Orhan Pamuk - Das neue Leben

Es gibt 34 Antworten in diesem Thema, welches 14.352 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von mombour.

  • Hallo!


    Kaufen* bei

    Amazon
    Bücher.de
    Buch24.de

    * Werbe/Affiliate-Links


    [hr]


    Inhalt:


    Eines Tages las ich ein Buch, und mein ganzes Leben veränderte sich. Osman, der Ingenieurstudent aus Istanbul, verfällt nicht nur dem rätselhaften Buch, sondern auch der wunderschönen Kommilitonin Canan. Er beschließt, sich auf die Suche nach der fremden Welt zu machen - ein lebensgefährliches Unternehmen.


    [hr]


    Teilnehmer:


    booki
    Saltanah
    dubh
    mombour
    PessoA


    [hr]


    Eine kurze Bitte: Damit das ein bisschen angenehmer zu lesen ist, postet erst, wenn ihr angefangen habt. Die Beiträge "Buch liegt bereit, ich fange heute Abend an" ziehen das ganze immer so sehr in die Länge.


    Interessant für Leserunden-Neulinge ist sicherlich die Leserunden-FAQ. Dort findet ihr auch Informationen z.B. zu Spoilern etc.


    Viel Spaß!

    [size=9px]&quot;I can believe anything, provided that it is quite incredible.&quot;<br />~&quot;The picture of Dorian Gray&quot;by Oscar Wilde~<br /><br />:leserin: <br />Henry Fielding - Tom Jones<br /><br />Tad Williams - The Dragonbone Chair<br /><br />Mark Twai

  • Hallo,


    Als ich das Buch zum ersten Mal aufgeschlagen hatte, fiel mir das vorangestellte Motto von Novalis aus Heinrich von Ofterdingen auf. "Das andere Leben" ist ein Roman aus der Türkei und bezieht sich offenbar auf die deutsche Romantik.


    Das erste Kapitel:
    Da geht es um das Buch von Osman, welches sein Leben verändert. Das Licht, dass aus dem Buch quillt, erinnert mich an religiöse Ekstase. Es kann natürlich auch sein, dieses Buch hat einfach das Bewusstsein des Lesers verändert: Er spürt ein anderes neues Leben, welches in den tiefen Schichten seines Seins bisher verborgen war. Dieses neue Leben birgt Gefahren, der Lichtstrom des Buches wirkt auf ihn aber auch beruhigend. Das Buch ist sicher eine Metapher. In der Welt des Buches nahm er seinen eigenen Tod war...wie eine Engelsgestalt.


    Ein Aufbruch in eine neue Welt....


    Liebe Grüße
    mombour

  • Hallo.


    Ja, mombour, ich habe es ähnlich empfunden.
    Bei mir öffnet sich hier sofort die Phantasie. Die Sprache von Pamuk ist angenehm, man ist sofort mittendrin.
    Diese völlige Wandlung beim Lesen dieses Buches kann ich gut nachvollziehen, gerade, weil es mir mit so manchem philosophischem Werk ähnlich erging. Die Welt hat sich verändert, eben weil sich der eigene Blick geändert, geweitet hat. Man sieht mit neuen Augen auf das Leben, mit anderem Wissen. Das Buch öffnet ein neues Empfinden, birgt gar kleine Antworten auf mächtige Fragen.
    Pamuk deutet den Inhalt des Buches zunächst nur an, was Freiraum zum Phantasieren lässt.


    Das Licht, das hier aus dem Buch strömt, scheint mir für den außergewöhnlichen Inhalt zu stehen, so dass der Mensch, der Lesende, geblendet wie auch erleuchtet wird.
    Auch diese Einsamkeit ist ein schönes Zeichen für das Buch, das verändert hat. Vielleicht lief hier jemand zuvor noch halbherzig durch die Welt, hinterfragte nicht, durchdachte nicht, und nun, wo sich so viel neue Sicht offenbart hat, steht man zunächst völlig alleine inmitten der anderen Menschen, für die sich nichts verändert hat, die noch laufen, wie zuvor man selbst. Und durch diese Ratlosigkeit fühlt man sich dem Inhalt des Buches noch näher.


    "Der Wegweiser durch ein wildes, fremdes Land."


    In etwa ist hier ein Mensch, der jeden Tag den gleichen Weg nimmt, auf dem er auch wieder zurückkehrt, und nun, durch das Lesen dieses Buches, eine kleine Abzweigung genommen hat, die ihn auf einmal in eine völlig fremde Gegend führt, in der er sich nicht auskennt, und die dadurch bedrohlich auf ihn wirkt. Nur das Buch leitet ihn, was ermöglicht, dass er wagt, weiterzugehen.
    Und, was passiert, wenn man erst einmal eine neue Richtung gegangen ist? Es ist nicht mehr möglich, einfach auf die gewohnte Strecke zurückzukehren, mit dem Wissen um die Abzweigung.


    Zitat

    Es ging um eine Reise, ständig ging es darum, alles war eine Reise.


    Ein Reise wohl durch die eigene innere Landschaft.


    Zitat

    So verwandelten sich beim Lesen und Weiterlesen meine Anschauungen in die Wörter des Buches und die Wörter des Buches in meine Anschauungen.


    Bei guten Büchern passiert das öfter, nicht alleine, dass man sich selbst wieder erkennt, sondern, dass man nach dem Lesen nicht mehr weiß, wie man vorher anders denken konnte, weil sich der ganze Geist gewandelt hat.


