Marcel Beyer - Flughunde

Es gibt 6 Antworten in diesem Thema, welches 8.746 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Rydal.

  • „Flughunde“ - Roman einer Parallelwelt zwischen Realität und Fiktion
    Inhaltliches:


    Abwechselnd erzählen der Stimmforscher Hermann Karnau und die Tochter des Propagandaministers, Helga Goebbels, von ihrem Leben unter dem Hitler-Regime. Der Tontechniker beschäftigt sich intensiv mit der Aufzeichnung und Erforschung menschlicher Stimmen. Sein Plan ist es, eine Karte zu erstellen, die alle möglichen Laute (Klagelaute, Hustlaute, usw.) kartographiert. Zunächst benutzt er Pferde- und Schweineschädel und seziert diese, um die Funktion des Kehlkopf zu erforschen.


    Bei Großkundgebungen Goebbels` hat er dafür zu sorgen, dass der Redner auf allen Plätzen gut zu hören ist. Goebbels ist mit seiner Arbeit sehr zufrieden, und als seine Frau Magda das 6. Kind entbindet, vertraut er die fünf anderen Kinder vorübergehend Hermann Karnau an. Durch seine Bekanntschaft mit Goebbels wird Hermann die Möglichkeit geboten, dass er um eine Einberufung als Soldat umhin kommt. Karnau nutzt im Weiteren die Parteilinie auf unmenschliche Weise, um seine eigenen Interessen voranzutreiben.


    Währenddessen erlebt Helga den Krieg auf ihre Weise: die Luftangriffe, die Einquartierung von Flüchtlingen, die Nahrungsmittelknappheit, sie können nicht mehr einfach rausgehen und spielen - und erst die beklemmende Atmosphäre im Sportpalast, während ihr Vater sich am Rednerpult in Ekstase redet und den totalen Krieg heraufbeschwört und die Massen fanatisiert.


    Gegen Ende des Krieges kommen Hermann und Helga wieder zusammen, in Hitlers Bunker. Was dort noch passiert und warum das Buch schließlich in das Jahr 1992 springt, das lese man doch besser selbst!


    Eigene Meinung:


    Marcel Beyer lässt dokumentarisches Material (Namen, Orte, Daten) in seine eigenen fiktionalen Zusammenhänge einfließen. Vor allem den Medien kommt auch in diesem Roman Beyers eine besondere Bedeutung zu. Durch die von Stimmen, Tönen und Akustik besessene Figur des Hermann Karnau wird folgendes für den Leser besonders deutlich: Zum einen wird das Dritte Reich als Medien- Phänomen entlarvt (Aufmärsche, Radiodurchsagen, Bücherverbrennungen, v.a. im Zuge der Entwelschung im Elsass). Zum anderen werden die unterschiedlichsten Erscheinungsformen akustischer Propagandamittel deutlich und somit auch die Massensuggestion durch eine optimale Beschallung bzw. Mikrophoneinsatz.
    Dem Leser wird hier ein Roman geboten, den man so schnell nicht wieder weglegen kann, der einen in den Bann zieht, traurig macht, fassungslos, fragend, ... Kurzum: Ich empfehle dieses Buch, weil es anders ist, als all die üblichen Romane, die man zum Thema Nazi-Deutschland kennt. Das Doppelleben Karnaus, die kindliche und doch schon erwachsene Sicht Helgas, geht unter die Haut und bietet einen fast erschreckend authentisch wirkenden Einblick in die Zeit des Dritten Reichs.



