Vikram Seth - Zwei Leben

Es gibt 15 Antworten in diesem Thema, welches 4.917 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Karthause.

  • Hallo!


    [Amazon-isbn]3100725212[/Amazon-isbn]


    [hr]


    Kurzbeschreibung laut Amazon:


    Mit der Lupe der Erinnerung, entlang von erschütternden und zärtlichen Briefen und Fotografien schildert Vikram Seth eine wahre Liebesgeschichte zwischen Berlin und London, die das 20. Jahrhundert umspannt. Ein Geniestreich von dem Autor der Weltbestseller »Eine gute Partie« und »Verwandte Stimmen«.


    In"Zwei Leben"erzählt Vikram Seth zärtlich und präzise von einer wahren Liebe, die ein Jahrhundert umspannt. Mit zurückschauender Sehnsucht berichtet er von zwei Menschen, seinem Onkel Shanti und Tante Henny, die sich an der Wegkreuzung von indischer Diaspora und jüdischem Exil trafen: ein bewegendes Denkmal und erzählerisches Kunststück zugleich."Nimm den Schwarzen nicht", sagt Henny zu ihrer Mutter und meint den jungen Inder an der Tür. Doch Shanti, der im Berlin der dreißiger Jahre Zahnarzt werden will, bekommt das Zimmer in der Bleibtreustraße - und das wird Hennys Glück.
    Shanti, von den Nazis verdrängt, kann erst in London praktizieren, und dort steht 1939 plötzlich Henny an der Victoria Station - als einziger Jüdin aus dem Freundeskreis ist ihr die Flucht gelungen.


    [hr]


    Teilnehmer:


    Saltanah
    Dubh?
    Finsbury
    Karthause


    Viel Spaß, fairy

    [size=9px]&quot;I can believe anything, provided that it is quite incredible.&quot;<br />~&quot;The picture of Dorian Gray&quot;by Oscar Wilde~<br /><br />:leserin: <br />Henry Fielding - Tom Jones<br /><br />Tad Williams - The Dragonbone Chair<br /><br />Mark Twai

  • Hallo zusammen,


    heute Nacht konnte ich nun beginnen und habe sofort einen guten Eindruck von Seths Buch: Er schreibt - wie auch in "Eine gute Partie" und "Verwandte Stimmen" flüssig und unterhaltsam, ohne den Tiefgang vermissen zu lassen.
    Gleich zu Beginn lernen wir die beiden Hauptpersonen als wichtigen Teil von Seths Leben kennen: Er nimmt bei ihnen Aufenthalt, um von dort ins Internat zu gehen. Onkel Shantis Fleiß als Zahnarzt, aber auch seine Überbesorgtheit werden herausgestellt, Tante Hennys Distanziertheit zur Familie ihres Mannes und gleichzeitig ihre dennoch liebevolle Zuwendung zu "Vicky" werden herausgestellt. Auch dass es nicht ohne Zankereien in dieser Ehe geht, erfahren wir.
    Mich interessiert es, wie es Shanti gelingt, mit dem linken Arm Zahnarzt zu sein: Ich stelle mir das sehr schwierig vor und bin gespannt, ob man später Näheres dazu erfährt.


    Nun will ich aber lieber erstmal weiterlesen, denn ich bin noch ganz am Anfang (1.6).


    Einen schönen Sonntag noch


    HG
    finsbury

  • Hallo ihr Lieben!


    Ich habe schon ganz fleißig gelesen, hatte aber keine Zeit, was darüber zu schreiben.


    Habt ihr eigentlich auch die Fotos in euren Ausgaben? Meine englische, gebundene Ausgabe hat 18 Seiten mit Fotos von Henny, Shanti und deren Familien und Freunden. Diese Fotos habe ich mir (wie ich es immer mache) als allererstes angeschaut und so schon einen kleinen Einblick in die Familienverhältnisse gewonnen.


    Erster Teil:
    Ich bin von dem Buch sehr angetan. Es gefällt mir gut, wie Seth die Geschichte angeht. Im ersten Teil legt er ein gründliches Fundament für die folgenden Teile. Er verankert damit die Geschichte seines Großonkels und dessen Frau in der (seiner) Gegenwart, beschreibt sein (des Autors) Interesse an dem Stoff, erklärt die "Quellenlage" und zeigt mit einer Kurzbeschreibung seines eigenen Lebens und Werks auch seine Befähigung/Qualifikation dazu, sich des Stoffes kompetent annehmen zu können.
    Eigentlich ist dieser Teil ja recht nüchtern geschrieben, es werden Fakten präsentiert und Emotionen zwar geschildert, aber doch auf eine Weise, die sehr beobachtend ist und den Leser "außen vor" lässt. Es ist eben kein Roman, sondern eine Biographie. Trotzdem hat mich das Buch von Anfang an gefesselt und ich bin trotz wenig Lesezeit schon recht weit gekommen.


