Irene Dische - Großmama packt aus

Es gibt 10 Antworten in diesem Thema, welches 5.835 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von finsbury.

  • Großmama packt aus - Irene Dische


    Wer über sein eigenes Leben schreiben will, verstrickt sich bekanntlich in ein Lügenknäuel. Also erzählt nicht Irene Dische, sondern ihre Großmutter Elisabeth, genannt Mops, und die Enkelin setzt sich lustvoll deren süffisanten, gnadenlos vorurteilsbeladenem Blick aus. "Daß meine Enkeltochter so schwierig ist, hängt vor allem mit Carls geringer Spermiendichte zusammen" - ein Paukenschlag, mit dem das schlesisch-rheinische Familienensemble auf die Bühne gerufen ist. Carl Rother, Elisabeths jüdischer Mann aus Leobschütz, ist ihretwegen zum Katholizismus konvertiert, was die Nazis aber nicht gelten lassen wollten. Gerade noch rechtzeitig gelangte er mit Frau und Kind nach New York, während Elisabeths Brüder aufrechte Nazis wurden und Carls Verwandtschaft im Kz endete. Irenes Mutter, Renate, zerschnitt gerne Leichen und erzog ihre Tochter vornehmlich in der Pathologie, weil Dische, ihr unmöglicher Ehemann, zu Hause an einer Erfindung hockte, die ihm fast den Nobelpreis eingetragen hätte. Liesel, das Faktotum, ist moralisch unerschütterlich und Gott ebenso ergeben wie den Rothers: Nachdem sie der sterbenden Großmutter mittels Himbeergeist zu einem sanften Tod verholfen hat, bleiben ihrer Fürsorge immer noch die unbelehrbare Renate und die missratene Irene, die zwar ihre Jungfräulichkeit löblich lange verteidigt, dafür aber keinen Schulabschluß und, wie es lange schien, auch sonst wenig zustande gekriegt hat...





    Irene Dische erzählt ihr eigenes Leben, aber sehr geschickt lässt sie dabei ihre eigene Großmutter erzählen. Und die ist nicht auf den Mund gefallen. Sie ist voller Vorurteile, zählt die Sünden jedes einzelnen auf (ihre eigenen werden kurz erwähnt und dann wieder vergessen) und bei ihren Erziehungsmethoden würde so mancher heute sofort das Jugendamt einschalten. Ihren Mann Carl lenkt sie geschickt, ohne das er es merkt, so durchs Leben wie sie es will. Sie hat einen derben schwarzen Humor und erzählt jedem der es hören will daß das jetzige Jahr ihr Todesjahr sein wird (sie wird trotzdem seeeehr alt).
    Irene Dische kommt bei ihrer eigenen Erzählung meistens sehr schlecht weg. Sie macht keinen Schulabschluß, reist mit irgendwelchen Fremden durch die Gegend und sonst macht sie auch nie das was die Familie von ihr verlangt.
    Ein ganz amüsantes Buch, für so zwischen durch. Leider hat es im letzten drittel ein paar Längen aber sonst ist das Buch ganz gut.


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    EDIT: Betreff angepasst. LG, Saltanah

    Lesen ist die schönste Brücke zu meinen Wunschträumen.

    Einmal editiert, zuletzt von Saltanah ()

  • Ich habe das Buch auch erst kürzlich gelesen und fand es auch ganz gut. Anfangs wusste ich noch nicht, was ich davon halten soll und brauchte einen Moment, um rein zu kommen, aber dann ließ es sich flüssig weglesen. Gegen Ende, da stimme ich nanu?! zu, gab es ein paar Stellen, die man hätte kürzen können.


