Grimm's Märchen - zu brutal für Kinder?

Es gibt 76 Antworten in diesem Thema, welches 22.628 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von BigBen.

  • Hallöchen :winken:


    Ich hoffe mal, dass das Thema in dieser Kategorie richtig ist. Ansonsten: einfach verschieben :smile:


    Angeregt durch den Horror-Literatur-Thread in dem ja auch (von mir, das geb ich zu :zwinker:) die Märchen angesprochen wurden, machen wir hier doch gleich mal einen neuen Fred auf und fragen in die Runde:


    Sind die grimm'schen Märchen wirklich zu brutal für Kinder?


    Neulich in der Buchhandliung war ich auch dabei, wie eine Frau beraten wurde, und die Händlerin riet ihr ganz entschieden davon ab, empfahl stattdessen Andersen.
    Meine Oma, lustigerweise, ist jetzt auch auf diesen Trichter gekommen und liest meiner kleinen Cousine (3 Jahre) selbst-zensierte Versionen von Rotkäppchen vor ("warum hast Du denn so ein großes Maul?" "Damit ich dich besser... hören kann!!" ...?!?!) !


    Ich persönlich finde das übertrieben. Ich habe als Kind auch diese Märchen vorgelesen bekommen, aber psychisch krank bin ich davon jedenfalls nicht geworden (hoffentlich :zwinker:), einen Hang zur Gewalt hab ich nicht entwickelt (wie es die Briten nach dem 2. Weltkrieg glaubten. Man wollte Märchen tatsächlich verbieten, weil man dachte, die Deutschen wären dadurch auf solche kranken Ideen gekommen...) und ich hab mich vielleicht mal gegruselt, aber solche Angst, dass ich nicht mehr schlafen konnte hatte ich auch nie.


    Was meint ihr? Sind diese Märchen etwa nicht mehr mit unseren heutigen Moralvorstellungen vertretbar oder woher kommt dieser Hype plötzlich all diese Geschichten als zu brutal anzusehen?

  • Hi!


    Sind die grimm'schen Märchen wirklich zu brutal für Kinder?


    Ein häufig anzutreffender Irrtum: Grimms Kinder- und Hausmärchen sind nicht (alle) für Kinder gedacht. Waren es nie. Einige davon waren von Erwachsenen für Erwachsene ...



    Neulich in der Buchhandliung war ich auch dabei, wie eine Frau beraten wurde, und die Händlerin riet ihr ganz entschieden davon ab, empfahl stattdessen Andersen.


    Was höchstens beweist, dass die Frau Andersen nicht kennt ... Und Kinder wohl auch nicht ... Viele von Andersens Märchen enden traurig und haben dadurch z.B. mich als Kind viel mehr belastet als der Versuch der Hexe, den Hänsel zu mästen, oder ihr verdienter Tod im Ofen. (Den ich mir als Kind ja auch nicht in irgendwelchen Details vorgestellt habe!)


    Ich persönlich finde das übertrieben. Ich habe als Kind auch diese Märchen vorgelesen bekommen, aber psychisch krank bin ich davon jedenfalls nicht geworden (hoffentlich :zwinker:), einen Hang zur Gewalt hab ich nicht entwickelt (wie es die Briten nach dem 2. Weltkrieg glaubten.


    Was erwartest Du von Politikern? :smile: Ich glaube, wichtig ist hier das Vorlesen. Eltern werden so (und nur so!) schnell merken, wann das Kind überfordert ist.


    Was meint ihr? Sind diese Märchen etwa nicht mehr mit unseren heutigen Moralvorstellungen vertretbar oder woher kommt dieser Hype plötzlich all diese Geschichten als zu brutal anzusehen?