    Den eigenen Tod, den Osman hier zwischen den Zeilen wahrnimmt, empfinde ich so:
    Es ist kein eigentliches Sterben, sondern nur das Verlassen des einen Lebens, um in das andere, neue (veränderte) einzutauchen. Das passiert bei bestimmten Umschwüngen immer. In einem ganzen Leben reihen sich verschiedene Leben aneinander, die völlig abgegrenzt nacheinander folgen. Wie Räume, die sich auftun, neue Erlebnisse, die den Menschen prägen und somit verändern. Manchmal reicht schon ein Umzug in eine andere Stadt, wobei man seine alten Gewohnheiten hinter sich lässt und den neuen, sich bietenden Gelegenheiten folgt, sich neu einrichtet. Ein neues Leben, in dem das alte nur noch bedingt Platz hat. Das Buch öffnet etwas, was wir erst einmal nur ahnen können.


    Ein Aufbruch, ja... zunächst in Furcht, dann mit der Erkenntnis, dass das Leben nun bereichert ist.


    Grüße
    PessoA

    Einmal editiert, zuletzt von PessoA ()

  • Hallo zusammen,


    so ich habe die ersten 45 Seiten (sprich die ersten beiden Kapitel) gelesen und bin seltsam gespalten zu diesem Buch.


    Ehrlich gesagt habe ich noch nicht sonderlich viel türkische Literatur gelesen - auf Anhieb fällt mir nur einer meiner (vielen) Lieblingsautoren ein: Yasar Kemal - naja, und eben Orhan Pamuk. Trotzdem habe ich von diesem Pamuk irgendwie etwas anderes erwartet, ohne dass ich nun genau sagen könnte, was eigentlich genau. Aber seine Werke scheinen alle recht unterschiedlich zu sein: sie reichen von historischen Romanen über eine moderne Liebesgeschichte und politische Essays bis hin zu Kriminalhandlungen mit detaillierten historischen Fakten.


    Während des ersten Kapitels war ich nun total verwirrt: ist es ein Traum, den Osman da beschreibt? Alles wirkte auf mich so unrealistisch, beinahe phantasisch. Das soll nicht heißen, dass ich mich in einem Buch nicht schon einmal besonders aufgehoben gefühlt habe, nein, ganz und gar nicht. Aber das gleißende Licht, Osmans Abwenden von dem anziehungsstarken Buch und dessen perfektes Wirken... Ein sehr ungewöhnlicher Beginn, wie ich finde.
    Und genau das macht die Geschichte in diesem Moment unheimlich spannend: was ist das für ein Buch? Hat es etwas mit seinem Studium zu tun, da er ja eigentlich lernen sollte (wobei sich dieser Gedanke relativ schnell ob seines Studienganges zerschlägt) oder ist es ein "einfacher" Roman? Fragen über Fragen und dann beginnt das zweite Kapitel - plötzlich hat Osman menschliche Begegnungen, spricht mit Leuten, beobachtet sie unter dem Eindruck des Buches. Und dann taucht da plötzlich diese Canan auf. Ist sie bloße Einbildung?
    Und eine dumme Frage: es liest sich verdammt liberal, dass eine unbekannte junge Studentin einfach so einen möglicherweise durchgeknallten, ihr fremden Mann küsst. Oder? Schließlich die Szene, als der Mann mit der Plastiktüte auf Canans Freund (?) schiesst, er zu Boden geht, dann aber wegläuft. Halluziniert Osman?


    Kurzum: ich bin total verwirrt und trotzdem so gespannt wie es weitergeht, da die Handlung in meinen Augen ziemlich interessant-abgedreht ist.


    Aber wenn es sprachlich so gut und bilderreich bleibt, dann könnte Das neue Leben vielleicht etwas für Ruiz Zafón LeserInnen sein?!


    Mit leicht verwirrten Grüßen
    dubh

    Liebe Grüße

    Tabea

  • Hallo allerseits!


    Ich habe leider erst einige Seiten gelesen, stecke noch im 1. Kapitel.
    Osman (der bisher noch namenlos ist), erlebt anscheinend eine umwerfende Änderung seines Lebens. Gut gefällt mir, dass diese Änderung durch ein Buch ausgelöst wurde und natürlich frage ich mich, welches Buch das denn sein könnte. Andererseits nehme ich an, dass dies völlig unwichtig ist; es kommt vielmehr darauf an, auf das richtige Buch (den richtigen Gedanken) zur richtigen Zeit zu stoßen. Dann, wenn LeserIn und Buch sich perfekt treffen, ist alles möglich, dann hat man das Gefühl, das Buch wäre genau für einen selbst geschrieben. Zu einer anderen Zeit hingegen könnte dasselbe Buch keinen oder nur einen geringen Einfluss auf das Leben haben.


    Es überraschte mich zu lesen, dass Osman erst 22 Jahre alt ist. Die ersten Sätze erzeugten in mir den Eindruck, er wäre schon älter. Allerdings habe ich den Beginn noch einmal gelesen und festgestellt, dass er von einem früheren Erlebnis erzählt, wobei unklar ist, wie lange dieses Erlebnis her ist. "Einmal las ich ein Buch und mein ganzes Leben änderte sich" (wie es in meiner schwedischen Übersetzung, von mir selbst ins Deutsche übersetzt heißt), lässt den Zeitpunkt der Ereignisse offen.


    Das deutsche Cover finde ich übrigens potthässlich. Das schwedische Cover gefällt mir viel besser. Schwer vorstellbar, dass sie zu dem gleichen Roman gehören.


    Leider habe ich zur Zeit zu Hause Probleme mit meinem Internetzugang. Da ich nächste Woche frei habe (also nicht auf der Arbeit surfen kann), werde ich mich nur von einem Internetcafé aus hier beteiligen und also nicht so oft hier sein können, wie ich es gerne hätte. Lesen werde ich das Buch aber auf jeden Fall und mich so oft wie möglich hier melden.

    Wir sind irre, also lesen wir!

