Siegfried Lenz – Das Vorbild

  • Siegfried Lenz – Das Vorbild



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    Klappentext:


    Der Schauplatz ist Hamburg Ende der sechziger Jahre. Die Hauptfiguren sind drei Pädagogen unterschiedlichster Auffassung und Herkunft. Sie sind dabei, ein neues Lesebuch zusammenzustellen. Über die beiden ersten Teile „Arbeit und Feste“, „Heimat und Fremde“ sind sie mühelos einig geworden. Das dritte Kapitel „Lebensbilder – Vorbilder“ wirkt kaum zu bewältigende Schwierigkeiten auf. Wer kann heute Vorbild sein? Der kühne Pionier, der todesverachtende Held, ein sich überwindender Schwächling?
    Zu dem Dilemma ihrer anfechtbaren Vorbilder kommen bei den drei Kollegen noch persönliche Probleme. Der pensionierte Schulrat Valentin Pundt versucht Motive zu finden für den Selbstmord seines Sohnes. Die Lektorin Rita Süßfels muss erkennen, dass guter Wille und Hilfsbereitschaft auch zerstörerisch sein können. Und der junge Lehrer Jan Heller, der sich so witzig und kaltschnäuzig gibt, wird mit seiner gescheiterten Ehe nicht fertig.
    Hamburg im November. Da gibt es spukhafte Szenen an der Alster, da wird protestiert gegen die Erhöhung der Straßenbahntarife, da geraten Tausende in Verzückung, wenn ein Pop-Sänger von der schönen heilen Welt schluchzt.
    Am Schluss sind nur noch zwei Lesebuch- Herausgeber tätig. […] hat resigniert. Er liegt im Krankenhaus, „eine kolossale norddeutsche Mumie im Druckverband“, weil er einem von Rockern belästigten Paar zur Hilfe kam. Die beiden anderen einigen sich – und müssen dann vor ihrem Verleger kapitulieren.
    Gibt es heutzutage keine Vorbilder mehr? Der Leser darf weiterdenken: über die Moral, über Zeitläufe, über die Werte, über ein Buch, das viel Exemplarisches unserer Zeit vereint.


    Meine Rezi:


    Ich habe den Namen des Kollegen, der ausscheidet im Klappentext absichtlich weggelassen, da es so spannender ist, man sich sehr lange fragt, wer von den dreien es wohl sein wird, der geht.
    Ein Spoiler wäre das aber an sich nicht (kann ja jeder, der möchte selbst auf dem Klappentext nachlesen); das Buch hat, was die Handlung selbst angeht, wenig mit Spannung zu tun – zumindest nicht so sehr, wie man es von anderen Büchern (die ich mal „Trivialliteratur“ nenne – nicht böse gemeint :zwinker:) vielleicht gewohnt ist.


    Als ich anfing es zu lesen, hat es mich auch gar nicht interessiert, wen sich die drei nun als Vorbild herauspicken und warum. Ich persönlich habe mir nie viel aus Vorbildern gemacht und habe das Buch auch ein bisschen mit dem Hintergedanken angefangen, dass Lenz mir dadurch vielleicht eine große Erkenntnis verschaffen würde und ich die Sache nach dem Lesen des Buches völlig anders sehe, erst dann erkenne, was ein Vorbild denn wirklich ist oder sein kann. Unter diesem Gesichtspunkt fing ich zwar zu lesen an, meine Erwartung wurde gänzlich unerfüllt, was mich aber nicht enttäuschte, da ich im Laufe des Buches doch merkte, wie sich der Fokus vom eigentlichen Hauptthema wegbewegte und mehr und mehr zu den Protagonisten hin führte, die an sich, abgesehen von ein, zwei Taten vielleicht, wohl alles andere als Vorbilder sind, sondern einfach nur Menschen mit Problemen.


    Die Darstellung dieser drei ist unglaublich gelungen, man erfährt mit der Zeit immer mehr über die Kollegen, glaubt sie dann Szenenweise nun sehr gut zu kennen und merkt aber am Ende des Buches, dass man eigentlich überhaupt nichts über sie weiß oder doch nur beinahe so wenig, wie sie wechselseitig voneinander. Da ist Heller, der verzweifelt versucht, wieder Kontakt zu seiner Frau und Tochter aufzunehmen, sich mit ihnen trifft, jedes Mal irgendetwas davon erhofft, von dem er wohl selbst nicht genau weiß, was es ist, um dann noch nicht einmal zu merken, dass das die ganze Sache eher noch schlimmer gemacht hat. Pundt, der sich auf den Spuren seines Sohnes selbst erkennt, sich schrittweise darüber immer klarer wird, wie sein Sohn ihn gesehen hat und was er für ein Mensch ist. Oder die Beschreibungen der Rita Süßfeld, quirlig und herzlich, die jegliche Regeln des Straßenverkehres missachtet und immer überall zu spät kommt, aber für den Leser doch zu einer so angenehmen und liebenswerten Person wird.