    Welches sind "unsere heutigen Moralvorstellungen" :zwinker: ? - Woher das kommt? Es ist wohl eine Spätfolge der 68er, als nur noch Gutmenschen-Literatur akzeptiert wurde. "Political Correctness" ist ja auch so eine Folge davon. Da wird ja z.B. heutzutage der Huckelberry Finn angeklagt, despektierlich Wörter für ... ähm ... was ist das aktuelle korrekte Wort? ... Schwarzafrikaner? ... zu verwenden ... :rollen:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Hallo


    Ich habe als Kind die Märchen von Grimm und Andersen gelesen und muss im Nachhinein sagen, dass mich die Märchen von Andersen viel trauriger gemacht haben, gerade weil sie oft keinen glücklichen Ausgang haben. Ich erinnere mich, dass ich bei der Lektüre von "das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern" bitterlich geweint habe, gerade weil es so traurig endet.


    Kinder wollen wenigstens die Bestätigung, dass die Welt im Inneren heil ist oder zumindest heil gemacht werden kann. Die unbewusste Identifikation mit den Märchenfiguren fordert das geradezu.


    Ausserdem haben auch Kinder Gewaltphantasien, die auf diese Weise beim Vorlesen ihren Schrecken verlieren.


    Viel schlimmer trifft sie eine gewisse Ausweglosigkeit, wie sie öfters bei Andersen auftaucht.


    In den 70er Jahren gab es ein bekanntes Buch von dem berühmten Kinderpsychologen Bettelheim. "Kinder brauchen Märchen" hiess es, glaube ich. Darin setzt er sich auch sehr kompetent mit dem Gewaltvorwurf auseinander.


    Ralf

  • Und was die PC angeht, da könnte man Bücher darüber schreiben.


    Ich halte sie für eine der schlimmsten Formen der Zensur überhaupt und habe schon in meinem Studium dagegen angekämpft.


    Ralf

  • Kinder wollen wenigstens die Bestätigung, dass die Welt im Inneren heil ist oder zumindest heil gemacht werden kann.


    Schön gesagt, danke!


    Bettelheim. "Kinder brauchen Märchen"


    Meinst Du das hier:

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    ?


    Ich halte sie für eine der schlimmsten Formen der Zensur überhaupt


    Noch schöner gesagt ... :klatschen:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Also jetzt im nachhinein finde ich schon, dass einige Stellen in Grimms Märchen ziemlich brutal sind, aber ich weiß ganz genau, dass ich als Kind nie irgendetwas schlimm fand oder von irgendetwas erschüttert war. Noch nicht mal als sich Rumpelstilzchen am Ende selbst entzwei reißt! :zwinker:


    Und die Versionen der Gebrüder Grimm sind ja schon sehr kinderfreundlich. Als ich in der Schule mal die Rotkäppchen Version von Perrault gelesen habe, war ich schon etwas entsetzt, denn da legt sich Rotkäppchen erstmal nackt zum Wolf ins Bett und schlecht geht es auch aus!


    Und ja Andersen...schlimm fand ich auch immer Die kleine Meerjungfrau. Am Ende war alles umsonst und sie hatte auch noch solche Schmerzen. :traurig:

    [size=9px]&quot;I can believe anything, provided that it is quite incredible.&quot;<br />~&quot;The picture of Dorian Gray&quot;by Oscar Wilde~<br /><br />:leserin: <br />Henry Fielding - Tom Jones<br /><br />Tad Williams - The Dragonbone Chair<br /><br />Mark Twai

  • Ich würde mal komplett bei sandhofer und Ralf unterschreiben.


    Grimms Märchen sind teilweise durchaus grausig, aber die Brutalität wird nicht in allen Einzelheiten beschrieben, über ein lapidares "Rumpelstilzchen riss sich mitten entzwei" bin ich als Kind einfach hinweggegangen - es war die gerechte Strafe und fertig aus.


    Märchen mit traurigem Ausgang bekam ich als Kind eigentlich nie vorgelesen, die hätten mich aber sicher auch viel mehr belastet als die unterschwellige Gewalt in den Grimm-Geschichten.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Ich habe die Grimm-Märchen geliebt und ich habe sicherlich keinen Knacks davon bekommen. Als Kind sieht man die Dinge anders, abgesehen davon regen sie die Fantasie an.


