Philippe Claudel - Die grauen Seelen

Es gibt 13 Antworten in diesem Thema, welches 5.389 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von illy.

  • Ich habe das Buch in schwedischer Übersetzung unter dem Titel Grå själar (=Graue Seelen) gelesen.


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    Schwedisches Titelbild


    Der Ich-Erzähler, Anfang 50, erinnert sich an eine Episode im Dezember 1917, als die Leiche eines zehnjährigen Mädchens in einem Kanal gefunden wurde. Die Würgemale am Hals ließen keinen Zweifel daran zu, dass sie ermordet wurde. Nun, 20 Jahre später, versucht der Erzähler noch einmal, das Ereignis zu rekonstruieren. Dazu muss er weiter ausholen, er erzählt auch einiges aus der näheren Vergangenheit des französischen Kleinstädtchens kurz hinter der Front, von dessen Einwohnern und nicht zuletzt von sich selbst.
    So entsteht ein Bild der Kriegsjahre, in denen der Krieg sich ständig als Geschützdonner am Horizont bemerkbar macht, in denen es zu Konflikten zwischen Soldaten/Verwundeten und der als Zivilbevölkerung kommt, der aber die Gemüter weniger berührt als der wahnsinnig gewordene Lehrer, der Selbstmord seiner Nachfolgerin oder der Mord an dem Kind. Das zivile Leben bietet Grausamkeiten genug - Parallelen wie z. B. zwischen einem durch einen Huftritt schwachsinnig gewordenen Jungen und den durch Kopfwunden verstümmelten Soldaten sind deutlich - und wird durch den Krieg nicht humaner. Menschenleben zählen nur wenig, zumindest für die Oberschicht, die in der festen Überzeugung aufgewachsen ist, über Leben und Tod der unteren Schichten bestimmen zu können. (Wieviel gibt ein General auf das Leben seiner Soldaten; Hauptsache ist doch, der Hügel wird erobert?) Wahrheit muss hinter wichtigeren Belangen, wie dem Schutz der Standesgenossen, zurückstehen.


    Das Bild, das Claudel zeichnet, ist sehr eindrucksvoll, ging mir richtig unter die Haut. Selten habe ich ein Buch mit einem so passenden Titel gelesen. Er erklärt sich im Text, als eine Protagonistin feststellt, dass es keine rein guten oder bösen Menschen gibt, dass alle Seelen eben grau sind. Für mich zeigt er allerdings noch besser die unendliche Traurigkeit, die den Erzähler (und andere Protagonisten) umgibt. Er hat, nach schlimmen Erfahrungen jede Lebensfreude verloren, lebt in einer lähmenden Depression, aus der er keinen Weg findet und auch keinen finden will.


    Ich vergebe
    4ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:

    Wir sind irre, also lesen wir!

    Einmal editiert, zuletzt von Saltanah ()

  • Das steht auch schon sooooo lange auf meiner Wunschliste und letztes Mal hatte ich es sogar in der Hand, hatte aber gezögert. Deine Rezi hat mir das Buch wieder sehr schmackhaft gemacht, Saltanah :rollen: :breitgrins:

    smiley-channel.de_lesen020.gif:<br />Zeruya Shalev- Mann und Frau

  • Hier meine Rezi aus dem letzten Jahr, die ich anscheinend vergessen habe, hier zu veröffentlichen:


    Ein Dorf in Frankreich, 1917. Die zehnjährige Gastwirtstochter wird erwürgt am Fluss aufgefunden. Der Dorfpolizist beobachtet die darauffolgenden Geschehnisse aus seiner Sicht und schildert in dem Buch im Rückblick, was vorgefallen ist.


    Es geht aber nicht vorrangig um die Auflösung des schrecklichen Verbrechens, sondern viel mehr um die psychologischen Hintergründe und um die beteiligten Menschen: Destinat, den überkorrekten alten Staatsanwalt, der auf dem Schloss lebt; Lysia Verhareine, die schöne Lehrerin, die eine Zeitlang in einem Nebengebäude des Schlosses wohnte; den gemeinen Richter Mierck und den unsympathischen Oberst Matziev; die Lumpensammlerin Joséphine und Clémence, die sanfte junge Ehefrau des erzählenden Polizisten - und es geht um den Krieg, der zwar fern von dem Dorf und der nahen Kleinstadt tobt, aber dennoch das Leben jedes einzelnen auf traurige Weise verändert und durch die Verwundetenkonvois, die im Krankenhaus der Kleinstadt versorgt werden, schrecklich deutlich vor Augen geführt wird.


    Ein ziemlich düsteres, trauriges Buch, aus dem mir der titelgebende Satz in Erinnerung bleiben wird (sinngemäß): Es gibt in der Seele kein Schwarz oder Weiß, nur ein hübsches Grau. So werden hier auch die Menschen porträtiert, keiner ist ausschließlich gut, jeder hat tief im Inneren etwas zu verbergen.