    Stilistisch ist das Buch zwar distanziert geschrieben, aber an einigen Stellen musste ich doch vor mich hin kichern ("Vicky" - der arme Junge!) oder auch lauthals losprusten (Kap 1.6: my mother's brother's wife's brother's wife's father, and therefore 'family' in the Indian sense - wenn ich mich nicht täusche handelt es sich um den Schwiegervater des Schwagers des Onkels; nahe Verwandtschaft also :breitgrins: .)
    Auch Vikrams erste Bekanntschaft mit der deutschen Sprache (the shock of the genders and declensions (1.4)) und der Sütterlinschrift (it once took me half an hour to work out that an series of twelve loops ending in a squiggle was the word 'Mummy' (1.5)) haben mich sehr amüsiert.
    Wie es überhaupt dazu kam, dass er Deutsch lernen musste, und dass es dann doch überflüssig war, ließ mich mitfühlend den Kopf schütteln - sinnlose Vorschriften von Behörden und Institutionen hat es wohl schon immer gegeben und wird es auch weiterhin immer geben. Shanti macht im 2. Teil ja auch einige Erfahrungen damit.


    Zwei Zitate möchte ich noch hervorheben, die mir durch ihre "Wahrheit" aufgefallen sind. Sie sagen eigentlich nichts wirklich Neues, zeigen aber doch Tatsachen des menschlichen Lebens, an die es sich zu erinnern lohnt:


    I also found out that, shy though I was in English, I could be bold in German. (1.6) Eine andere Sprache/andere Umwelt kann die Möglichkeit bieten, sich eine andere Persönlichkeit zuzulegen. Starke äußere Veränderungen können auch innere ermöglichen. In einer ganz fremden Umgebung hat man Freiheiten, die die sichere, umhegende Normalität nicht bietet. Man kann so neue Seiten an sich selbst entdecken und ausprobieren.


    ...when he (Shanti) died, his story would die with him. (1.17)
    Eigentlich ja klar, aber trotzdem denkt man vielleicht nicht immer daran, was es auch bedeutet, wenn jemand stirbt. Die Person fehlt nicht nur im Leben ihrer Umgebung, auch die gesamte Geschichte, alle ihre Erfahrungen und Erlebnisse gehen verloren, wenn sie nicht jemand anderem bekannt sind. Plötzlich kann man nicht mehr fragen, wie etwas war, was damals passierte, etc. Mit jedem Menschen geht so viel Information und Erfahrung unwiderbringlich verloren. (Ich werde in meinem Beruf ja immer wieder mit dem Thema Tod konfrontiert und bin dadurch für solche Gedanken empfänglich.)



    Mich interessiert es, wie es Shanti gelingt, mit dem linken Arm Zahnarzt zu sein: Ich stelle mir das sehr schwierig vor


    Im ersten Moment dachte ich bei dem Satz "his right arm, being artificial", ich müsse etwas total falsch verstanden haben! Ein einarmiger Zahnarzt? Unmöglich! Dann fiel mir allerdings mein Großonkel, der im 1. Weltkrieg durch einen Kopfschuss sein Augenlicht verlor und hinterher doch als Dorfschullehrer weiter arbeitete. Seine SchülerInnen lernten auch von einem blinden Lehrer Lesen und Schreiben und alles andere. Es geht viel mehr, als man normalerweis für möglich hält.


    Liebe Grüße,
    Saltanah

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Hallo,
    nun melde ich mich hier in diesem Thread auch zu Wort. Saltanah, du liest das Buch auf englisch, so etwas finde ich immer richtig gut. Wenn ich mich an Seths Buch halte, sollte ich vielleicht auch mal damit beginnen. Ich habe ja gelesen, dass Vicky auch in kürzester Zeit die deutsche Sprache gelernt hat und er hatte keine Vorkenntnisse. Da sollte sich mein Englisch doch auch mal aufwärmen lassen.


    Inzwischen habe ich mich bis auf Seite 120 vorgearbeitet. Ich war erstaunt über den Stil von Vikram Seth (es ist mein erstes Buch, das ich von ihm lese), das Buch liest sich sehr flüssig und was ich bisher gelesen habe, hat mir auch sehr gut gefallen. Ich habe auch die Ausgabe, die Bilder enthält.