    Was mich an dieses Buch besonders fesselte, das war weniger das Thema, sondern die Kunstfertigkeit der Sprache, der Lenz’sche Stil, der einen schmunzeln, nachdenken, wieder erkennen lässt. Wie er Situationen beschreibt, die man teilweise selbst schon erlebt hat, und wenn man es nicht hat, dann fühlt man sich beim Lesen dennoch so, als würde man das alles kennen, wieder erkennen.


    Wer gerne diskutiert, der wird dieses Buch höchstwahrscheinlich mögen, es wird nämlich, gerade am Anfang, viel über die angebrachten Beispiele gesprochen (man ist ja auf der Suche nach einem Vorbild für ein Lesebuch und bringt hierfür mehrere Geschichten zum Beispiel an), dargelegt, widerlegt, zugestimmt und verneint.
    Alle Geschichten, die vorgeschlagen werden, werden im Buch rezitiert, unterbrechen das Geschehen also immer wieder. Das war mir teilweise ein bisschen unrecht, weil ich lieber gewusst hätte, wie es mit den Hauptfiguren weitergeht, aber die Geschichten waren dann doch auch jedes Mal so interessant, dass es die Unterbrechung wert war und ich sie gerne zu Ende gelesen habe.


    Ich schrieb von der Kunstfertigkeit der Sprache, dazu möchte ich ein paar Beispielsätze anbringen, die es mir besonders angetan haben:


    „Unverhofftes Wiedersehen: da verringert sich zuerst wie von selbst die verfügbare Sprache, aufplatzende Freude verwendet unverhältnismäßig viele Ausrufezeichen, man findet Mut zu Wiederholungen und sucht nach einem Einstieg.“


    „Pundt sucht ein Ei, findet aber nur Radieschen, die er eine Weile unschlüssig anstarrt, gerade so, als ob man noch etwas anderes mit ihnen anfangen könnte, als sie aufzuessen; plötzlich beginnt er, sie in kleine Würfel zu hacken, vermischt sie ausschweifend mit dem Schinken und mutet den soeben entdeckten Brotbelag einer Toastscheibe zu.“


    „Still sitzen sie nebeneinander, den gleichen Erschütterungen ausgesetzt, beschäftigt mit dem Geschmack der Trennung. Vieles verlangt noch gesagt zu werden, die Fahrt könnte erträglicher werden durch Sprechen, ja, einige bekenntnishafte Sätze würden vielleicht den stringierenden Geschmack verändern, aber beide verzichten darauf, machen sich allenfalls knapp auf Baustellen aufmerksam oder auf zwei dunkle Limousinen mit Motorrad-Eskorte, derentwegen sie gestoppt werden.“


    Ich war vollauf begeistert und liebe Lenz’ Art zu schreiben. Mir ist aber klar, dass es nicht jedemanns Sache ist (durfte ich damals in der Realschule schon feststellen, als wir Lenz’ „Arnes Nachlass“ gelesen haben. In das Buch habe ich mich auch sofort verliebt, meine Klassenkammeraden konnten aber überhaupt nichts damit anfangen.), nicht nur wegen des Stils, sondern auch weil das Buch einen am Ende beinahe zurücklässt, als hätte man es nie gelesen. Lenz wirft einen in ein Geschehen, lässt den Leser an einem Prozess teilhaben, der am Ende zu keinem Ergebnis führt und somit hat sich eigentlich gar nichts verändert und das Ganze hat nichts gebracht. Aber dennoch, wenn ich daran denke wie viel Spaß ich an dem Buch hatte, wie begeistert ich von diesen Beschreibungen war… es hat sich auf jeden Fall gelohnt! Und am Ende: sagt man nicht immer selbst so gerne, der Weg sei das Ziel? Das ist auch in diesem Buch der Fall.


    Ich gebe daher uneingeschränkt 5ratten und danke für Ihre Aufmerksamkeit :winken: