Adalbert Stifter: Witiko

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    Adalbert Stifter: Witiko.


    Dies ist ein ganz wunderlicher Roman, der auf 950 Seiten ein historisches Abbild der Zeit um 1140 gibt. Trotz einiger Längen bin ich dennoch begeistert von dieser ganz anderen vereinfachten, manchmal auch spröden Sprache. Stifter verzichtet auf die heute so beliebten wie-Vergleiche, er beschreibt nüchtern und sachlich die äußeren Begebenheiten. Das Innenleben wird nur indirekt deutlich. Diese Seiten tun einem wohl in einer Welt mit marketing-gestyltem Wording wie es auch häufig in meinem Arbeitsleben anzutreffen ist. Ein Satz wie "Die Kinder spielten in der Sonne" erhält im Kontext dieser Seiten eine Kraft, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Die Einfachheit der Sprache begeistert. Im Gegensatz zu Stifters Nachsommer wird diese Einfachheit durch die Einführung von zig Figuren jedoch etwas zerstört. Bei einer mittelalterlichen Versammlung redet eine solche Vielzahl von Leuten, dass man sich fragt, wann diese Passage denn endet. Aber dann endet sie doch plötzlich und ist begeistert, da man das Gefühl erhalten hat, bei dieser mittelalterlichen Versammlung live dabei gewesen zu sein.


    Vieles könnte man gegen dieses Buch einwenden. Dem Helden Witiko gelingt einfach alles im Leben, er ist im Kampf immer erfolgreich und findet mit Leichtigkeit seine Traumfrau. Da das innere Leben der Figuren ohnehin nicht dargestellt wird, scheint es innere Konflikte auch nicht zu geben. Dies ist natürlich vollkommen unrealistisch, es ist eine Art von Wohligkeit, die aber beim Lesen gut tut ohne dass man das Gefühl hat, es sei kitschig. Man könnte zudem einwenden, dass es auf der einen Seite den guten verständigen Herzog und die andere Seite als dumm und uneinsichtig dargestellt wird. Politische Intrigen scheinen nur von einer Seite auszugehen. Aber Stifter ging es wohl um etwas anderes: Er verlegt hier demokratische Ideen ("jeder wird angehört", Wahlen) in die Zeit des Mittelalters.


    Trotz der vermeintlichen Mängel lässt mich dieser Roman beglückt und zugleich etwas verstört zurück und das sind bei mir zumindest die Romane, die am längsten nachwirken. Stifter hat hier etwas geschaffen, was ich in dieser Form noch bei keinem anderen Schriftsteller gesehen habe. Ob diese Originalität nun jedem gefällt, sei dahingestellt. Einfach zu lesen ist er auch nicht.


    Das Nachwort halte ich für nicht so gelungen, es geht leider kaum auf die sprachlichen Qualitäten des Romans ein, es beschäftigt sich mehr mit den historischen Hintergründen. Die guten Stellen-Anmerkungen zeigen auf, wo Stifter auf historische Fakten zurückgreift und in seinen Roman einbaut. Dies lässt den Roman noch wirklicher werden und ich empfehle daher unbedingt eine Ausgabe mit den Anmerkungen anzuschaffen (bei dtv oder bei Winkler Weltliteratur).


    Eine ausführliche Leseprobe gibt es auf Amazon. Wer diese Seiten liebt, der greife zu.


    5ratten


    Gruß,
    Thomas

    Einmal editiert, zuletzt von Klassikfreund ()

  • Stifter verzichtet auf die heute so beliebten wie-Vergleiche, [...]


    Auch auf die Gefahr hin, dass ich etwas falsch verstanden habe - in der Leseprobe bei Amazon finde ich auf den ersten Seiten gleich mehrere dieser Vergleiche. Selbst die Einleitung des ersten Kapitels lautet bereits:


    Zitat

    Es klang fast wie Gesang von Lerchen.


    Davon abgesehen muss ich mir für die Leseprobe doch mehr Zeit nehmen, das ist wirklich keine leichte Kost.

    "Verzicht bedeutet für Frauen die kurze Pause zwischen zwei Wünschen."

    ~ Mario Adorf

  • Auch auf die Gefahr hin, dass ich etwas falsch verstanden habe - in der Leseprobe bei Amazon finde ich auf den ersten Seiten gleich mehrere dieser Vergleiche. Selbst die Einleitung des ersten Kapitels lautet bereits:



    Davon abgesehen muss ich mir für die Leseprobe doch mehr Zeit nehmen, das ist wirklich keine leichte Kost.