    Ich bin von dem Buch sehr angetan. Es gefällt mir gut, wie Seth die Geschichte angeht. Im ersten Teil legt er ein gründliches Fundament für die folgenden Teile. Er verankert damit die Geschichte seines Großonkels und dessen Frau in der (seiner) Gegenwart, beschreibt sein (des Autors) Interesse an dem Stoff, erklärt die "Quellenlage" und zeigt mit einer Kurzbeschreibung seines eigenen Lebens und Werks auch seine Befähigung/Qualifikation dazu, sich des Stoffes kompetent annehmen zu können.


    Ich brauchte gar nicht lange, da war ich mitten im Geschehen. Saltanah, du hast das mit dem Fundament gut beschrieben. Mir gefällt das sehr gut. So kann sich dann zum Ende der Kreis schließen. Onkel Shanti und Tante Henny sind mir auch sehr sympathisch. Warum Henny nicht viel über ihre Vergangenheit und ihre Familie erzählt, lässt sich schon erahnen. Ich bin gespannt, was wir darüber noch alles im Buch über sie erfahren.


    Kennt eine von euch andere Bücher von Vikram Seth? Im Kapitel 2.5 (die Kapiteleinteilung fand ich übrigens ungewöhnlich) schreibt er ja, dass sich die Großmutter Vikrams mütterlicherseits in der Figur der Rupa Mehra aus "Eine gute Partie" wiederfindet.



    Eigentlich ist dieser Teil ja recht nüchtern geschrieben, es werden Fakten präsentiert und Emotionen zwar geschildert, aber doch auf eine Weise, die sehr beobachtend ist und den Leser "außen vor" lässt. Es ist eben kein Roman, sondern eine Biographie. Trotzdem hat mich das Buch von Anfang an gefesselt und ich bin trotz wenig Lesezeit schon recht weit gekommen.


    Mit gefällt diese Sichtweise recht gut. Ich habe den Eindruck als stiller Beobachter die Geschichte verfolgen zu können. Sozusagen habe ich ein kleines Fenster in das Leben der Seths gefunden.


    Wie es Shanti gelingt mit nur dem linken Arm gelingt, Zahnarzt zu sein, finde ich auch beachtlich. Ich kann mich noch gut erinnern, wie gehandicapt ich war, als ich mir einen Arm (nur) gebrochen hatte.

    Liebe Grüße<br />Karthause :schmetterling:<br /><br />Die Kunst zu lesen, in ein Buch hineinzufallen, darin zu versinken, kaum noch auftauchen zu können, ist ein Stück Lebenskunst. <br />Elke Heidenreich

  • Hallo zusammen,


    ja, da haben wir wirklich ein ungewöhnlich interessantes Buch zwischen die Finger bekommen! Ich bin jetzt mit Kapitel 3.1 fertig und das Ganze liest sich wirklich flüssig und spannend.
    Nun kommt die besonders schwere Kost, Hennys Leben in den 30ern und das Schicksal ihrer Familie, aber auch das kann Seth auf eine sehr berührende, dabei sachliche Art darstellen.
    Seths Art, seine Verwandten durch Zwischentexte und eigene Dokumente sprechen zu lasssen, ist nicht neu, aber durch die Herzlichkeit und persönliche Betroffenheit, die man überall spürt, ohne dass sie aufdringlich wirkt, sehr beeindruckend.
    Wir alle haben wohl die Fotos dabei, auch in der Taschenausgabe sind sie enthalten. Ich finde das sehr hilfreich, weil man sich dadurch ein noch besseres Bild von den Personen machen kann.
    Nachdem Seth sich und seine Beziehung zu den Portraitierten im Buch 1 dargestellt hat, ist das zweite Buch ganz Shanti gewidmet.
    Man bekommt sehr gut einen Einblick in seine wechselvolle Geschichte als Schüler und Student zuerst in England und Berlin und die Schwierigkeiten, die es bedeutet , in einem fremden Land, dessen Sprache man noch nicht mal spricht, Fuß zu fassen.
    Es hat mich etwas gewundert, dass Shanti nur so wenig über rassistische Übergriffe im Deutschland der 30er Jahre gegen ihn selbst berichtete: Entweder war er wohl so exotisch, dass er durchs Raster fiel oder er hat vieles verdrängt, als er seinem Neffen aus seinem Leben erzählte.
    Außerdem gewinnt man den Eindruck, dass er eine sehr warme, herzliche Persönlichkeit gewesen sein muss, der man sich nicht versagen konnte.
    Das zweite Buch gibt auch eindringlich darüber Aufschluss, wie sehr Shanti unter dem Verlust seines Unterarmes litt und welche Anstrengungen er selbst unternahm, aber auch Freundeshilfe erfuhr, um trotzdem zurechtzukommen. Diese Buch richtet einen wirklich wieder auf, wenn man anfängt, am Guten im Menschen zu zweifeln, denn hier wird doch immer wieder deutlich, wie sehr Freundaschaft und familiäre Zugewandheit helfen.


