Sylvère Lotringer: Ich habe mit Antonin Artaud über Gott gesprochen

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    Sylvère Lotringer: "Ich habe mit Antonin Artaud über Gott gesprochen"


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    Der Franzose Antonin Artaud (1886-1948) war Schauspieler, Dramatiker, Theater-Theoretiker, Schriftsteller, Zeichner.


    Artaud litt Zeit seines Lebens unter Schizophrenie und war ab 1937 in psychiatrischer Behandlung. Im Pereyre-Krankenhaus in Rodez/France (Artaud wurde dort 1943 eingewiesen) wurden auf Verordnung des Chefarztes Dr. Gaston Ferdière Elekroschocks verabreicht. Antonin Artaud war in Frankreich der erste Patient, der sich dieser Behandlungsmethode unterzogen hat. Ausgeführt hat die Elektroschockbehandlung sein dort ansässiger Nervenarzt Dr. Jacques Latrémolière, der sehr fromm war, und Artaud war ihm wegen seiner religiösen Exaltiertheit aufgefallen.


    Sylvère Lotringer erzählt in dem Buch von der Krankengeschichte Artauds und gibt ein Interview wieder, welches er mit Dr. Latrémolière etwa 40 Jahre nach Artauds Behandlung geführt hat. Ein überaus interessantes Büchlein und ein kleiner Ausschnitt der Geschichte der Psychiatrie überhaupt. Das gilt insbesondere für Lotringers einleitenden Teil über Artaud und seine Erkrankung.


    Dass ein Literaturwissenschaftler und ein Psychiater in unterschiedlichen Ansichten aufeinanderprallen ist vorprogrammiert. Natürlich liegt es am Unvermögen von Latrémolière, dass für ihn das künstlerische Werk Artauds bedeutungslos ist. Andererseits kann Lotringer nicht den Unterschied sehen im Verhalten in einer Psychose und anstößigem Verhalten von New Yorkern sehen, denen Lotringer auf der Straße begegnet. Recht geben muss ich Latrémoilière in einer Beziehung, wenn er zu Lotringer (sinngemäß) sagt, er solle doch mal in irgendeiner Psychiatrie herumgehen, dann wüsste er, was verrückt sei.


    Artauds Verhalten, wenn er Dämonen austreiben will, halte ich für ein Symptom eines religiösen Wahns, auch wenn man mir vorwerfen kann, ich kenne Artaud dsoch garnicht, wie kann ich so etwas behaupten. Das Artaud krank gewesen ist, steht außer Zweifel, wenn ich mir angucke, wie extrem sich der sonst so sehr religiöse Artaud in kranken Schüben sich erstens gegen das Christentum stellt, und seine heftige abstruse Ablehnung gegen Sexualität.


    Lotringer erzählt:


    Für Artaud war die menschliche Sexualität nicht nur Sünde, etwas, wovon man durch die Sakramente erlöst werden konnte, sondern das Böse an sich. Für ihn war es unvorstellbar, daß Gott eine menschheit haben wollte, deren Fleisch neun Monate lang 'inmitten von Sperma und Exkrementen aufquoll.'(Brief an Lacrémolière vom 29. April 1943). Ursprünglich, so nahm Artaud an, waren die Menschen ohne Sex und ohne Eingeweide geschaffen worden, und ihre Nahrung verflüchtigte sich durch das Rückgrat, nachdem der Magen sie aufgenommen hatte. Sexualität war nichts weiter als ein Mißgeschick der Natur. Gottes Absicht war es ursprünglich gewesen, die Menschen für alle Ewigkeit rein und engelhaft zu machen.


    Wir können hier natürlich Anschauungen der mittelalterlichen Kirche finden (Körperfeindlichkeit ) und ein wenig platonisch angehauchte Mythologie (vgl. Symposium), ziemlich abstrus finde ich, und ich vermute, hier wird deutlich, dass es sich um ein paranoides Wahngebilde handelt, abstrus also, das Rückgrat in Bezug zur menschlichen Verdauung herstellen zu wollen. Natürlich ist es immer riskant, solche Aussagen zu interpretieren, obwohl ich den Menschen Artaud nicht kenne. Trotzdem, seine radikale Umkehr zur Ablehnung des Christentums in einem, so nehem ich an, psychotischen Schub, fällt doch zumindest auf, weil nämlich Artauds Schwester Marie-Ange Malausséna von Antonins tiefer Religiosität überzeugt ist.


    Ob Artauds Ansichten der Sexualfeindlichkeit mit seiner(angeblichen?)Impotenz zu tun hat, weiß ich nicht. Im Buch wird das nur vermutet. Dass Artauds Denkweise auf den Jansenismus zurückgeht, glaube ich eher nicht. Natürlich könnte man leicht Deschner zitieren („Das Kreuz mit der Kirche“), um aufzuzeigen, wie verrückt die Kirche im Mittelalter war, aber trotzdem gibt es auch den religiösen Wahn. Diese feine Unterscheidung zwischen Wahn und Wirklichkeit ist manchemal gar nicht so einfach.


    Als Normal wird anerkannt, was in einer Kulturkreis als normal angesehen wird. Lotringer gibt ein schönes Beispiel, als er in Afrika gewesen ist, und er mit einer Vollglatze zurückgekommen ist. Schon diese Auffälligkeit wurde in der Umgebung als nicht normal aufgenommen.


    Latrémolière muss aber doch etwas von der künstlerischen Bedeutung Artauds geahnt haben, denn er verwahrte eine Zeichnung von ihm in einem Banksafe.


    In dem Interview wird auch der Frage nachgegangen, warum man Artaud vor der Gesellschaft schützen wollte. War er denn gefährlich? Warum wurde die Gesellschaft nicht vor Hitler und Stalin geschützt? Artaud war natürlich ungefährlich, musste natürlich behandelt werden, weil er selber unter seinem Zustand litt. So pendelt das Interview auch zwischen den Polen von Normalität und der Frage, was nicht normal ist. Interessant finde ich Lotringer, wenn er Bezüge zu Artauds "Schrei" und "Inkohärenz" mit seiner Gesellschaft herstellt. Etwas kritisch beäuge ich den Literaturwissenschaftler auch, weil er etwas naiv einen Zusammenhang herstellt von Artauds Auszug aus der Klinik in Rodez mit Heimkehrern aus dem KZ. Und Latrémolière, von dem bin ich absolut entttäuscht, weil er sämtliche künstlerische Bedeutung von Antonin Artaud ablehnt (trotz Zeichnung im Banksafe??, na so was ).


    Als Ergänzung zu dem Buch sind besonders Artauds „Briefe aus Rodez“, Matthes & Seitz Berlin (2001), zu empfehlen.


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    Liebe Grüße
    mombour

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