    Warum sollen eigentlich immer nur die Bücher "verboten" werden, aber nie diese brutalen Kinder-Zeichentrickserien?
    Warum will eigentlich niemand "Tom&Jerry" verbieten oder diese brutalen Weltrau-Kinderserien? Die sind viel brutaler als ein Märchen je sein kann.


    Katrin

  • Tom & Jerry ist aber auf seine Art genauso irreal in der Darstellung wie die Märchen - die Katze kriegt eins auf die Birne, sieht Sternchen, die Augen rotieren, und weiter geht's ...


    Ich würde weder das eine noch das andere verbieten wollen. Mit Dämlich-Quäk-Serien wie den Teletubbies könnte ich da schon eher anfangen :breitgrins:

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen






  • Wobei ... Tom & Jerry ist durchaus auch im Visier der Gutmenschen ... :rollen:


    Oje ... was sagt das nun über mich aus, wenn ich schlechte Laune mit einer halben Stunde Tom und Jerry bekämpfe? :breitgrins:

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen






  • Mit Dämlich-Quäk-Serien wie den Teletubbies könnte ich da schon eher anfangen :breitgrins:


    Ich kenne einige Kindergärtnerinnen, die das sofort unterschreiben würden, vor allem wenn die 4-jährigen wieder anfangen in dieser Babysprache zu reden.


    sandhofer: Wirklich? Das wusste ich nicht. Tom&Jerry war jetzt nur ein Beispiel. Ich habe das als Kind gern geschaut, aber als Erwachsener kommt es mir sehr brutal vor.


    Aber zurück zu den Büchern: Mir wurden immer Märchen vorgelesen und so konnte ich sie bald erzählen, ohne sie ablesen zu müssen. Ich habe sie geliebt und ich finde man sollte sie den heutigen Kindern nicht vorenthalten, nur weil einige dagegen sind.


    Katrin


  • Aber zurück zu den Büchern: Mir wurden immer Märchen vorgelesen und so konnte ich sie bald erzählen, ohne sie ablesen zu müssen. Ich habe sie geliebt und ich finde man sollte sie den heutigen Kindern nicht vorenthalten, nur weil einige dagegen sind.


    Yep - die bekanntesten Grimm-Märchen sind ja schon quasi Allgemeinbildung.


    Die Welt ist nun mal nicht nur heil und schön ... und Grimms Märchen gehen doch meistens gut aus ;)

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Ich habe als Kind auch die Grimms Märchen geliebt (und mag sie immer noch) und kann mich Sandhofers und Ralfs postings nur anschließen.
    Meine Oma und meine Mutter haben sie mir immer erzählt und nichts Schlimmes weggelassen. Ich habe mich auch ein bisschen gegruselt, aber meine Oma/Mutter war ja bei mir und ich wusste ja ganz genau, egal was passiert, am Ende geht alles gut aus. Und das war einfach schön. Ich habe sie später auch viel auf Kassetten angehört und wenn ich später meiner Tochter die Märchen vorgelesen habe, war es für mich immer wieder eine schöne Erinnerung an meine Kindheit.
    Die Andersen Märchen habe ich auch nicht gemocht, die wollte ich auch nicht mehr hören, weil sie so traurig waren.


    Ich denke, in wohliger Atmosphäre und mit dem Wissen, das alles gut endet, hat kaum ein Kind ein Problem mit den Märchen, da gibt es, wie ihr sagt, viel Schlimmeres. Meiner Tochter habe ich die Märchen, wie gesagt, auch vorgelesen, und sie hat sie auch gemocht und keine Angst gehabt. Nur vor einer Sache hatte sie mal Angst, und zwar wollte sie die Disney-Verfilmung von Schneewittchen nicht mehr anschauen, wegen der Stelle im Wald, bei der die Bäume Schneewittchen so Angst machen. Und da können die Brüder Grimm ja nichts dafür.


  • egal was passiert, am Ende geht alles gut aus.


    In den Originalversionen eben nicht. Werden bei Aschenputtel nicht gar die Augen ausgehackt?


