Iwan A. Bunin: Das Dorf

Es gibt 2 Antworten in diesem Thema, welches 2.749 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von tom leo.

  • Hallo,


    meine neunte Rezension im SUB-Wettbewerb 2007



    Iwan A. Bunin: "Das Dorf", Bruno Cassirer Verlag, Berlin, 1936, antiquarisch


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    Iwan A. Bunin erzählt von den Brüdern Tichon Iljitsch und Kusma Krasow. Der eine ein Kaufmann und Gutsbesitzer, der andere ein Möchtegernschriftsteller, der es aber auch zu nichts brachte. Ihre Familienkonstellation war auch nicht die Beste. Der Urgroßvater wurde von Windhunden zu Tode gehetzt, weil er die Geliebte seines Herrn absprenstig machen wollte. Der Großvater war ein Meisterdieb, der Vater ein Spekulant, der Pleite machte.
    An seine Mutter konnte sich Tichon kaum erinnern, eine schrumpelige alte Frau, die heimlich Schnaps trank.


    Das Leben war so stumpfsinnig und von solch einer Perspektivlosigkeit, dass er sein bisheriges Leben vergaß. Es lohnt sich ja nicht, sich an irgendwas zu erinnern, denn der gleiche Stumpfsinn ist jeden Tag. Bis nach Mokau ist er wegen den Schweinen nie gekommen, ins Birkenwälchen jenseits der Straße seit zehn Jahren nicht mehr.


    Die große Unzufriedenheit führt zu Gewaltausbrüchen. Sie brechen aus, vergehen wieder, und keiner fragt mehr danach. Sogar in manch Landschaftsbeschreibungen, von denen der Roman vorteilhaft zehrt, zeigt sich bedrohliches.


    Ein gefügeltes Wort von Kusma fasst das das ganze stumpfsinnige Leben zusammen:

    „Wort und Tat stimmen nicht überein. Das ewige russische Lied: Wie ein Schwein leben ist scheußlich, und doch lebe ich so und werde immer weiter so leben!“


    Wie die Armut am leeren Magen nagt zeigt auch eine Szene um den ärmsten Bauern des Dorfes, genannt „der Graue“, der ein Schwein, welches durch die Eisdecke des Dorteiches gesackt ist, retten wollte. Der Bauer sprang in den Teich hinterher. Er wollte das Tier retten.


    „Das Schwein ertrank trotzdem, der Graue glaubte, aber nun ein Recht zu haben, vom Teich nach dem Gesindehaus zu laufen und Schnaps, Tabak und Essen zu verlangen.“


    Iwan Bunin (1870 in Woronesch/ Rußland - 1953 in Paris/ Frankreich) gilt als letzter Vertreter der russischen literarischen Tradition des neunzehnten Jahrhunderts. Er kannte noch Tolstoi, Tschechow und Gorki. Aufgrund der Wirren nach der Oktoberrevolution floh er 1920 nach Paris. Auch im Exil blieb seine Literatur thematisch in Russland.
    Sein Roman „Das Dorf“ (1910) spiegelt den Untergang des alten traditionsreichen Russlands wieder. An einer Stelle heißt es:


    „Ganz Rußland ist ein Dorf – schreib dir das hinter die Ohren!“


    Soviel Tristesse kann ich nur verdauen, weil es gut geschrieben ist. Sogar in der deutschen Übersetzung kann man spüren, welch dichterische Kraft das Werk hat. Der Autor verzichtet auf jedes psychologisieren der Figuren, er erzählt einfach, wie es ist. Im strengen Sinne handelt es sich nicht um einen Roman. So gibt es keine Romanhandlung, die sich aufbaut bis zu einer Schlusswendung, eines Plots. Sondern wir lesen Bilder und Szenen. Ein Dorfleben wie eine Anreihung verschiedener Fotografien, wie eine Dorchronik, die vom Autor geschickt zusammengefügt wurden und so zu einem Ganzen wurden. Bunin sprach von einem „Poem“.


    4ratten


    Liebe Grüße
    mombour

  • Zugegebenermaßen bin ich sehr froh, daß mombour mir hier schon einen Teil der „Arbeit“ abgenommen hat, ich habe nämlich beim Lesen ständig überlegt, wie ich dieses Buch nun vorstellen soll ...


    Das Elend, die Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit des Daseins, die hier aus jeder Zeile tropfen, könnten den Leser wirklich depressiv machen, und das dies einerseits möglich ist, andererseits aber doch nicht passiert, liegt an der gelungenden sprachlichen Darstellung durch Bunin. Nach den letzten eher wenig erbaulichen Erfahrungen mit Literaturnobelpreisträgern auch jüngeren Datums war dies eine hochwillkommene Entdeckung. Wenngleich der Tonfall natürlich etwas altertümlich ist, schließlich ist das Werk von 1910, so wirkte es auf mich doch moderner und „frischer“ als dies z. B. bei Seferis der Fall war.


    Kusma und Tichon verkörpern zwei unterschiedliche, aber gleichermaßen zum Scheitern verurteilte Ansätze aus dem Dasein, das man nach heutigen Maßstäben kaum Leben nennen möchte, zu entfliehen. Tichon ist nicht von ungefähr Bauer, er würde gerne einen gut florierenden Hof mit Wirtschaft auf die Beine stellen, aber da er selbst sein bester Kunde ist, kann dies nicht gelingen. Die aufflammende Revolution mit ihren zerstörerischen Auswüchsen lehnt er allerdings ab. Kusma, als Händler ähnlich erfolglos wie sein Bruder als Bauer, läßt sich „absichtlich“ ins tiefste Elend sinken, um damit seine Nähe zum elenden Volk noch zu verstärken (allerdings wirkt diese Entwicklung weniger geplant als vielmehr unausweichlich). Das scheint ihm, der sich als Anarchist bezeichnet, ohne die Bedeutung des Wortes erklären zu können, ein notwendiges „Opfer“. Weiter als bis zur Unterstützung einiger Pöbelaktionen im Rahmen der Revolution 1905 als Maulheld reicht es bei ihm aber nicht.


    Wie mombour schon sagte, handelt es sich nicht um einen Roman im eigentlichen Sinne, da es keine entsprechende Handlung gibt. Aber als Sittengemälde und realistische Darstellung des ländlichen Rußlands um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist es durchaus eindringlich und hat sich für mich als lesenswert erwiesen.


    3ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:


    Schönen Gruß,
    Aldawen

  • Ich sehe mit Freuden, dass es hier noch andere Liebhaber von Bunin gibt. Darf ich Euch dann "Die dunklen Alleen" empfehlen, die ich hier:


    https://literaturschock.de/lit….msg318454.html#msg318454


    vorgestellt habe? Nach Bunins eigenen Worten handelte es sich um "sein bestes Werk".


    "Das Leben des Arseniev" ist ein immenser, mehrere Hundert Seiten starker Roman, stark autobiographisch orientiert. Hat mir ebenfalls sehr gut gefallen.


    Ssuchodol ist ebenfalls eine Verfallsstudie in einer Epoche, die unwiederbringlich verlorenging.


    Ein empfehlenswerter Autor!!!

    Gruß, tom leo<br /><br />Lese gerade: <br />Léonid Andreïev - Le gouffre<br />Franz Kafka - Brief an den Vater<br />Ludmila Ulitzkaja - Sonjetschka