    Einmal editiert, zuletzt von Saltanah ()

  • Hallo,


    jetzt geht es ja so schön los :smile:



    Wenn man erstmals in ein Pamukbuch hüpft, weiß man vorher nie, was einem wirklich erwartet. Er hat zwar Kriminalhandlungen und historische Fakten in seinen Romanen, kann aber nie als Krimiautor oder Autor historischer Romane durchkommen. Damit würden wir es uns viel zu einfach machen und wäre auch falsch. In Pamuks Romanen geht es immer um Orient und Okzident, um eine Vermischung der Pole (wie in "Die weiße Festung"). Er tanzt zwischen Ost - und Westkultur und kennt sich mit beiden aus. Ein Vergleich mit Ruiz Záfon ist eine Unmöglichkeit :breitgrins:, gerade schon aus den genannten Gründen, und zweitens, kann "Das neue Leben", so habe ich im Internet recherchiert, auf verschiedenen Ebenen interpretiert werden, das trifft bei Ruiz Záfon in dieser Weise nicht zu (übrigens habe ich den Záfon nach 90 Seiten in die Ecke verbannt, weil er mir sprachlich zu fantasielos war).


    Eine schöne Einführung in Pamuks Denken bietet der Essayband "Der Blick aus meinem Fenster"


    Kaufen* bei

    Amazon
    Bücher.de
    Buch24.de

    * Werbe/Affiliate-Links


    Bleiben wir kurz bei Heinrich von Ofterdingen, der im Traum die blaue Blume sieht, die sich später in ein Mädchengesicht verwandelt, sie wird zum Gegenstand von Heinrichs Sehnsucht: die göttliche und irdische Liebe.


    Osman liest also das Buch. Wie oben schon gesagt, vermute ich etwas mystisches in dem Licht, was das Buch ausstrahlt. Es ist etwas göttliches, er sieht ein ganz neues Leben darin, welches natürlich den Tod mit einschließt...den Tod nahm er als Engelsgestalt war. Ich nehme so etwas wörtlich. Das ist ein Hinweis auf etwas mystisch-religiöses.


    Das Mädchen Canan ist wie die blaue Blume ein Symbol für Osmans Sehnsucht nach dem neuen Leben. Die Fragen, die Canan im zweiten Kapitel stellt, wirken auf mich wie Fragen vor einem religiösen Initiationsritus:

    Zitat

    Was würdes du tun, um in die Welt im Buch hineinzugelangen?
    .....
    Würdest du zum Beispiel auch den Tod ins Auge fassen?


    Mehmet ist vielleicht erschossen worden, weil er sich dem neuen Leben verweigert und damit sein Leben nicht lebenswert erscheint.


    Die Fantasie des Lesers ist hier gefragt, wie PessoA auch schon andeutete, darum sind auch immer verschiedene Möglichkeiten einer Interpretation gegeben. Es ist wie im MÄRCHEN (Romantik!!).


    @ Schade, wegen deinem Internetanschluss......kannst du das reparieren lassen?


    Liebe Grüße
    mombour

    Einmal editiert, zuletzt von mombour ()

  • Hallo ihr Lieben,


    sehr habe ich mich auf diese Leserunde gefreut :smile:
    Ich sehe schon, wir haben hier einen Pamuk- Experten, das freut mich besonders, hallo mombour :winken:


    Ich muss sagen, dass mich die ersten paar Kapitel irgendwie an Murakamis´ surrealistischen Stil erinnern, man hat einfach das Gefühl, alles sei unwirklich.
    Besonders gut hat mir der erste Satz in dem Buch gefallen, grade wir Literaturschockler können sicher das ein oder andere Liedchen davon singen :breitgrins:


    Ich bin noch sehr gespannt, wie es weitergeht, ich melde mich nachher nochmal! :winken:

    smiley-channel.de_lesen020.gif:<br />Zeruya Shalev- Mann und Frau

  • Auch ein Hallo von mir... :winken:


    da sind ja schon ein paar schöne Ansichten zusammengekommen. Spätestens ab dem zweiten Kapitel war ich auch irritiert. Auf einmal schlägt die ganze Szene um, wo ich noch diese Tiefe des Buches erfassen wollte, ist nun das mystisch Verklärte eingetroffen, das Buch greift sich seine Leser, ein seltsames Geheimnis wölbt sich daraus hervor, irgendwie gerät alles in ein irritierendes Spektakel. Fast könnte man meinen, das Buch wird hier lebendig. Mehmet hinterlässt keine Spuren im Sand? Wird angeschossen und keiner hat etwas gesehen? Im Krankenhaus keine Spur von ihm?
    Hier kann man selbst als Leser erst einmal nur als Beobachter fungieren. Canan und Mehmet streiten sich. Er ist blaß und müde. Alles wohl Hinweise.


    Gut fand ich, wie Osman hier nur noch einen Studenten imitiert, weil alles sich verändert hat, als liefe er in eigener kleiner Welt umgeben von der großen.
    Den Verdacht auf Illusion und Osmans subjektive Sicht auf das Geschehen, ist mir auch gekommen.


    Wir sehen hier, wie sein Blick in die Welt völlig beeinflusst wird von dem, was er gelesen hat. Alles hat nun Verbindung mit der Welt aus dem Buch.
    Ich bin auch gespannt, wie es weitergeht.


    Auch muss ich sagen, dass ich Pamuks Schreibstil modern finde, was ich so gar nicht erwartet habe. Ich dachte, er schriebe "traditioneller", habe vorher noch nichts von ihm gelesen. Aber, das gefällt mir. Scheinbar ist hier der Einfluss bemerkbar, den er sich angeeignet hat, als er in Amerika gelebt hat.
    Dass hier mit Tiefe und Vielschichtigkeit gearbeitet wird, dass ein Geschehen nicht einfach als das steht, wie man es liest, macht sich in den kleinen Abschweifungen bemerkbar. Das weckt auch diese Spannung, diese Überlegungen.
    Und ein Buch, das verwirren kann, ist schon mal nicht schlecht.
    Záfon dagegen hat mir auch nichts gegeben. Pamuk gefällt mir besser. :smile:


    So ein Satz ist natürlich herrlich:

    Zitat

    Mir war schmerzhaft bewusst, dass die Kette von Eindrücken, die wir von dieser Welt bekamen, nur aus einer Serie falsch verstandener Zeichen und bestimmter blind übernommener Gewohnheiten bestand und dass sich die wahre Welt, das wahre Leben, entweder innerhalb oder vielleicht auch außerhalb davon, aber jedenfalls nahebei befand.