    4ratten

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





    Einmal editiert, zuletzt von Valentine ()

  • Hallo,


    ich habe dieses Buch gestern angefangen und heute beendet. Es ist ja mit 239 Seiten ein eher kleines Buch. 100 Seiten mehr wären auch schön gewesen.
    Ich hatte anfangs Schwierigkeiten in die Geschichte zu finden. Der Ich-Erzähler von dem man nie den "richtigen" Namen erfährt nur einmal wird ein Spitzname erwähnt, auch wer er ist, was er macht wird erst im Mittelteil gesagt.
    Auch die Zeitsprünge haben mir etwas zu schaffen gemacht, das lag aber wohl auch daran das ich mich gestern nicht so richtig konzentrieren konnte. Man kann das Buch nicht so einfach nebenbei lesen sondern muss schon "bei der Sache" sein. Heute ist die Geschichte dann richtig schön "gepfluscht".
    Der Mittelteil war stark und hat mich sehr bewegt. Den Richter und Matziev habe ich richtig gehasst.
    So 20 Seiten vor Schluß war ich etwas enttäuscht: "Das soll jetzt alles sein, so einfach?"
    Nein, dass Ende hält noch eine Überraschung bereit die ich nicht erwartet hätte, überhaupt nicht.
    Dadurch wurde aus der schon fast sicheren 3 Ratten Bewertung doch noch verdiente 4 :zwinker:
    Wie auch schon hier erwähnt, selten ein Buchtitel der so passend ist wie hier.


    Ich verstehe kein Französich mich würde interessieren ob der Originaltitel "Les ames grises" dasselbe bedeutet?


    4ratten


    LG
    Flor

    Einmal editiert, zuletzt von Flor ()

  • Hallo Flor,
    ja, les âmes grises heisst die grauen Seelen.
    Das Buch hatte mich auch während dem Lesen tief beeindruckt, doch später habe ich doch einige Unstimmigkeiten gefunden (fallen mir jetzt sofort nicht ein, ist schon ein Weilchen her...)
    Ich kann dir nur empfehlen: la petite fille de Monsieur Linh von Claudel zu lesen, das ist viel schöner, erbarmungsloser und überraschender als die grauen Seelen. (Weiss nicht, ob es schon ins deutsche übersetzt wurde)
    liebe Grüsse
    dora

  • @Dora
    Danke für die Übersetzung.
    Und ja, ist es Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung 

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    Äh...zumindest denke ich, dass es das ist.
    Ist sogar HC für 14,90 Euro. Was mich etwas zögern lässt ist die sehr geringe Seitenanzahl von nur 127 Seiten. So etwas lese ich ja eher nicht, ich mag lieber dicke Bücher.
    Aber ich werde es mir auf jeden Fall merken.


    Schade das du dich an die Unstimmigkeiten nicht mehr erinnern kannst.


    Mir ist eine Stelle aufgefallen: Kapitel XIII Seite 112-113 HC

    Ähm...

    Die Stelle habe ich jetzt mehrmals gelesen und sie hat mich auch beim ersten mal lesen ins schleudern gebracht.


    Auch merkwürdig fand ich das hier


    Das ist mir aufgefallen.


    LG
    Flor

    Einmal editiert, zuletzt von Flor ()

  • hallo Flor,
    ja, es ist dieses Buch, die wenigen Seitenzahlen sollten dich nicht vom Lesen abhalten... :zwinker:
    Ich werde mal am Wochenende nachschauen und dir dann über die Unstimmigkeiten berichten (habe mir da Notizen gemacht)
    liebe Grüsse
    dora

  • Den "grauen Seelen" wurde übrigens von der Svenska Deckarakademin (Schwedischen Krimiakademie) "The Martin Beck Award" als bestem ausländischen Krimi dieses Jahres verliehen. Ich würde es zwar trotz Leiche nicht als Krimi bezeichnen, aber dass ein gutes Buch einen Preis gewinnt, finde ich trotzdem gut.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Ich fand das Buch unheimlich düster und bedrückend. Alles ist von einem Schleier der Traurigkeit, die vom Erzähler - dem Polizisten ausgeht - überzogen. Am Ende des Buches möchte man nur noch den Kopf unter das Kissen stecken und weinen.


    Eine starke Hoffnungslosigkeit zieht sich durch das Buch. Da ist der Krieg der hinten den Hügeln tobt, das Dorf aber verschont sowie der Krieg, der in den Seelen der Menschen tobt.


    Sehr deutlich wird auch der Unterschied zwischen Ober- und Unterschicht gezeichnet. Wie die oberen Herren völlig destinteressiert am Leiden des Normalbürgers sind. Auch das Desinteresse an der tatsächlichen Aufklärung eines Verbrechens - wen interessiert schon wer der wirkliche Mörder an einer kleinen Gastwirtstocher ist?!? Hauptsache man zeigt dem Volk einen Mörder - egal ob der es auch wirklich war!


    Ich denke, dass das Buch sehr realisistisch ist - alle Handlungen könnten tatsächlich so stattgefunden haben. Das ist das wirklich erschütternde!