    Die Erzählweise der Autorin, die Geschichte aus der Perspektive der Großmutter und nicht aus der eigenen zu erzählen, fand ich sehr interessant. Dadurch kam sie selbst erst gar nicht vor, wurde erst im Verlauf der Geschichte geboren. Und wie nanu?! schreibt, sie kam wirklich nicht so gut dabei weg. Allerdings hatte in der Familie jeder einzelne so seine eigene besondere Art, dass man sich über ihre Entwicklung nicht wundern musste. Einen blassen Vater. Eine Mutter in ihrer versunkenen Welt der Pathologie, die Irene und ihren Bruder oft einem Kindermädchen mit besonderen Erziehungsmethoden überließ. Einen Großvater, der seine Existenz verloren hat und es nicht leicht im Schatten von Großmama hatte. Und natürlich die exzentrische Großmama, die über die Familie wachte und den Leser mit ihren Ansichten "quälte". Manchmal wusste ich nicht, ob ich über sie lachen oder doch schon vor Entsetzen schreien sollte. :breitgrins:


    Es hat jedenfalls viel Spaß gemacht, die Geschichte zu lesen. Es ist ein doch kurzweiliges Buch mit außergewöhlichen Figuren und viel Humor. Ich habe noch ein paar mehr historische Details erwartet, aber was die Großmama ausgeklammert hat, kommt halt im Buch nicht vor. :zwinker: Andererseits war es auch interessant, mit dem eigenen geschichtlichen Wissen, die Oma bei ihrer Verdrängung, dem "nicht drüber sprechen" und dem "darüber weggehen" und dem "eigentlich nicht wissen wollen" der ungemütlichen Tatsachen zu beobachten.


    3ratten :marypipeshalbeprivatmaus:

  • "Großmama packt aus", Roman


    Die Großmama erzählt die Geschichte ihrer Familie nach ihrem Ableben rückblickend. Die Katholikin heiratet den jüdischen Mediziner Dr. Carl Rother aus dem oberschlsischen Leobschütz. Aus Liebe wird Carl Rother katholisch und Großmama, sie betont immer leidenschaftlich gerne, sie seien eine streng katholische Familie, ist eine Antisemitin, die behauptet, alle schlechten Eigenschaften, „die sich mit der Zeit in der Familie zusammengebraut und fortgepflanzt haben“ seien schließlich bei ihrer Enkelin Irene, der Autorin dieses Romans gelandet. Die jüdische Herkunft der Familie wurde verschwiegen, trotzdem mussten sie wegen den Nazis nach New York auswandern. Die Tochter Renate heiratet einen Dische. Dessen Vorname wird verschwiegen, das zeigt, wie verhasst die Großmama auf diesen Dische war, ein jüdischer Chemiker, der den Nobelpreis verdient hätte, als Ehemann aber unmöglich war, ein seltsamer Wissenschaftler, der mit seiner Arbeit verheiratet war. Renate und Dische waren Irenes Erzeuger, die im Roman ziemlich schlecht wegkommt. Darum beginnt der Roman mit einem antisemitischen Giftpfeil:


    "Daß meine Enkeltochter so schwierig ist, hängt vor allem mit Carls geringer Spermiendichte zusammen."


    Der Roman ist ein auch ein Buch über die verschiedenen Facetten des Humors. Großmama wird von der Gestapo desöfteren belästigt, sie solle sich von ihrem Mann scheiden lassen:


    Ich bin eine gute Katholikin. Ich glaube nicht an die Scheidung.“

    "Mein Tagesablauf hatte sich ein wenig verändert. Jeden Morgen nach dem Frühstück ging ich bei der Gestapo vorbei und fragte, ob sie mich heute sehen wollten. So ersparte ich ihnen, daß sie zur Unzeit bei mir anklopfen mussten".


    Ich finde das köstlich. Die lästigen Gestapofritzen schnell abgefertigt. Irene Dische lässt ihre Großmama recht schnoddrig erzählen, bis hin zum Sarkasmus:


    "Dische kam zu meiner Beerdigung auf Krücken, mit verwirrtem Blick. Er mochte keine Toten ansehen. Aber wenig später war er selber einer."