    Liebe Grüße
    PessoA

    Einmal editiert, zuletzt von PessoA ()

  • Hallo zusammen!



    Wenn man erstmals in ein Pamukbuch hüpft, weiß man vorher nie, was einem wirklich erwartet. Er hat zwar Kriminalhandlungen und historische Fakten in seinen Romanen, kann aber nie als Krimiautor oder Autor historischer Romane durchkommen. Damit würden wir es uns viel zu einfach machen und wäre auch falsch. In Pamuks Romanen geht es immer um Orient und Okzident, um eine Vermischung der Pole (wie in "Die weiße Festung"). Er tanzt zwischen Ost - und Westkultur und kennt sich mit beiden aus.


    Stimmt, ich möchte Pamuk auch in kein wirkliches Genre einorden - er hat einige Stilelemente verwendet, kann aber ganz sicher nicht in eine der Schubladen untergebracht werden. Dennoch denke ich, dass sein Werk sehr unterschiedlich ist, sein Kernpunkt eben die Orient-Okzident-Thematik ist - damals wie heute. Nicht umsonst wird ihm in der Türkei aufgrund seiner Reflexionen eine westliche, sehr moderne Haltung vorgeworfen, die ihm sofort auch als "Herabsetzung des Türkentums" seinerseits (siehe später eingestellter Prozeß gegen Pamuk 2006) ausgelegt wird.


    Zitat

    Ein Vergleich mit Ruiz Záfon ist eine Unmöglichkeit :breitgrins:, gerade schon aus den genannten Gründen, und zweitens, kann "Das neue Leben", so habe ich im Internet recherchiert, auf verschiedenen Ebenen interpretiert werden, das trifft bei Ruiz Záfon in dieser Weise nicht zu (übrigens habe ich den Záfon nach 90 Seiten in die Ecke verbannt, weil er mir sprachlich zu fantasielos war).


    Vermutlich hast Du recht. Ich meinte das eher unter dem Eindruck des Buches im ersten Kapitel von Das neue Leben. Irgendwie hatte dieser geheimnisvolle, mystische Umgang damit eine Assoziation zum Beginn von Der Schatten des Windes bei mir ausgelöst... Mal schauen, wie sich das ganze weiterentwickelt.
    Sprachlich liegt Orhan Pamuk nicht unbedingt auf einer anderen Ebene - aber das was hinter und zwischen seinen Zeilen steckt, seine Bilder und Deutungsmöglichkeiten, die Anlehnungen an großartige, "alte" Literatur - dies alles ist intellektuell sicherlich aus einem anderen Holz.


    Zitat

    Osman liest also das Buch. Wie oben schon gesagt, vermute ich etwas mystisches in dem Licht, was das Buch ausstrahlt. Es ist etwas göttliches, er sieht ein ganz neues Leben darin, welches natürlich den Tod mit einschließt...den Tod nahm er als Engelsgestalt war. Ich nehme so etwas wörtlich. Das ist ein Hinweis auf etwas mystisch-religiöses.


    Kurzzeitig habe ich mich gestern abend (beim lesen des dritten Kapitels) gefragt, ob es sein könnte, dass Osman vielleicht ein religiöses Werk wie z.B. die Bibel lesen könnte.


    Zitat

    Das Mädchen Canan ist wie die blaue Blume ein Symbol für Osmans Sehnsucht nach dem neuen Leben. Die Fragen, die Canan im zweiten Kapitel stellt, wirken auf mich wie Fragen vor einem religiösen Initiationsritus


    Ja, es kam mir auch wie eine Art Aufnahmeprüfung vor: erst die große Freude ob seines Interesses an diesem Buch, dann diese elementaren Fragen.


    Zitat

    Mehmet ist vielleicht erschossen worden, weil er sich dem neuen Leben verweigert und damit sein Leben nicht lebenswert erscheint.


    Mehmet zweifelt, ist nicht überzeugt von einem neuen Leben, deshalb soll Osman ihn auf Bitten Canans noch einmal überzeugen... Aber ist er deshalb auch erschossen worden? Ist er tatsächlich von dem Mann mit der Plastiktüte getötet worden? Ich bin mir, ehrlich gesagt, nicht sicher.


    Zitat

    Es ist wie im MÄRCHEN (Romantik!!).


    Das stimmt! Es erinnert mich tatsächlich an romantische Werke und der Hinweis mit dem Zitat von Novalis zu Beginn ist ja auch eindeutig.


    Leider habe ich gestern nur noch ein Kapitel geschafft, aber die geradezu verbissene Suche nach Canan hält alles nach wie vor spannend. Wohin ist sie verschwunden - ohne dass selbst ihre Familie bescheid weiß? Und was ist nun letztlich mit Mehmet passiert? Steckt vielleicht sogar Canan hinter dem Mord(versuch) an ihm?


    Übrigens, Saltanah, mich hat auch überrascht, dass Osman noch so jung ist - trotzdem scheint er schon genau zu wissen, was er für ein neues Leben zu opfern bereit ist. Kann man das nicht nur mit einem festen Weltbild, einem genauen Wissen, wo man sich selbst befindet? Reicht dafür die Lektüre eines Buches und die plötzliche Feststellung, dass man sich einsam fühlt? Oder muss so ein Wissen, so eine Sicherheit nicht erst in einem reifen?