    Tja, ich habe meinen Leseeindruck nach 950 Seiten niedergeschrieben. Das dieser Eindruck dann vielleicht gar nicht mit der Realität übereinstimmt, kann ich nicht ausschließen. Ich habe keine wissenschaftliche Arbeit über das Buch verfasst. Insgesamt fand ich den Stil halt recht kompakt und direkt. Kann auch sein, dass ich seinerzeit noch von Proust "geschädigt" war, dort findet man diese Vergleiche sehr häufig.


    Ich finde es schön, dass dieser Thread nach vier Jahren wieder ausgegraben wird.


    Gruß, Thomas

    Einmal editiert, zuletzt von Klassikfreund ()


  • Ich finde es schön, dass dieser Thread nach vier Jahren wieder ausgegraben wird.


    Angeregt durch die Schullektüre-Diskussion (wegen meines Beitrags in Bezug auf "Bergkristall") habe ich hier nach Rezensionen zu Stifter allgemein gesucht und dabei diese interessante gefunden. Da musste ich mich direkt auf die Leseprobe stürzen.


    Mein Beitrag hier sollte keine Provokation sein, im Gegenteil. Sorry, wenn das so herüberkam! Ich finde diese häufigen wie-Vergleiche in der Literatur auch zu inflationär, und da war ich ob Deiner Meinung prompt neugierig, wie Stifter dieses "Problem" angeht.

    "Verzicht bedeutet für Frauen die kurze Pause zwischen zwei Wünschen."

    ~ Mario Adorf

  • Habe aber gerade noch mal die ersten Seiten überflogen und bemerke die wie-Vergleiche nicht. :breitgrins:

  • Ich finds auch schön, weil ich zwar einiges von Stifter kenne (und mag), aber Witiko bisher noch nicht gelesen habe. Das werde ich wohl jetzt nachholen müssen. :zwinker:

    ... this is nat language at any sinse of the world.<br />:lesen: Gustave Flaubert: Madame Bovary&nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; :buecherstapel: [url=https://literaturschock.de/literaturforum/forum/index.php?thread/16631

  • Könntest du, Thomas, vielleicht etwas darüber schreiben, wie vergleichbar "Witiko" erzählerisch mit dem "Nachsommer" ist? Ich würde nämlich unter Umständen gerne noch etwas von Stifter lesen, leider hat mich der "Nachsommer" über weite Strecken dann doch ein wenig gelangweilt. Ich kann mir vorstellen, dass es hier anders ist, weil ich historische bzw. Gesellschaftsromane schätze und die Handlung sich im "Witiko" wohl nicht auf einen Garten und viel Beschaulichkeit beschränkt.
    Danke für deine Einschätzung!

    Tell all of my friends, I don&#039;t have too many: just some rain-coated lovers&#039; puny brothers. Dallow, Spicer, Pinkie, Cubitt - rush to danger, wind up nowhere.<br />Patric Doonan - raised to wait. I&#039;m tired again, I&#039;ve tried again...<br />and now my heart is full. Now my heart is full and I just can&#039;t explain, so I won&#039;t even try to.<br />(Morrissey)

  • 6 Jahre nach der Lektüre kein leichtes Unterfangen. Aber sprachlich sind beide Romame nicht so weit auseinander
    Mir hat diese Langeweile im Nachsommer sehr gut gefallen. Ein einmaliges Lesegefühl. Im Witiko gibt es Stellen, die nicht genraucht hätte. Der Roman ist gemeinfrei. Mich haben die ersten 50 Seiten so beeindruckt, dass ich ihn zu Ende gelesen habe. Also ausprobieren.


    Gruss Thomas

  • Hallo klassikfreund,


    deiner Besprechung stimme ich in weiten Teilen zu. Da ich den Roman vor wenigen Wochen gelesen habe, und er mir nicht aus dem Kopf geht, möchte ich noch folgendes hinzufügen:
    Stifter begegnet uns hier als Maler, denn seine Beschreibungen sind sehr bildhaft, bildhafter als ich es aus dem Nachsommer in Erinnerung haben. Öfters werden seine ausschweifenden Dialoge mit den Wiederholungen bemängelt. Nach meinem Empfinden, hat das aber dazu beigetragen, dass sich ein Leser besser in die Vorstellung von Stifter über die beschriebene Zeit hineinversetzen kann.
    Insgesamt ist es schon fast ein Drehbuch, das Stifter hier geschrieben hat, den Witiko würde ich gerne als Film, besser als Filmserie sehen.


    Stifters Leidenschaft für Idylle, sowohl was die innere Verfassung der Figuren, als auch Zeit- und Ortsbeschreibungen angehen, kann ich in diesem Werk augenzwinkernd anerkennen.

    Es grüßt<br />lost