    „Beyer erklärt nicht die Katastrophe der Unmenschlichkeit, er führt sie zurück auf die historischen Individuen auf ihr Ichgefühl, ihre Dispositionen, ihre Ticks und fixen Ideen, all das, was ab einem bestimmten Zeitpunkt, getragen von einem suggestiven öffentlichen Diskurs zu einer kollektiven Obsession zusammenschoß.“
    (Thomas E. Schmidt)


    Ich gebe deshalb keine 5 Ratten, weil die Ausführungen zur Akustik, Technik, Sprache etc. für meinen Geschmack teilweise zu länglich waren:


    4ratten


    [size=1]EDIT: Betreff angepasst. LG, Saltanah[/size]

    Einmal editiert, zuletzt von Saltanah ()

  • hui, da hast du mich ja ganz schön neugierig gemacht!
    Habe seit Frühlingsbeginn viele Bücher dieses Genres gelesen, und bin noch immer auf mehr aus. Das Problem ist, dass sich die Arten der Aufarbeitung, die geschilderten Umstände usw wiederholen, und ich seit ungefähr einer Woche auf der Suche nach einem anderen literarischen Zugang bin.
    Deine Rezi hat mich überzeugt - dieses Buch muss ich haben!!!


    Liebe Grüße,
    Callista :winken:

    :leserin: Lenz: Der Hofmeister<br />:leserin: Bronte: Sturmhöhe

  • Mir ging das Buch seinerzeit auch unheimlich unter die Haut, mich schaudert es heute noch, wenn ich an die eine Szene denke,

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • @ Callista:


    Ich hoffe, dass du in diesem Buch ebenfalls das "ganz andere" entdeckst und es dich nicht dauerhaft langweilt (, obwohl ich mir das wirklich nicht vorstellen kann). Viel "Spaß" beim Lesen, auch wenn man das bei so einem Thema vielleicht nicht so wünschen sollte, ich bin sicher du verstehst mich dennoch!


    @ Valentine:


    Es tut mir leid, dass die Rezension nach so langer Zeit erst kam. Ich weiß ja, dass du sie dir damals gewünscht hattest und ich hab es erst vergessen und dann war mein Abi dran und ich hab hier kaum noch geschrieben.
    Die erwähnte Stelle hat mich auch umgehauen! *Gänsehaut*


    Lg, Bella*

  • Dies ist meiner Ansicht nach ein herausragender Roman. Es gelingt hier, was für mich in den (ansonsten von mir bewunderten und überhaupt nicht vergleichbaren) "Wohlgesinnten" von Littell nicht ganz aufgegangen ist, nämlich der glaubhafte Aufbau eines Identifikationspotentials. Wir haben es mit einem normalen, freundlichen Tontechniker zu tun, der - wie man beinahe nebenbei erfährt - anscheinend entsetzliche (und sinnlose) Experimente an Menschen durchführt. Karnau ist der Nazi wie du und ich, anders als der psychopathische Max Aue, und rein ideologisch nicht einmal besonders belastet. Dieser Figur steht die älteste Tochter des (übrigens, wie Hitler, nie namentlich genannten) Goebbels gegenüber, die bekanntlich am Ende im Führerbunker mitsamt ihren Geschwistern von den Eltern oder in deren Auftrag umgebracht wird. Gerade die konsequente Begrenzung der Perspektive, das Aussparen alles dessen, was es zu referieren gäbe und was von so vielen referiert wird, erzielt hier einen überzeugenden und glaubwürdigen Roman. Durchgehend ist Beyers Stil kühl und nüchtern, das Entsetzen überlässt er effektvoll ganz dem Leser, was mir sehr angemessen erscheint.
    Mich hat dieses Buch beeindruckt und ich freue mich nach den "Flughunden" schon auf den "Kaltenburg" des selben Autors. Die Moral von der Geschicht: Es können auch "heute" (1995) noch originelle und erschütternde Romane über die Zeit geschrieben werden, die sich historisch schon in beinahe erträgliche Distanz verflüchtigt zu haben scheint.
    5ratten

    Tell all of my friends, I don&#039;t have too many: just some rain-coated lovers&#039; puny brothers. Dallow, Spicer, Pinkie, Cubitt - rush to danger, wind up nowhere.<br />Patric Doonan - raised to wait. I&#039;m tired again, I&#039;ve tried again...<br />and now my heart is full. Now my heart is full and I just can&#039;t explain, so I won&#039;t even try to.<br />(Morrissey)

    Einmal editiert, zuletzt von Rydal ()