    Fragen über Fragen. (Allerdings faszinierende, ja vielleicht sogar den Kern treffende Fragen!)


    Liebe Grüße
    dubh

    Liebe Grüße

    Tabea

  • wo ich noch diese Tiefe des Buches erfassen wollte, ist nun das mystisch Verklärte eingetroffen, das Buch greift sich seine Leser, ein seltsames Geheimnis wölbt sich daraus hervor, irgendwie gerät alles in ein irritierendes Spektakel. Fast könnte man meinen, das Buch wird hier lebendig. Mehmet hinterlässt keine Spuren im Sand? Wird angeschossen und keiner hat etwas gesehen? Im Krankenhaus keine Spur von ihm?
    Hier kann man selbst als Leser erst einmal nur als Beobachter fungieren. Canan und Mehmet streiten sich. Er ist blaß und müde. Alles wohl Hinweise.


    Und es wird noch mystischer. Der Hinweis in Kapitel Drei, Conan sei ein Engel, und dann die Sache mit dem Busunfall im vierten Kapitel (ihr werdet sehen :zwinker: ). Die Todessymbolik scheint sehr wichtig (er sucht zwischen den Toten das andere Leben). Im fünften Kapitel klärt sich noch einiges um Mehmet auf.


    Hallo,



    Kurzzeitig habe ich mich gestern abend (beim lesen des dritten Kapitels) gefragt, ob es sein könnte, dass Osman vielleicht ein religiöses Werk wie z.B. die Bibel lesen könnte.


    Ja, es wäre typisch Pamuk, wenn er an ein Buch des sufischen Mystikers Mevlana gedacht hat (vielleicht klärt sich da noch einiges auf; Mevlana wird im fünften Kapitel erwähnt).


    Liebe Grüße
    mombour

  • Mir scheint, dass Pamuk hier auch schöne Angriffe auf die Medien macht.
    Das Fernsehen mit dem kalten Licht, überall wird nur ferngesehen, wenn er durch die Strassen irrt, oder im dritten Kapitel bei Canans Familie. immer läuft der Flimmerkasten und sendet...
    Das Fernsehen also als ständiger Begleiter der Menschen, die nicht „erfüllt“ sind, während dagegen Osman das Buch liest, und zwar mehrmals und immer in den Nächten. Er tauscht somit die körperliche Ruhe, den Schlaf gegen das Lesen aus.
    Auch spricht Osman von verschiedenen Werken, die Menschen verändert haben. Es ist immer ein Schwanken zwischen der Mystik und dem philosophischen Hintergedanken, während das Fernsehen überall nur blaues, kaltes Licht ausstrahlt.
    Das Licht des Buches dagegen ist warm, durchströmt den Raum, den Menschen, genauer:

    Zitat

    Während der Lektüre schien manchmal das Licht, das dem Buch entströmte, so kraftvoll, so hell zu sein, dass ich meinte, nicht nur mein am Tisch sitzender Körper und meine Seele hätten sich gänzlich aufgelöst, sondern alles, was mich zu mir selbst machte, sei mit dem Lichtstrahl des Buches zunichte geworden.


    Ein schöner Hinweis, darauf, dass die Welt, wie Osman sie erlebt, nicht mehr nur realistisch ist.
    In Heiligenbildern wird dieser Lichtstrahl ja sehr oft verwendet. Das Licht erleuchtet einen Menschen, macht ihn zu etwas Besonderen, der Glaube als Lichtstrahl…, Trost. Hier spricht viel Mystizismus, so kann ich mir gut vorstellen, dass das Buch eben diesen Inhalt enthält.
    Schön, wie wir hier darüber spekulieren, was? :breitgrins:


    Liebe Grüße
    PessoA

    Einmal editiert, zuletzt von PessoA ()

  • Hallo PessoA,


    die Sache mit dem Fernseher hast du sehr schön wiedergegeben. Bei Canans Eltern entdeckt Osman ein Bild von Canan, auf dem sie mit Engelsflügeln dargestellt ist. Ein Hinweis, dass Canan etwas göttliches ist, und Osman strebt danach.


    Im wikipedia-Artikel über Sufismus habe ich gelesen, für einen Sufi ist Gott "der Geliebte", der Sufi ist "der Liebende". Die vierte Stufe des Sufismus ist "das Sterben des Ego" (Todessymbolik) und die vierte Stufe "Auflösung in das göttliche Prinzip". Vielleicht ist die vierte Stufe das andere Leben.


    Reine Spekulation :breitgrins:, aber Orhan Pamuk schreibt im schwarzen Buch ebenfalls über Sufismus u.ä. (übrigens verschwindet dort die Frau des Protagonisten).


    Liebe Grüße
    mombour


  • Die Todessymbolik scheint sehr wichtig (er sucht zwischen den Toten das andere Leben).


    Das vierte Kapitel ist fast komplett von rastlosem Umherfahren, Unfällen, Sterbenden und Toten erfüllt. Ehrlich gesagt kam es mir bei Osman schon wie Todessehnsucht vor: er sucht die unsichersten Gefährte, die müdesten Fahrer und die riskantesten Strecken, nur um einen weiteren Unfall zu erleben und damit in sein neues Leben hinüberzuschreiten. Ich denke, er sucht nicht das andere Leben zwischen den Toten, sondern er sucht den Tod selbst.
    Was mich allerdings stutzig macht, sind seine beiden Diebstähle, die er an den toten Männern begeht. Vermutlich braucht er das Geld um sein ewiges Hin-und Herfahren zu finanzieren, aber dass er Tote beklaut finde ich a) makaber und b) gar nicht so rein und strahlend, wie das Leben nachdem er sich sehnt.
    Auch sein Ergötzen an all den Leichenteilen - Lenkräder zwischen Gedärmen, ... - macht ihn mir zusehends unsympathisch.


