogie geplant war, und erst auf Wunsch des Verlags zum Einteiler überarbeitet wurde. Drei 300 Seiten-Bücher hätten mir besser gefallen, als dieses doch sehr dicke Monstrum, das außerdem noch unbequem zu halten war.


    Die Tragik:
    Zu einem wirklich gelungenen Buch, gehören für mich unabdingbar tragische Szenen dazu. Auch wenn diese schwer zu lesen sind und kein Feel Good verbreiten, verleihen sie doch einem Buch Tiefe und eine weitere Dimension. Nun gibt es in "Lycidas" ja einige wirklich tragische Szenen, die für mich zu den besten Stellen des Buches gehören, nur werden diese im weiteren Verlauf leider wieder aufgehoben. Gut für's Happy End, schlecht für meine Beurteilung.



    So, jetzt habe ich genug gemeckert. Ich möchte betonen, dass mir das Buch nicht etwa schlecht gefallen hat; es war insgesamt recht gut (an einzelnen Stellen sogar sehr gut), hätte aber insgesamt noch viel besser sein können.
    Von mir gibt's
    3ratten
    Lange wollte ich 4 Ratten vergeben, aber eine Ratte ging auf den letzten 150 Seiten verloren, als das Lesen aufgrund des nervenden Stils zur Qual wurde.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • @ Saltanah:


    Nachdem auch ich jetzt "Lycidas" durchpflügte, einige Anmerkungen zu Deinen Kritikpunkten:


    Ich stimme zu, daß der Erzählstil im letzten Drittel ein bißchen zu sehr vorwärts, rückwärts, seitwärts hüpft und ständig Ereignisse geschildert werden, deren Ergebnis schon (mehrfach) vorweggenommen wurde. Dem Leser wird dadurch z.B. die Spannung genommen, ob jemand befreit werden kann und er kann nur noch darauf gespannt sein, wie das geschieht und was dabei sonst noch passiert.


    Möglich, daß das Spiel mit den Wiederholungen ein wenig überstrapaziert wird, doch andererseits ist das ein Zugeständnis an die viktorianische Erzähltradition, zu deren Wesen düstere, unheilschwangere Ankündigungen und emotionale Einsprengsel des an der Handlung teilnehmenden, aber aus dem sicheren Nachhinein erzählenden Chronisten gehören. Auch die Länge des Buches läßt sich als Homage an den Umfang viktorianischer Schmöker betrachten.


    In "Lycidas" wird die altertümliche Chronistenperspektive u.a. mit der modernen Bewußtseinsstromtechnik gemischt. Dieselbe Geschichte wird sowohl aus dem Nachhinein als auch parallel dazu aus wechselnden Blickwinkeln erzählt. Bei einer filmischen Umsetzung würde eventuell so etwas herauskommen wie in *Pulp Fiction* oder *Die üblichen Verdächtigen* - wenn man es sehen kann, stört es einen meist viel weniger, daß einem mehrfach das Gleiche erzählt wird, nur jedes Mal etwas anders und die Wahrheit immer mehr zur Frage unterschiedlicher Wahrnehmungsweisen wird.


    Daß zu sprechende Namen vorkommen, ist in meinen Augen nicht störend. Der Leser weiß dadurch etwas, das den Protagonisten noch verborgen ist und kann beargwöhnen, daß z.B. eine Bekanntschaft tragisch enden wird. Verstärkt dieses Wissen die Tragik nicht eher, schließlich ist das Buch eine phantastische Erzählung und kein Krimi, bei dem es zum Spiel zwischen Autor und Leser gehört, versteckte Indizien zu liefern und die Leser raten zu lassen, wer der Mörder ist? Auch wenn Anubis hin und wieder Sir Arthur Conan Doyle zitiert.....


    Bei den von Dir bekrittelten Formulierungen stimme ich Dir bei den ersten beiden so halb und halb zu. Sie sind schief und gehen m.E. knapp an dem vorbei, was eigentlich gemeint ist.
    - Emily versucht Dorian, den sich jungenhaft gebenden Helden, altersmäßig einzuschätzen. Er wirkt zugleich alt und jung, doch er bemüht sich um sie in einer Weise als wäre sie wesentlich älter als 13 Jahre. Und sie macht ihn für sich in Gedanken jünger, um sich in ihn verlieben zu können, d.h. sie versucht, den Altersabstand zwischen ihnen zu überbrücken. Das Schiefe ist in diesem Fall nur die zu hoch gegriffene, konkrete Altersangabe von *zwanzig Jahren*.
    - Desweiteren ist es in der geschilderten Situation durchaus verständlich und stimmig, wenn eine Dreijährige mit unsicheren (zögernden/schüchternen) Schrittchen auf eine ihr fast fremde Person zugeht. Das Schiefe daran ist der überdosierte, verallgemeinernde Ausdruck für die Gehweise - die Gehweise selbst ist korrekt.
    - Bei der von einer Blinden zu ertastenden Leselampe geht es jedoch nicht um die Leselampe selbst, sondern darum, daß eine Blinde alles um sich herum ertasten muß, um es zu erkennen. In der betreffenden Situation geht es um einen Tisch in einer Bibliothek. Solche Tische sind normalerweise leer - bis auf die Leselampe eben. Sie ist nur ein naheliegendes Beispiel für die Summe aller Dinge, die von nun an ertastet werden müssen.


    Ich finde nicht, daß die Tragik in dem Buch zu kurz kommt, nur weil die Auswirkungen einiger tragischer Szenen letztendlich wieder aufgehoben werden. An endgültigen Ereignissen mangelt es jedenfalls nicht, selbst wenn man vielleicht mögliche Fortsetzungen des Buches abwarten muß, um darüber ein gültiges Urteil fällen zu können. Von einem glücklichen Ende kann in meinen Augen nicht die Rede sein. Es langt nur zu einem brüchigen, unsicheren Waffenstillstand, bei dem aber so viele Fragen offenbleiben, daß weder die Protagonisten noch die Leser sich einreden können, der mühsam erreichte Status würde wirklich von Dauer sein. "Lycidas" klingt in einer Mischung aus Abschiedsstimmung und Hoffnungsschimmer aus, aber trotz des relativ guten Endes haben die Guten zu viele Verluste hinnehmen müssen, um wahrhaft fröhlich in eine verheißungsvolle Zukunft blicken zu können.

  • Ich habe heute damit angefangen, bin auf Seite 85 und schon restlos begeistert. Was für ein tolles Buch :klatschen:


    Wollte ich nur mal zwischendurch erwähnen :breitgrins:

  • Ich habe das Buch zwar nicht gelesen, aber ich wollte hier was posten, was die Leser und Fans eventuell interessiert, sofern sie es nicht schon wissen:
    Im Prospekt des Heyne-Verlages, in dem die Neuerscheinungen für 2005/2006 aufgelistet sind, steht auch die Fortsetzung von "Lycidas": "Lilith"


    Folgend die Beschreibung aus dem Prospekt.
    Grausige Dinge geschehen in London. Vier Jahre nach den Ereignissen, die Emily Laing und Aurora Fitzrovia die uralte Metropole haben entdecken lassen, bewahrheiten sich die Worte des Lichtlords: Alles wird irgendwann wieder leben. Erneut steigen die Waisenmädchen - in Begleitung des mürrischen Alchemisten Wittgenstein und des Elfen Maurice Micklewhite - in die Welt unterhalb Londons hinab, die besiedelt ist von Wiedergängern, ägyptischen Gottheiten, gefallenen Engeln, goldenen Vögeln und sprechenden Ratten. Tief hinab in den Schlund der Hölle führt sie der Weg, wo inmitten des Wüstensands die Asche einer Frau gefunden werden muss, die man einst Lilith nannte..."


    Das Buch erscheint Dezember 2005, also genau richtig zum Weihnachtsgeschäft.
    Wen's interessiert: ISBN 3-453-52135-8

  • Häh? Spinn ich jetzt? Hier war doch heute morgen noch eine Antwort von Saltanah (?) auf Garrisons Posting? :confused:

    Rechtsextremismus ist wieder salonfähig gemacht worden, durch CDU/CSU und FDP.

  • Zitat von "nimue"

    Häh? Spinn ich jetzt? Hier war doch heute morgen noch eine Antwort von Saltanah (?) auf Garrisons Posting? :confused:


    Stimmt, die habe ich auch gelesen!? Vielleicht hat Saltanah sie gelöscht?

    [size=9px]&quot;I can believe anything, provided that it is quite incredible.&quot;<br />~&quot;The picture of Dorian Gray&quot;by Oscar Wilde~<br /><br />:leserin: <br />Henry Fielding - Tom Jones<br /><br />Tad Williams - The Dragonbone Chair<br /><br />Mark Twai

  • Stimmt, die habe ich gelöscht. Beim nochmaligen Lesen hatte ich den Eindruck, dass sie vielleicht von Garrison falsch aufgefasst werden könnte, und da sie nicht wirklich wichtig war, habe ich sie wieder entfernt.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Ach, ich hab das nicht falsch aufgefasst (hatte nämlich die Möglichkeit, sie heute morgen noch zu lesen), ich sagte ja selbst: "was die Leser und Fans eventuell interessiert, sofern sie es nicht schon wissen", bin also davon ausgegangen, dass es bereits (einigen) bekannt ist.
    Trotzdem wollte ich es mal loswerden, weil ich es grad in dem Prospekt gelesen und den Thread hier gesehen hatte.

  • Ich möchte mal meinen Unmut ausdrücken, dass mir dieses Buch, seit ich beschlossen habe, es zu kaufen, in keiner Buchhandlung mehr begegnet. naja, vielleicht, wenn Lilith rauskommt.
    Ärgerlich finde ich das schon, ich wollte doch testen, ob es was für meinen Neffen ist...naja, kriegt der eben doch Pullman zu Weihnachten :rollen: