Per Olov Enquist - Das Buch von Blanche und Marie

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    Die Besetzung ist hochinteressant: Marie Curie, die als einzige Frau zwei Nobelpreise erhielt, und Blanche Wittman, berühmtestes "Medium" des Pariser Nervenarztes Charcot und spätere Assistentin von Marie Curie bei der Erforschung des Radiums.


    Als Blanche bei Marie einzieht, sind beide vom Schicksal schwer gebeutelt. Blanche mussten wegen der fortschreitenden Strahlenschäden sukzessive beide Beine und ein Arm amputiert werden, Marie hat ihren Mann bei einem Verkehrsunfall verloren und mit dem Bekanntwerden ihrer Affäre mit dem verheirateten Forscher und Familienvater Paul Langevin trotz ihrer großen Forschungserfolge jegliches Ansehen bei der Bevölkerung verloren.


    Jahre nach Blanches Tod beschäftigt sich der namenlose Erzähler mit den Papieren aus Blanches sogenanntem "Fragenbuch", drei Notizbüchern mit Aufzeichnungen über Dinge, die sie in ihrem Leben beschäftigt haben: ihre Hassliebe zu Charcot, der bei öffentlichen Sitzungen an ihrem Beispiel die Psyche der Frau erforschen wollte, indem er sie in Trance versetzte; ihre Arbeit bei und Freundschaft mit Marie Curie; Fragen der Liebe und des Lebens im allgemeinen.


    Eine wunderbare Idee und faszinierendes Personal, nicht nur die beiden Hauptpersonen, sondern auch zahlreiche andere Größen der Medizin und Naturwissenschaft aus jener Zeit, über die ich noch einiges nachlesen möchte.


    Leider konnte ich mit dem Stil überhaupt nicht warmwerden. Ungeordnet scheinende Zeit- und Gedankensprünge, vage Andeutungen und ein Übermaß an Satzfetzen, die durch hingestreute Ausrufezeichen aneinandergereiht werden und deren Sinn sich mir oft nicht erschlossen hat, wie etwa diese Passage:


    Der Punkt! von dem aus die Geschichte betrachtet wurde und wirklich wurde! einen Meter von dem Tisch entfernt, an dem sie einst! als Pierre noch lebte! den geheimnisvollen Stoff entdeckt hatte, der! und das blaue radioaktive Licht! war dies denn nicht der richtige Punkt, um die Angst zu überwinden!


    Als sparsam verwendetes Stilmittel sicher nicht schlecht, aber in der Häufung für mich irgendwann nur noch ärgerlich.


    Leider von mir keine Empfehlung, hier wurde durch den seltsamen Stil Potential für einen wunderbaren Wissenschaftsroman verschenkt.


    2ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Das Buch von Blanche und Marie


    Als Ausgangspunkt für den Roman, in dem es um die Natur der Liebe geht, wählt per Olov Enquist drei historische Figuren. Es geht um Blanche Wittman, die als Sechzehnjährige als Hysteriepatientin in die Pariser Nervenklinik „Hôpital Salpêtrière“, kam, und wie Henry F. Ellenberger in „Die Entdeckung des Unbewussten“ mitteilt, „rasch eine der berühmtesten Versuchspersonen Charcots wurde und den Spitznamen >la reine des hystériques< bekam.“ Jean Martin Charcot (1825-1893), der durch seine Forschungen die Entwicklung der Neurologie nachhaltig beeinflusst hat, z.B. die Multiple Sklerose gegenüber anderen neurologischen Krankheiten abgrenzte, forschte auch nach einer organischen Ursache für Hysterie. Im Roman wird erzählt, Charcot zeige Blanche eine Ovariumpresse aus Leder, die am Unterleib von Frauen angebracht werde. Durch anziehen von zwei Schrauben werde das Lederkissen die Gebärmutter der Frau zusammendrücken, „gegen das hysteroide Zentrum gepreßt, um die Anfälle zu stoppen.“


    Legendär und umstritten sind Charcots öffentliche Experimente mit Hysteriepatientinnen. Frauen waren hier mehr oder weniger Versuchspersonen, die auch noch öffentlich zur Schau gestellt wurden. Im Roman heißt es:


    Zitat von "Per Olov Enquist"

    Das Gerücht von diesen Experimenten hatte sich unter den Intelektuellen in Paris verbreitet, und das Gerücht hatte besagt – dies war im Herbst 1886 – das jetzt Experimente durchgeführt würden, die zeigten, daß die Frau >gewissermaßen als eine Maschine zu betrachten sei, daß bestimmte Empfindungen durch maschinelle Einwirkungen hervorgerufen werden konnten, so daß man durch Druck auf bestimmte, sinnreich erdachte Punkte einen Gefühlsausbruch provozieren konnte.Und diese Gefühle konnten nicht nur herbeigerufen, sie konnten auch zurückgerufen werden, so daß die hysterischen und konvulsivischen Anfälle auf diese Weise bewiesen, daß die Frau, gerade durch ihre Flucht in die Hysterie und durch ihren wissenschaftlich kontrollierten Rückzug aus derselben, verstanden werden konnte, daß die Zeichen abgelesen und kontrolliert werden konnten<


    Allerdings besagte, nach Enquist, dieses Gerücht nicht alles. Charcot ging es letzten Dinges schließlich um das Innere des Menschen, welches aufgesucht werden könne. Mir kommt das allerdings etwas konfus vor. Was meint er denn, mit dem Inneren des Menschen? Vielleicht geht es hier schon um die Natur der Liebe. Denn, so erzählt Enquist, der schwedische Schriftsteller August Strindberg sei bei einem Experiment anwesend gewesen, der sich mit der Natur der Frau und der Liebe beschäftigt habe. Mit der Natur der Liebe beschäftigt sich auch Blanche Wittman in ihrem (von P.O: Enquist ausgedachten) Fragebuch, welches sie nach dem Tod von Charcot begonnen hatte und dieses fiktionale Buch das Zentrum des Romans bildet.