    Zitat

    Ja, es wäre typisch Pamuk, wenn er an ein Buch des sufischen Mystikers Mevlana gedacht hat (vielleicht klärt sich da noch einiges auf; Mevlana wird im fünften Kapitel erwähnt).


    Ach du lieber Himmel, mit Sufismus kenne ich mich so gut wie überhaupt nicht aus - ich erinnere mich nur dunkel an einige Stunden mit diesem Thema während des Ethik-Unterrichts. Mevlana? a015.gif Ich glaube, ich muss bei Gelegenheit mal ein bißchen recherchieren...



    Die Fernseher, die überall laufen, wo Osman auftaucht, sind mir auch schon aufgefallen. Ich dachte auch sofort an eine Medienkritik, die deutlich machen soll, wie es sich zwischen dumpfer TV-Beschallung und einer erhellenden Lektüre verhält. Verkürzt ausgedrückt... :zwinker:



    So, denn mal auf ins nächste Kapitel - ich bin gespannt, was mit Mehmet passiert ist.



    Liebe Grüße
    dubh

    Liebe Grüße

    Tabea

  • So ich habe jetzt für heute noch bis Seite 108 einschließlich (also Kapitel fünf und sechs) gelesen.


    Die Geschichte bleibt spannend: endlich erfährt man etwas mehr über Mehmet - wobei mich hier die Zufälle etwas genervt haben. Zuerst trifft Osman Canan einfach so wieder und das auch noch in einem verunglückten Bus. Ich muss schon sagen, dass die beiden ob der -wie mir scheint- sehr häufigen Busunfälle ganz schönes Glück haben, sich nahezu unverletzt in einem Omnisbus wiederzusehen.
    Komisch erscheint mir hierbei auch mal wieder, dass sie keinerlei Anstalten machen, den Sterbenden zu helfen, ihre Not ein wenig zu lindern oder einfach bei ihnen zu sein. Osman und Canan betrachten die Szenen als eine Art abstraktes Trieben, dem sie ebenso wie den Fernsehfilmen zuschauen können, oder wie darf ich das verstehen?
    Zurück zu den Zufällen: Canan hat also bei einem Verkäufer eine Eingebung, erinnert sich plötzlich an die unterbewußt gehörten Schüsse, eilt zum Tatort zurück und anschließend sogar ins richtige Krankenhaus. Doch Mehmet scheint sich ihr bereits zu entziehen, flüchtet vor ihrem nächsten Besuch.


    Im sechsten Kapitel bereisen Osman und Canan schon drei Monate sämtliche Ecken der Türkei und geben sich mit wahrscheinlich ziemlich dilettantischen Recherchen zufrieden. Wahrscheinlich hoffen sie Mehmet auf demselben Weg wiederzusehen, wie sie sich getroffen haben!? :zwinker: Dann ereignet sich erneut ein Unfall und die beiden treffen auf das junge, sterbende Mädchen, dass ihnen -nachdem sie Canan irgendwie zu erkennen scheint- ebenfalls über das Buch erzählt und schließlich noch von ihrem Verrat daran. Ist Mehmet vielleicht auf so einem ähnlichen Weg wie der Geliebte des sterbenden Mädchens? Hat er anfangs nicht auch gezweifelt und Osman sollte nach Meinung von Canan dazu herhalten, ihn von der Richtigkeit des neuen Lebens zu überzeugen?


    Offensichtlich nimmt die Geschichte nun vermehrt Fahrt auf: Osman und Canan fahren nun anstelle des Mädchens und ihres Freundes in das Städtchen Güdül, um dort an einer Art Treffen gegen das Buch teilzunehmen. Ob sie dort Mehmet finden? Dann könnte es vielleicht gefährlich für sie werden, da sie ja immer mit dem Buch und für das Ziel, ein neues Leben zu erlangen, unterwegs sind... Und das die Gegner der Buches vor nicht zurückschrecken, hat man bei den Schüssen auf Mehmet ja schon geahnt.


    Die Fernsehkritik wird im übrigen noch deutlicher - auch wenn die beiden Suchenden selbst immer häufiger fernsehen.


    Liebe Grüße
    dubh

    Liebe Grüße

    Tabea

  • Hallo.


    Ich überlege die ganze Zeit, ob Osman vielleicht bei dem Busunfall ums Leben gekommen ist, dieses ganze Verwirrspiel um Suchen und Finden, Weltenwechsel...


    Zitat

    Was ist Zeit? Ein Unfall! Was ist Leben? Eine Zeit! Was ist der Unfall? Ein Leben, ein neues Leben!


    Auch die Fahrten, die Osman mit den vielen Bussen macht, die immer wieder auf dieses Erlebnis zurückführen, die zerschmetterten Körper, diese ganze Auseinandersetzung mit Tod und Sterben, verwirren.
    Dass er die Toten beklaut spricht für eine recht grausame Lebendigkeit, trotzdem bewirkte der Wandel durch das Buch am Anfang ja auch, dass er die echte Welt nicht mehr ernst nimmt und fremde Menschen anlügt, aus seinem toten Vater einen grausamen Menschen macht, dessen Tod ein Glück für Mutter und Sohn ist.
    Diese Wirkung des Buches...


    Osman stellt nun fest, dass die Busfahrten ihn nicht weiterbringen und sucht stattdessen direkt die Unfallstellen auf. Er sucht also die Schnittstelle zwischen Leben und Tod, um Canan wieder zu begegnen.
    Ist das nicht ein Zeichen, dass sie vielleicht alle drei (einschließlich Mehmet) nicht mehr lebendig sind?
    Osman sieht immerhin Geister und Tote.


    Erst einmal
    mit Grüßen
    PessoA

    Einmal editiert, zuletzt von PessoA ()

  • Warum ich auch über den möglichen Tod nachgedacht habe, war diese Suche inmitten dieser ganzen Unfälle. Wie kann ein Mensch denn immer wissen, wo sich gerade ein Unfall ereignet?
    Aber, man darf Pamuk hier wohl auch nicht zu wörtlich nehmen oder hinter allem etwas deuten und vermuten.
    Osman und Canan reisen ja nun gemeinsam, und das Buch birgt eben den Abgrund des Todes.
    Trotzdem muss man bedenken, dass Osman das Buch ja auch nicht mitgenommen hat. Vielleicht liegt er darüber gebeugt und schläft und träumt alles nur.
    Aber schöne Sätze dazwischen:


    Zitat

    Ich schwebte (…) zwischen Wachen und Schlafen, dem Träumen näher als dem Schlaf, den Geistern der Finsternis draußen näher als den Träumen.


    Zitat

    Der Mensch tut meist das Gegenteil von dem, was er denkt oder was er zu tun glaubt. Wenn du in jenes Land gehst, kehrst du zu dir selbst zurück, während du glaubst, das Buch nur zu lesen, schreibst du es von neuem, ich helfe, sagst du, und verletzt… Die meisten Menschen wollen im Grunde genommen weder ein neues Leben noch eine neue Welt. Deswegen ermordeten sie den, der das Buch geschrieben hat.


    Zitat

    Die Liebe (…) gibt dem Menschen ein Ziel, holt die Dinge des Lebens aus ihm heraus und führt ihn, wie ich jetzt weiß, schließlich zum Geheimnis der Welt.


    Und auch dieser Satz, ein Hinweis:

    Zitat

    Er hat mir erzählt, dass seine eigene Befreiung, sein erster Schritt hinaus ins neue Leben durch einen Verkehrsunfall verwirklicht wurde... Richtig, Unfälle sind ein Überschreiten, Unfälle sind eine Pforte ... In dem magischen Moment des Überschreitens erscheint der Engel, und ebenda wird vor unseren Augen der eigentliche Sinn des chaotischen Zustandes, den wir Leben nennen, deutlich.


    Sie schweben auf jeden Fall irgendwo zwischen zwei Welten.
    Die Spannung hält an.


    Liebe Grüße
    PessoA

    Einmal editiert, zuletzt von PessoA ()

  • Hallo,


    ja, ich glaube auch, sie schweben zwischen zwei Welten, vielleicht wissen sie auch deshalb, wo Bussunfälle stattfinden. Osman hat, da er den Kontakt zu Canan gefunden hat, den Bezug zur anderen Welt kontaktiert.


    In Kapitel sechs wird bestätigt, was wir vermutet haben, worum es geht. Von den Worten des sterbenden Mädchens auf Seite 104 bin ich so begeistert, dass ich zum PC hüpfen musste. Den Text muss ich mal spoilern, weil es eine zentrale Aussage des Buches ist. Hier aber nur einen Ausschnitt:



    Toll, das versteht man auch ohne Sufismus :zwinker:.


    Und diese Sache mit dem Fernseher in Kapitel sechs: Pamuk zieht in einer Satire gegen unsere Gesellschaft los, die ihren Lebenssinn nur im materiellen Gütern findet, und die Küsserei in den Videos ist nur ein Abklatsch von der Liebe Gottes.


    Das Metaphysische auch ganz deutlich schon in Kapitel fünf:


    Zitat

    Doch nach der Lektüre des Buches sah ich auf einmal, was hinter den Dingen war...


    Hat das etwas mit Kant zu tun? (oder mit dem August am Fuße der Leiter :breitgrins: ).


    Jetzt hat mich Pamuk voll am Schopf gepackt und lese gespannt weiter....


    Liebe Grüße
    mombour

  • Hallo alle miteinander, hallo mombour,


    so gesehen, schimmert Kant durch alles durch. Ein anderes Leben. Das "Hinter-den-Dingen". Der Mensch, der im Vordergrund sucht, ohne den Hintergrund zu berücksichtigen.
    Wenn man sich diese ganze Geschichte mal so vor Augen hält, erscheinen alle Menschen, die das Buch nicht gelesen haben, an ihren Stumpfsinn, an ihre Normalität und ihre Gewohnheiten gekettet, während die, die das Buch gelesen haben, eine völlig neue Erfahrung machen.


    Gerade im sechsten Kapitel kam ich wieder in die Überlegung.
    Wenn nun Canan ein Engel ist (oder so erscheint), und Osman sie gefunden hat, also sieht, schon ganz am Anfang in der Schule, dann ist Osman vielleicht sogar schon vorher gestorben, und das Buch ist ein Totenbuch, eine Suche nach einer anderen Dimension, die Suche nach dem "Paradies"?


    Noch eine Spekulation (denn das gefällt mir an diesem Buch am allermeisten, dass mein Kopf und meine Phantasie ständig arbeiten, angeregt sind): Vielleicht ist Mehmet gar ein Abbild von Osman?


    Auf jeden Fall scheint der Unfall und der Tod Menschen in die Welt des Buches zu führen, nein, vielmehr scheint das Buch vorher etwas geöffnet zu haben, wodurch Menschen sich nach dem Tod sehnen, oder ihn erwarten.
    Schlägt da jemand das Buch auf und sieht Charon?
    Ist das Lesen oder Entdecken des Buches vielleicht eine Ankündigung des baldigen Todes?


    Ach, es ist unheimlich spannend.


    Nochmal zu dem Engelhaften:
    Das sterbende Mädchen sagt zu Canan:
    "Wie schrecklich ihr seid, ihr Engel..."
    Auch hier die Vieldeutigkeit. Meint sie das Verallgemeinterte, also Canan und ihresgleichen, oder meint sie Canan und Osman?


