Wilhelm Genazino - Mittelmäßiges Heimweh

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    Klappentext:


    "Dieter Rotmund fährt mit der Bahn, und zwar schwarz. Seit seine Frau erklärt hat, sie könne auf keinen Fall mehr in der Großstadt, sondern müsse unbedingt im Schwarzwald leben, sind zwei Wohnungen zu bezahlen. Dieter Rotmund muß sparen. Doch als er zur eigenen Verblüffung zum Finanzdirektor befördert wird und nicht mehr sparen muß, ändert das nichts am Basso continuo seines Lebens: der Erfahrung des Verlustes. So ist sein Entsetzen zunächst nur kurz, als er eines Tages in der Kneipe sein eigenes Ohr auf dem Boden liegen sieht.
    Wilhelm Genazino erzählt die Geschichte eines Mannes, der davor erschrickt, daß auch seine Gefühle - das Erschrecken, die Verzweiflung, das Heimweh - nur noch mittelmäßig sind, und er erzählt sie mit der ihm eigenen Ironie, Detailversessenheit und mit einer Bosheit, die seinen Figuren nichts erspart. Erst als Rotmunds Vormieterin Sonja auftaucht, um im Keller nach alten Pappkartons zu forschen, scheint sich die Möglichkeit zu eröffnen, den Verlust durch neue Liebesverwirrungen in einen Gewinn zu verwandeln. Vorausgesetzt, daß auf das Ohr nicht weitere Verluste folgen."




    Meine Meinung:


    Es fällt mir schwer, zu diesem Buch etwas zu schreiben, denn es hat mich relativ ratlos zurückgelassen. Im Buch wird das Alltagsleben des Ich-Erzählers Dieter Rotmund bis ins kleinste Detail minutiös beschrieben - aber wir erfahren nichts Wesentliches über ihn. Er scheint nur aus Nebensächlichkeiten und Kleinigkeiten zu bestehen. Er ist nicht fähig zur Kommunikation, weder mit Nachbarn, noch Arbeitskollegen, noch mit Frau oder Tochter. Er hat keine Interessen oder Leidenschaften. Seine Ehe wird als zerrüttet beschrieben, ohne daß er in irgendeiner Richtung daran etwas zu ändern versucht. Stattdessen verzettelt er sich in Beobachtungen von Details seiner Umgebung und den abstrusesten Assoziationen und Gedankenketten (die allerdings, das muß man dem Autor zugestehen, genial beschrieben sind). Aus diesen dahinplätschernden Gedankenketten blitzt es hin und wieder eiskalt auf, sodaß es mich regelrecht geschaudert hat beim Lesen.


    All diese Seltsamkeiten nimmt Rotmund so hin, als sei das ganz normal. Mir scheint er eine leere Hülle. Er hat nicht "mittelmäßige Gefühle", wie Klappentext und Buchtitel behaupten, sondern er hat (abgesehen von Empfindungen der Peinlichkeit bei Dingen, die eigentlich gar nicht peinlich sind, und kurzen, folgenlosen Anwandlungen von Schmerz über die erlittenen Verluste) überhaupt gar keine Gefühle (hierin gleicht er dem Protagonisten von "Liebesblödigkeit") und wirkt dadurch einfach nur armselig, abstoßend, noch nicht einmal bedauernswert. Von Heimweh ist übrigens nur ganz kurz nebenbei die Rede.


    Ich verstehe nicht ganz, was das Buch bezwecken möchte. Lesevergnügen hatte ich dabei keines, auch gelernt habe ich nichts. Es ist eine reine Zustandsbeschreibung und zeigt weder Ursachen, noch Auswege, eine Entwicklung oder überhaupt nur eine Art Bewußtwerdung des Zustandes auf. Vermutlich liegt der Autor einfach nicht auf meiner Wellenlänge und trifft nicht mein Lebensgefühl. Bei Sätzen wie z.B.: "Die ruhige Betrachtung unfähiger Menschen bringt Versöhnung hervor." (S. 41) war ich dann auch ziemlich verwirrt. Auch das Verhalten von Rotmunds Frau wirkte auf mich völlig unverständlich und beliebig. Und so ganz habe ich auch nicht verstanden, was der Verlust des Ohres eigentlich bedeuten soll und warum es ausgerechnet ein Ohr ist... (Hinweis auf van Gogh? aber warum?)