    Ein wichtiger Aspekt des Romans ist die Sexualmoral. Für Großmama ist Sex „abscheulich“, wird nur vollzogen, wenn ein Kinderwunsch dahinter steht. Schließlich ist sie eine gute Katholikin. Carl dagegen meint, am Sabbath solle man sich zueinanderlegen. Der Orgasmus bringe den Menschen in Gottes Nähe. Natürlich schimpft die Patriarchin und Carl Rother wird kleinlaut. Später, im Alter, ist sie milder geworden und fragt sich wirklich, ob sie ihrem Mann etwas vorenthalten habe.


    Mir hat der Roman außerordentlich gut gefallen und bin am Überlegen, ob ich ihn zu meinen Lieblingsromanen rechnen möchte. Natürlich hat der überwältigende Humor großen Anteil daran, dass ich mir solche Überlegungen mache. Ich habe das Buch von vorne bis hinten genossen. Traurigkeit und zuckendes Zwerchfell in guter Nachbarschaft. Glänzend erzählt.


    5ratten


    Liebe Grüße
    mombour


    PS: Das Buch ist ein Roman und gehört in den Bereich "Sonstige Belletristik". :zwinker:

  • Hallo mombour,
    ich werde dieses köstliche Buch auf jeden Fall lesen.


    Gruß
    Leseratte

  • Hallo,


    die Beschreibung des Buches hört sich sehr gut an,
    eine Grußmutter hat halt immer was zu erzählen,
    ich glaube, das Buch wird demnächst auf meinem Wunschzettel stehen


    Gruß


    vom gretchen

  • Großmama packt aus. Großmama, das ist Elisabeth, geboren und aufgewachsen im katholischen Rheinland und nach der Hochzeit mit dem Juden Carl Rother in Schlesien gelandet. Ihrer Ehe entspringt eine Tochter, Maria Renate, die aber so wild und unbändig ist, dass der brave Madonnenname nicht zu ihr passt und sie nur noch Renate gerufen wird. Dass Elisabeth nach Renate keine Kinder mehr bekommen kann, ist ihr eigentlich nur recht, denn die ehelichen Pflichten hat sie sowieso nie gemocht.


    Carl ist Arzt, beliebt und angesehen im Städtchen Leobschütz, doch dann kommen die Nazis an die Macht, und für Juden brechen harte Zeiten an. Er flieht gerade noch rechtzeitig nach Amerika, während seine Frau und Renate vorerst zurückbleiben und der Gestapo die Stirn bieten. Später folgen die beiden ihm dann doch noch, und ein ganz neues, anderes Leben beginnt, denn auch im vielgepriesenen New York ist nicht alles so einfach.


    Renate wird Pathologin, geht ganz in ihrem Beruf auf, heiratet den nichtsnutzigen und viel älteren Dische, mit dem sie zwei Kinder hat, Carlchen und Irene ...


    Durch die Brille ihrer Großmutter lässt uns Irene Dische die Lebensgeschichte von drei Generationen ihrer Familie erleben - politisch völlig unkorrekt, subjektiv und dabei gleichzeitig schreiend komisch und haarsträubend merkwürdig, besonders was Elisabeths Ansichten über Kindererziehung betrifft.


    Es gab die eine oder andere kleine Länge, doch der bissige Erzähltonfall hat mir viel Spaß gemacht ... und ich frage mich immer noch, was jetzt tatsächlich wahr und was erfunden ist ;)


    4ratten

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Ich danke euch, das Buch hört sich ja richtig gut an :smile:. Werds wohl mal auf meine Wunschliste packen müssen.

  • Großmama ist wirklich unglaublich: antisemitisch, politisch unkorrekt, rigide, unerschütterlich in ihrem Glauben (auch wenn ihre Gebete stets nutzlos bleiben) der Mittelpunkt der Familie, tapfer und unerschütterlich und vorallem mit ätzendem Humor ausgestattet. So manches Mal war ich einfach sprachlos, über ihre Reaktionen und vor allem über die Formulierungen. Wie beim betrachten eines Fotoalbums schildert sie episodenhaft ihre Geschichte und die ihrer Familie. So skurril und ungewöhnlich die Charaktere sind, so wirklichkeitsnah und echt sind sie auch. Immer schaffen sie es in jeder Generation, die schlimmsten Katastrophen knapp zu vermeiden, ob nun die Verhaftung durch die Nazis, den wirtschaftlichen Ruin oder die Vergewaltigung und Ermordung in Krisengebieten. Traurigkeit und Humor gehen Hand in Hand in diesem Buch und Irene Dische findet genau die richtige Balance. Eines meiner Lesehighlights 2007.