    Auch, als Canan und Osman im Kapitel davor auf einmal ihre gute Seite zeigen und auf den Bahnhöfen den Leuten helfen, für sie die Fahrkarten besorgen, auf ihre Taschen aufpassen etc. ... Da ahnt man schon, dass sich hier zwei Seiten zeigen. Einmal Osman, der Geld von Toten klaut, lügt... Dann Canan, die ihre Familie verlässt. Und dann das Hilfsbereite, das Leuchten aus Canans Gesicht.
    Auch die Müdigkeit der Leser... Ausgelaugt, weil kurz vor dem Sterben? Schon tot?
    Das Buch birgt auf jeden Fall eine dunkle Welt und löst unterschiedliche Reaktionen aus. Auch Hass und Schuldzuweisung.
    Wir erfahren aber, dass nur die Dinge wichtig sind, die der Mensch während des Lesens erkennt. Und genau das kann man vielleicht auch auf uns und das Lesen dieses Buches beziehen. Jeder sieht hier etwas anderes, erlebt die Dinge unterschiedlich.


    Liebe Grüße
    PEssoA

    Einmal editiert, zuletzt von PessoA ()

  • Hallo,


    Osman = Mehmet ist durchaus denkbar, zumal das Motiv des Doppelgängers bei Pamuk sehr beliebt ist. Osman kam in die Wohnung von Canans Eltern, und jetzt kommen Osman und Canan in die Wohnung vom Mehmets Vater. Eine Motivwiederholung. Das andere, sie nehmen die Pässe von zwei Verstorbenen mit und nehmen ihre Namen an.


    Canan klagt, das die Leute denken, Mehmet sei tot, für Canan ist er nur in eine andere Welt gegangen (Er schaut in die Augen des Kerberos :zwinker: ).


    In Güdül wird befürchtet, Canan und Osman könnten durch ihre Botschaft vom neuen Leben religiöse Traditionen brechen (Seite 127). Osman wird gefragt, ob er an Allah glaube und weicht dieser Frage aber geschickt aus, denn die Frage nach dem neuen Leben ist unabhängig von jeder Religion. Darum sind die Traditionsbewussten hier ein wenig engstirnig, wenn sie stur nach Schema F gehen. Pamuk verbindet im Roman die Todessehnsucht der Romantiker mit den Vorstellungen des Sufismus (glaube ich jedenfalls). Ich will mal nachforschen, ob es im Islam Engel gibt (sonst wär' es ja ein rein christlicher Begriff). Ich spüre hier eine Verknüpfung zwischen Orient und Okzident. Einigen Türken gefällt ja so was heutzutage garnicht.


    Liebe Grüße
    mombour

  • Osman = Mehmet
    Möglich, auch aus den Reaktionen von Canan geschlossen. Zum Beispiel hier, als Osman sie geküsst hat und sie sich wehrt (man bedenke, dass sie ihn am Anfang zuerst geküsst und dadurch einiges ausgelöst hat):

    Zitat

    Nein, nein, mein Lieber, (...) du bist nicht er, auch wenn du ihm sehr ähnlich bist. Er ist an einem anderen Ort...


    Wenn er sich gewandelt hat, ob tot oder anders, kann er sich aus Mehmet in Osman verändert haben.


    Oder an anderer Stelle erklärt sie:

    Zitat

    Ich reise in Mehmets anderes Leben. Aber in jenem Leben war er nicht Mehmet, sondern ein anderer.


    Die Verbindung mit dem Sufismus scheint mir auf jeden Fall richtungsweisend durch das Buch. Ganz grob abgeleitet von den vier Stufen kann man das Buch hier schon im übertragenen Sinn mal erörtern:


    1. Auslöschung der sinnlichen Wahrnehmung (hier beim Lesen des Buches, das den Wandel bewirkt und mit neuen Augen blicken lässt)
    2. Aufgabe des Verhaftetseins an individuelle Eigenschaften (Zunächst die Veränderung und der neue Blick, der bewirkt, dass man anders läuft und aufmerksamer den ganzen "Stumpfsinn" wahrnimmt. Dann, die Suche. Osman und co begeben sich auf die Suche nach der anderen Welt. Die Aufgabe ist das gemeinsame Erreichen. Die Menschen, die das Buch gelesen haben, lassen Haus, Familie, Leben hinter sich, geben also ihre Gewohnheiten, ja fast ihre Individualität auf.)
    3. Sterben des Ego. (Und wo sie ihre Besitztümer hinfort geschmissen haben, finden sie die Erlösung durch einen abstrakten Tod, das Ich ist nicht mehr wichtig, weil das Ich vom Buch geleitet, bestimmt wird, sich in dieses wandelt)
    4. Auflösung in das göttliche Prinzip. (Möglich, dass das Finden hier genau das birgt. Die Menschen, auf die Canan und Osman stoßen, wissen, dass sie sterben, wofür sie sterben und wollen auch sterben. Loslassen, Auflösung).


    Auch hier die Verbindung:

    Zitat

    Das oberste Ziel der Sufis ist, Gott so nahe zu kommen wie möglich und dabei die eigenen Wünsche zurückzulassen. Dabei wird Gott bzw. die Wahrheit als „der Geliebte“ erfahren.

    (Wikipedia)
    Canan - die Geliebte = die Wahrheit.



    Und hier:

    Zitat

    Durch die Liebe wird der Sufi zu Gott geführt, wobei der Suchende danach strebt, die Wahrheit schon in diesem Leben zu erfahren und nicht erst auf das Jenseits zu warten. Dies spiegelt sich klar in dem Prinzip zu sterben bevor man stirbt wieder, das überall im Sufismus verfolgt wird.


    Sie sterben, ohne wirklich zu sterben.
    Und geführt wird Osman von seiner Liebe zu Canan.


    Liebe Grüße
    PessoA

    Einmal editiert, zuletzt von PessoA ()