    Gruß, Thomas

  • In den Originalversionen eben nicht. Werden bei Aschenputtel nicht gar die Augen ausgehackt?


    Gruß, Thomas


    Allenfalls den bösen Schwestern. Bei den Grimms siegt, iirc, das "Gute" eigentlich immer ... Oder meinst Du mit "Originalversionen" etwas anderes? Die von den Grimms publizierten Versionen waren natürlich schon bearbeitet ...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Ob Grimm's Märchen zu brutal für Kinder sind? Kann ich nicht beurteilen. D.h. ich hätte es vor 25 bis 30 Jahren vielleicht beurteilen können. Damals hat mich aber keiner gefragt, was ich da lese. Ich fand die gruseligsten Märchen eigentlich immer am besten.


    Zu brutal fand ich sie nicht, geschadet haben sie mir vermutlich auch nicht.


    Wir müssten also die Kinder fragen...


  • In den 70er Jahren gab es ein bekanntes Buch von dem berühmten Kinderpsychologen Bettelheim. "Kinder brauchen Märchen" hiess es, glaube ich.


    Ja, hier ein Auszug:


    Die Gestalten im Märchen sind nicht ambivalent, also nicht gut und böse zugleich, wie wir alle es in Wirklichkeit sind. Da aber Polarisierung den kindlichen Geist beherrscht, hat sie auch im Märchen Vorrang. Eine Person ist entweder gut oder böse, aber nichts dazwischen ... (dumm oder klug, schön oder hässlich, faul oder fleißig). Die Darstellung der charakterlichen Polaritäten erleichtert es dem Kind, den Unterschied zu erfassen, was nicht so einfach wäre, wenn die Figuren lebensechter und so komplex wie Menschen wären. Mit Doppeldeutigkeit muss man warten, bis aufgrund positiver Identifikationen eine relativ feste Persönlichkeit entstanden ist. Erst auf dieser Grundlage kann das Kind erkennen, dass große Unterschiede zwischen den Menschen bestehen und dass man sich deshalb entscheiden muss, wem man gleichen möchte. Wichtig ist auch die Form der Präsentation beziehungsweise des Erlebens von Märchen. Oft geht die Erzählung eines Märchens mit Zuwendung, Austausch und Geborgenheit einher, es gibt feste, beim Kind beliebte Rituale.


    liebe Grüsse
    dora

  • Die Grimmschen Märchen sind in der Fassung, wie sie die meisten hier vermutlich kennengelernt haben, schon abgeschwächte Versionen, also Bearbeitungen der eigentlichen Grimmschen Fassungen. Das sind nämlich echte Sex-and-Crime-Stories. Die gängigen Fassungen habe ich als Kind auch zunächst vorgelesen bekommen und dann selbst gelesen, aber es waren nicht meine Lieblingsmärchen. Das hatte jedoch nur zum Teil mit den Inhalten zu tun, vielmehr gibt es Erzähltraditionen in anderen Ländern, die mir einfach mehr mag. So gefällt mir z. B. der Tonfall in slawischen und arabischen Märchen schon seit langem besonders gut. In der Brutalität stehen sie anderen aber auch nicht unbedingt nach – wenn man darauf Wert legt, dann muß man sich auf Schelmengeschichten konzentrieren. Unter den typischen Märchenmotiven finden sich einfach eine Menge gewalttätiger Beispiele.


    Zurück zur Ausgangsfrage: Ich würde sagen, die Grimmschen Märchen als solches sind nicht unbedingt zu brutal für Kinder, aber es ist sicher keine schlechte Idee, wenn die Eltern die Erstlektüren begleiten, um ggf. eingreifen zu können.


    Schönen Gruß,
    Aldawen

  • Die Diskussion hier finde ich (leider) typisch für unsere Gesellschaft. Man fragt sich, ob Märchen zu brutal für die lieben Kleinen sind. Und gleichzeitig bekommen diese die Abenteuer eine rachsüchtigen Nomadengottes (aka Bibel) als Heillehre angeboten. Wie kaputt ist unsere Gesellschaft?

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym, 2001