    5ratten


    Viele Grüße
    christie

  • Hm, schnell mal überlegt: nett - kurzweilig - nicht so doll wie erwartet - manchmal etwas langatmig - Rezi zu schreiben hatte ich keine Lust, dass sagt schon alles ...


    2ratten bis 3ratten (weil doch ein paar nette Passagen dabei waren ...)


    Gruß :winken:

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    OT: The Empress of Weehawken
    OA: 2005
    384 Seiten
    ISBN: 978-3423135214


    Inhalt:


    Irene Dische erzählt die Geschichte ihrer Familie. Einer Familie, welche in den frühen dreißiger Jahren Deutschland aufgrund ihrer jüdischen Abstammung verließ und sich in Amerika eine neue Heimat und ein neues Leben aufbaute.


    Eigene Meinung:


    Allerdings lässt Irene Dische die außergewöhnliche Geschichte dieser verrückten Familie von der Großmutter erzählen, einer Frau, die für Irene Dische immer eine sehr starke Persönlichkeit war. Humorvoll, ironisch und selbstkritisch lernen wir eine Familie mit starken Frauen kennen und da kommen wir auch schon zu einem Hauptattribut dieses Romans. Es ist ein Roman für Mütter, Großmütter und Töchter und er handelt von drei Generationen von Frauen, welche immer wieder gezwungen wurden, aufgrund äußerer Umstände ihr Leben zu meistern, sich immer wieder vom Boden zu erheben und stark zu sein. Ganz klar kommt der Generationsunterschied zur Sprache, die unterschiedlichen Auffassungen, was Religion, Partnerschaften und auch Sexualität angehen. Da bleiben Konflikte nicht aus, vor allem zwischen der gebieterischen Großmutter und ihrer Tochter und Enkelin und wir Frauen sind vertraut damit, denn wir kennen diese Konflikte aus unseren eigenen Beziehungen zu unseren Müttern und Großmüttern. Da gibt es viel Verzweiflung, Missverständnisse und Streitereien, aber letztendlich kann man es mit dem letzten Satz der Autorin auf den Punkt bringen: „Es geht nichts über eine Tochter.“
    Ein schönes humorvolles Buch, das auch seine ernsten Seiten hat, aber immer wieder dem Leben die schönen Seiten abgewinnen kann.


    4ratten


    Tina

  • Hallo,


    erst jetzt bin ich dazu gekommen, diesen amüsanten zeitgeschichtlichen Roman zu lesen. Eine überraschende Darstellung aus der bornierten Perspektive einer deutschstämmigen Katholikin, die sich selbst ihrer großbürgerlichen Abstammung sehr bewusst ist und aus dieser Position, aber gemischt mit einer unbändigen Leidenschaft für das Besondere, das Unangepasste, die zeitgeschichtlichen Ereignisse des 20. Jahrhunderts, erst im Deutschland der 20er bis 30er Jahre, dann in den anschließenden Jahrzehnten bis in die 70er in den USA im Spiegel ihrer Familiengeschichte erzählt.
    Mir gefällt der Roman sehr gut mit Ausnahme dessen, dass es kaum Dialog, sondern im Wesentlichen gefilterte Darstellung der personalen Erzählerin gibt. Das ist zwar der Erzählperspektive fast immanent, stört aber dennoch, weil es ermüdet, wenn der Dialog, also die Unmittelbarkeit der Darstellung fehtl.
    Dennoch - ein sehr lohnender Roman!


    finsbury