    Von mir gibts dafür
    5ratten


    PS: Wer sich das Buch zulegen möchte: gibts jetzt für 6€ in einer neuen RORORO-Serien!



    Mir sind übrigens keine Unstimmigkeiten aufgefallen.
    Flor: Das er sich die Zehen erfroren hat, sieht man doch nicht, wenn derjenige dann noch erhängt wird. Nur weil es dann nicht mehr erwähnt wird - ist es doch nicht ungeschehen.

  • Hallo allerseits


    Ich habe eine Bekannte, die in einem "echten" Lesekreis liest. Die suchen sich dort alle paar Wochen ein Buch aus, lesen es (einzeln) und besprechen es dann (gemeinsam).
    Das nächste anstehende Buch ist eben dieses und sie erzählte mir letztens, dass die Einstellung Ihrer Mitleser und Mitleserinnen sehr gespalten sei - ob man das Buch überhaupt lesen solle .... Da ich es nicht kannte, habe ich hier mal nachgesehen, diesen Link gefunden und ihr gezeigt. Sie war vollkommen begeistert von Euren Kommentaren, will sie ihren Mitlesern und Mitleserinnen auch zeigen und mich auf dem Laufenden halten, wie denn dieses Thema nun ausgeht - ich werde berichten !!


    Gruß


    Daniela

    bitte wühlt bei booklooker mal in meinen Angeboten (elahub) - ich verkaufe für die Katzenhilfe Göttingen :) -

  • Hallo,


    hier meine Meinung:


    Dunkel und bedrückend ist dieses Buch ab Seite 1. Leider kann ich mich den überwiegend guten Meinungen hier nicht anschließen, denn ich konnte mit dem Erzählstil nicht wirklich viel anfangen. Ich verlor immer wieder den Faden und fand keinen Zugang zu den einzelnen Personen. Sie waren mir zu Schemenhaft gezeichnet und so zog Seite um Seite dahin, ohne dass ich so etwas wie Spannung empfinden konnte. Dabei hatte der Plot gerade diese für mich versprochen. Allein das Ende hat mich ein wenig ausgesöhnt, sodass meine Bewertung dann doch nicht rattenlos sein wird. Vielleicht war es auch einfach nur das falsche Buch zum falschen Zeitpunkt.


    2ratten



    Viele Grüße
    Muertia

    :lesen: Rebecca Gablé - Der dunkle Thron<br />SuB: 6 (+16 bereits bestellte Bücher, um den SuB mal ein wenig aufzuwerten)

    Einmal editiert, zuletzt von Muertia ()

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    Frankreich im ersten Weltkrieg, ein Dorf kurz hinter der lothringischen Frontlinie. Die zehnjährige Tochter des Gastwirts wird ermordet aufgefunden und der örtliche Richter findet in zwei Deserteuren die passenden Schuldigen. Der Erzähler hat damals versucht, die Wahrheit herauszufinden, doch erst jetzt, viele, viele Jahre später, kann er die einzelnen Bruchstücke der Geschichte zusammenfügen und so ein Gesamtbild zeichnen.


    Ich finde es schwierig, eine vernünftige Inhaltsangabe zu schreiben oder auch nur das Buch in ein Genre einzusortieren – gut, es gibt ein Verbrechen und eine Ermittlung, aber das dient eigentlich nur als Hintergrund. Auch die Darstellung einzelner Personen ist vermutlich nicht das Hauptanliegen des Erzählers, dazu beschränkt er sich zu stark auf die Außendarstellung der Personen. Trotzdem bekommt man ein ganz deutliches Bild der Gesamtsituation und hier überwiegt die Trostlosigkeit. Jeder, dessen Gefühlsleben auch nur angedeutet wird, trauert um irgendjemanden oder irgendetwas. Das Buch macht einen abwechselnd traurig und wütend, zufrieden mit ihrem Leben wirken höchstens die, denen man es nicht gönnt.


    Am Ende wartet der Autor noch mit einer ungewöhnlichen und gänzlich unerwarteten Entwicklung auf, die mich mit einer Gänsehaut zurückließ.



    Doch eine einfache Lösung gibt es nicht, es gibt kein schwarz oder weiß, sondern nur verschiedene Schattierungen von Grau.


    4ratten

  • Mir fällt gerade auf, dass ich von dem Buch inhaltlich nur noch ganz, ganz wenig weiß, mich aber gut daran erinnern kann, dass mich die Stimmung sehr beeindruckt hat und eben diese vielen Schattierungen von Grau anstelle simpler Schwarzweißmalerei.


    Sollte ich vielleicht noch mal lesen ...

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Ich wollte dem Buch vom Gefühl her eigentlich eine halbe Ratte weniger geben, war mir beim Rezi-schreiben wegen einer Sache nicht sicher und die 3 Sätze, die ich nachgelesen habe, haben das Buch wieder direkt so präsent werden lassen, dass ich es hochgestuft habe. Da gibt es so ein paar sehr eindringliche Szenen / Absätze...