    Mit etwas gutem Willen kann ich dem Buch gerade noch zwei Leseratten geben, für die sprachlich virtuos beschriebenen Details und die frostige Atmosphäre, die das Buch erzeugt. Das Coverfoto finde ich übrigens auch sehr passend.


    2ratten


    Katja

    Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden (R. Luxemburg)

    Was A über B sagt, sagt mehr über A aus als über B.

    Einmal editiert, zuletzt von kaluma ()

  • Hallo Katja,
    vielen Dank für Deine sehr gute, ausführliche Rezension! :klatschen: Seit ich mir die Rezension gewünscht habe, habe ich mit einer Bekannten gesprochen, die das Buch auch gelesen hat. Und siehe da - sie berichtete ganz ähnlich wie Du und wiederholte auch mehrmals, dass sie ziemlich ratlos nach der Lektüre sei... Scheint also kein wirklich überzeugender Genazino zu sein, deshalb denke ich über einen Kauf des Buches frühestens bei der Taschenbuch-Ausgabe nach - wenn überhaupt.


    Schönen Dank Dir noch mal!


    Liebe Grüße
    dubh


    PS. Ich finde übrigens, dass Du hervorragend Rezensionen schreiben kannst und deshalb gar nicht so "tief zu stapeln" brauchst, wie es hier klingt! :zwinker:

    Liebe Grüße

    Tabea

  • Hallo dubh,



    PS. Ich finde übrigens, dass Du hervorragend Rezensionen schreiben kannst


    danke :redface:



    und deshalb gar nicht so "tief zu stapeln" brauchst, wie es hier klingt! :zwinker:


    nun ja, ich hatte ein paar Skrupel, weil ich ja praktisch an dem Buch kaum ein gutes Haar gelassen habe, das tue ich ungern...
    Aber ich habe mir Mühe gegeben, meine Meinung gut zu begründen, und vielleicht erfahren wir ja hier noch ein paar Meinungen anderer Leser zum Buch? Ich bin gespannt.


    Viele Grüße
    Katja

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  • nun ja, ich hatte ein paar Skrupel, weil ich ja praktisch an dem Buch kaum ein gutes Haar gelassen habe, das tue ich ungern...
    Aber ich habe mir Mühe gegeben, meine Meinung gut zu begründen[...]


    Hallo Katja,


    aber genau das ist ja das Entscheidende! Du hast Deine Meinung begründet wiedergegeben. Mir (und ich denke den anderen hier auch) geht es nicht um eine möglichst positive Rezension - sondern um eine Meinung, die vernünftig begründet ist. Und ich finde, das ist Dir gut gelungen!


    Liebe Grüße
    dubh

    Liebe Grüße

    Tabea

  • Nachdem in einem anderen Thread einiges Positives über Genazino gesagt wurde, wollte ich mich auch mal an eines seiner Bücher heranwagen. Warum es ausgerechnet "Mittelmäßiges Heimweh" geworden ist, kann ich gar nicht so genau begründen.


    In diesem Buch werden tatsächlich sehr viele kleine Details aus dem Alltag aufgegriffen, was mich aber nicht gestört hat. Ganz im Gegenteil: ich fand es sehr angenehm, ein Buch zu lesen, wo viele Erlebnisse aus dem Alltag beschrieben und detailreich dargestellt werden.



    Es fällt mir schwer, zu diesem Buch etwas zu schreiben, denn es hat mich relativ ratlos zurückgelassen. Im Buch wird das Alltagsleben des Ich-Erzählers Dieter Rotmund bis ins kleinste Detail minutiös beschrieben - aber wir erfahren nichts
    All diese Seltsamkeiten nimmt Rotmund so hin, als sei das ganz normal. Mir scheint er eine leere Hülle. Er hat nicht "mittelmäßige Gefühle", wie Klappentext und Buchtitel behaupten, sondern er hat (abgesehen von Empfindungen der Peinlichkeit bei Dingen, die eigentlich gar nicht peinlich sind, und kurzen, folgenlosen Anwandlungen von Schmerz über die erlittenen Verluste) überhaupt gar keine Gefühle (hierin gleicht er dem Protagonisten von "Liebesblödigkeit") und wirkt dadurch einfach nur armselig, abstoßend, noch nicht einmal bedauernswert. Von Heimweh ist übrigens nur ganz kurz nebenbei die Rede.