    Fiktional ist auch Blanches Begegnung mit der zweifachen Nobelpreisträgerin Marie Curie (1867 - 1934), die mit mit ihrem Ehemann Pierre die chemischen Elemente Polonium und Radium entdeckte. Blanche habe, so Enquist, in Marie Curies Labor gearbeit. Henry W. Ellenberger schreibt, Blanche habe in der Salpêtrière in einem radiologischen Labor gearbeitet, sei deswegen „eins der ersten Opfer des Radiologenkrebses“ gewesen.

    Zitat von "Henry F Ellenberger"

    Ihre letzten Jahre waren ein Leidensweg, den sie hinter sich brachte, ohne das geringste hysterische Symptom zu zeigen. Sie mußte eine Amputation nach der anderen über sich ergehen lassen und starb als eine Märtyrerin der Wissenschaft.


    Ob Blanche Wittman sich ihre Erkrankung im Laboratorium des Krankenhauses oder fiktional in Marie Curies Laboratorium lässt Enquist offen.


    Blanche Wittman will in ihrem Fragebuch, die Natur der Liebe ergründen und erzählt von ihrer (fiktiven) Liebe zu Charcot, die sich nur in ihrem Kopf abspielt, und von den Lieben der Marie Curie. Von ihrem Mann Pierre, der bei einem Verkehrsunfall umgekommen ist und ihrer Liebesaffäre zu Paul Langevin, die ihr fast ihr gesellschaftliches Ansehen gekostet hat. Sie wurde sogar gebeten, den Nobelpreis von 1911 nicht anzunehmen. Im Roman sollen wohl die verschiedenen Dimensionen und Auswirkungen der Liebe abgetastet werden, die in Verderben und Tod führen kann.


    Zitat von "Per Olov Enquist"

    Teilt man sein Dunkel mit dem, den man liebt, entsteht manchmal ein Licht, das so stark ist, das es tötet. Du solltest es wissen, Marie. Du hast ja dieses tödliche blaue Licht gesehen.


    Diese Verknüpfung zwischen dem Licht des Radiums und tödlichen Auswirkungen der Liebe, hat mir schon gefallen. Natürlich hinterfragt Marie, ob das dann wirklich Liebe sei.


    Die Aussagen über die Liebe bleiben in diesem Roman recht fragmenthaft. Der Roman reift nicht zu tieferen Dimensionen der Liebe hin. So fragmenthaft der Roman erzählt wird, so wird die Natur der Liebe nur bedeutungslos angeschnippelt. Zu tiefen sinnhaften Aussagen kommt der Roman nicht. Die Liebe bleibt amputiert und verletzbar, wie Blanches Torso. Interessant ist in erster Linie die historische Einbettung.


    Liebe Grüße
    mombour

    Einmal editiert, zuletzt von mombour ()

  • Klappentext:
    Auf unerhörte Weise erzählt Per Olov Enquist in seinem neuestem Roman vom tragischen Schicksal zweier berühmter Frauen: Marie Curie, Entdeckerin des Radiums. Blanche Wittman, Lieblingspatientin des berühmten Nervenarztes Professor Charcot an der Pariser Salpêtriére. Beide sind gezeichnet von dem, was dem Jahrhundert als Fortschritt erscheint, und von der Liebe. Als Blanch erkrankt, beginnt sie ein Buch über die Liebe zu schreiben, in dem sie von Marie Curies Affäre erzählt, von ihrer eigenen Liebe zu Charcot und dem Geheimnis um seinen Tod.


    Inhalt:
    Wir begleiten den Erzähler, der die Tagebücher von Blanche Wittmann findet, sie liest, kommentiert und immer wieder Auszüge aus ihnen präsentiert. So entsteht kaleidoskopartig die Geschichte um diese beiden Frauen, die jeweils auf ihre Art und Weise zur Wissenschaftsgeschichte des beginnenden 20. Jahrhunderts beigetragen haben.


    Meine Meinung:
    Mein erstes Enquist-Buch und stilistisch habe ich wirklich einige Zeit gebraucht, um in den Roman zu finden. Dabei hat mich die Geschichte der beiden aber nie losgelassen und ich wollte mehr über sie erfahren und dabei auch mehr über den Erzähler, die so pointiert kommentiert und sich so deutlich auf Marie Curies Seite stellt. Thematisch so gut präsentiert, dass man geneigt ist zu vergessen, dass der Roman zwar viele Fakten nutzten, aber letztendlich ein Roman bleibt und das Zusammentreffen dieser beiden Frauen in der Wirklichkeit wahrscheinlich nie stattgefunden hat.
    Ein Buch, das sich zu lesen lohnt – allerdings muss man den Sprach- und Schreibstil mögen bzw. bereit sein sich auf diesen einzulassen.


    4ratten