    Ich finde, es werden sehr viele Gefühle beschrieben, aber eben nicht in der "Ich fühlte mich so und so"-Form, sondern in einer Form, dass selbst die erzählende Person nicht genau weiß, wie sie sich fühlt. Es werden meiner Meinung nach durch die Handlungen und Gedankensprünge des Protagonisten sehr viele, vor allem negative, Gefühle deutlich. Sie werden nur nicht direkt ausgesprochen.
    Auch das Heimweh wird immer wieder deutlich, aber nicht nur das typische Heimweh nach einem Ort, sondern auch eine andere Art von Heimweh: nach Personen, nach Gefühlen, die man empfinden sollte und nach etwas, was das Leben richtig lebenswert macht.


    Vielleicht interpretiere ich einfach zu viel in das Buch, aber das oben Geschriebene entspricht meinen Empfindungen beim Lesen. :winken:


    4ratten


  • Ich finde, es werden sehr viele Gefühle beschrieben, aber eben nicht in der "Ich fühlte mich so und so"-Form, sondern in einer Form, dass selbst die erzählende Person nicht genau weiß, wie sie sich fühlt.


    Sei versichert, daß ich Gefühle nicht mit der Holzhammermethode präsentiert brauche, um sie zu erkennen. Trotzdem bleibe ich dabei, daß der Protagonist sehr empfindungsschwach ist. Mag sein, daß Gefühle in der Luft liegen, doch er fühlt sie nicht. Will sie nicht wahrhaben? Weil man sich ihnen dann stellen und sie akzeptieren müßte, oder aktiv werden und etwas ändern?


    Möglicherweise liegt mein Unbehagen aber auch daran, daß ich für die Befindlichkeiten jammernder, alternder Männer, die nie richtig erwachsen geworden sind, einfach keine Geduld aufbringen kann.



    Auch das Heimweh wird immer wieder deutlich, aber nicht nur das typische Heimweh nach einem Ort, sondern auch eine andere Art von Heimweh: nach Personen, nach Gefühlen, die man empfinden sollte und nach etwas, was das Leben richtig lebenswert macht.


    Hier kann ich dir schon eher zustimmen. Wobei ich Heimweh dafür für den unpassenden Ausdruck halte. Sehnsucht träfe es eher.



    Vielleicht interpretiere ich einfach zu viel in das Buch, aber das oben Geschriebene entspricht meinen Empfindungen beim Lesen. :winken:


    Ich finde du hast das prima auf den Punkt gebracht. :winken:
    Es ist nun zwar schon etliche Jahre her, daß ich das Buch gelesen habe, und viele Details weiß ich nicht mehr, aber der allgemeine Eindruck ist mir noch sehr präsent. Möglicherweise habe ich das Buch ja auch zu schlecht bewertet. Was kann der Autor dafür, wenn mir der Protagonist unsympathisch ist bzw. sein Weg nicht meiner ist. Ich habe es allzusehr als reine Zustandsbeschreibung empfunden - wir erfahren weder, warum Dieter Rotermund so lethargisch ist, noch, was sein Ausweg ist.

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  • Sei versichert, daß ich Gefühle nicht mit der Holzhammermethode präsentiert brauche, um sie zu erkennen. Trotzdem bleibe ich dabei, daß der Protagonist sehr empfindungsschwach ist. Mag sein, daß Gefühle in der Luft liegen, doch er fühlt sie nicht. Will sie nicht wahrhaben? Weil man sich ihnen dann stellen und sie akzeptieren müßte, oder aktiv werden und etwas ändern?


    Wahrscheinlich ist es genau das: er hat Angst, sich seinen Gefühlen zu stellen und mit ihnen zu arbeiten quasi. Dann müsste man hinsehen und herausfinden, woher sie kommen, was sie auslösen und wie er damit umgehen muss.


    Sehnsucht wäre auch ein guter Begriff gewesen, da stimme ich dir zu. :smile:

  • Genazinos Kunst liegt m.E. darin, dass seine Figuren sehr echt wirken. Keine unwahrscheinlichen Geschehnisse. Die Protagonisten scheitern alle am realen Leben. Das macht sie für den Leser so interessant. Sympathisch muss mir eine Figur der Literatur nie sein, ich lese auch gern über Figuren, die Abgründe offenbaren. Genazino gelingt das meist sehr gekonnt. So auch in seinem neuesten Buch. Rezi dazu folgt.
    Gruß Thomas