    Euch eine angenehme Arbeitswoche


    HG
    finsbury

  • ja, da haben wir wirklich ein ungewöhnlich interessantes Buch zwischen die Finger bekommen! Ich bin jetzt mit Kapitel 3.1 fertig und das Ganze liest sich wirklich flüssig und spannend.


    Ich kann mich da nur anschließen. Dieses Buch ist wirklich ungewöhnlich interessant. Ich habe inzwischen den 2. Teil beendet. Sicher hinke ich hinterher. Aber das Wochenende werde ich mit Lesen verbringen.


    Mir gefällt der ganze Aufbau des Buches. Erzählte Abschnitte wechseln sich mit erhaltenen Dokumenten ab, die zum Teil auch noch im Original abgedruckt sind. Besonders beeindruckt hat mich der erste Brief von Shanti an Henny nachdem er seinen Arm verlor. Er war (verständlicherweise) so ohne Hoffnung und schließlich schafft er es unter vielen Mühen seinen inzwischen von ihm geliebten Zahnarztbesuch wieder auszuüben. Ich ziehe tief den Hut vor ihm. Er ist ein starker Charakter, schon seine Zeit in Berlin war nicht leicht, aber er kann Schwierigkeiten meistern, an denen andere verzweifeln würden. Aber immer wieder gibt es eine helfende Hand, die sich ihm entgegen streckt, sei es aus der Familie oder aus dem Freundeskreis. Er ist geachtet und beliebt. Dabei überzeugt er auch mich immer wieder durch seine Herzlichkeit.


    Die Schilderungen der historischen Begebenheiten, sei es die politische Entwicklung in Berlin, sein Einsatz in Afrika und schließlich die Schlacht um Monte Casino, sind zwar bekannt, fügen sich aber sehr gut in das Buch ein.


    Ich schrieb bereits, es ist mein erster Seth, bin mir aber jetzt schon sicher, es ist nicht mein letzter.

    Liebe Grüße<br />Karthause :schmetterling:<br /><br />Die Kunst zu lesen, in ein Buch hineinzufallen, darin zu versinken, kaum noch auftauchen zu können, ist ein Stück Lebenskunst. <br />Elke Heidenreich

  • Hallo allerseits,


    tut mir Leid, dass ich diesmal eine so schlechte Leserundenteilnehmerin bin. Ich lese zwar fleißig (werde gleich den letzten Teil anfangen), aber irgendwie konnte ich mich, obwohl mir das Buch ausnehmend gut gefällt, einfach nicht zu Kommentaren aufraffen :redface: . Sorry.



    Kennt eine von euch andere Bücher von Vikram Seth? Im Kapitel 2.5 (die Kapiteleinteilung fand ich übrigens ungewöhnlich) schreibt er ja, dass sich die Großmutter Vikrams mütterlicherseits in der Figur der Rupa Mehra aus "Eine gute Partie" wiederfindet.


    "Eine gute Partie" habe ich in einer Leserunde zur Hälfte gelesen. Dass ich es nicht beendete, liegt nicht daran, dass es mir etwa nicht gefällen hätte, sondern an seiner furchtbaren Dicke. 1500 englische, 2000 deutsche Seiten! Furchtbar unbequem zu halten und da ich sowieso eine Vorliebe für kurze Bücher habe, blieb das Buch irgendwann unbeendet liegen. Aber ich will es nächstes Jahr unbedingt wieder bzw. zu Ende lesen. Mir sind einige Parallelen zwischen Seths Familie und diesem Buch aufgefallen; unter anderem arbeitet eine wichtige Person ebenso wie Seths Vater in der Schuhindustrie, ein österreichischer Schwager taucht ebenfalls auf, klassische indische Musik spielt eine große Rolle...


    Ich kenne auch Seths "Equal Music" (der deutsche Titel fällt mir gerade nicht ein). Das Buch ist ebenso europäisch, wie die "Gute Partie" indisch ist. Sein zentrales Thema ist klassische europäische Musik und birgt einige ganz hervorragende Beschreibungen von Musik und dem miteinander Musizieren. Beim Lesen hatte ich mich darüber gewundert, dass ein in Indien aufgewachsener Inder so faszinierend und mit so viel Liebe über europäische Musik schreiben kann; hier in "Zwei Leben" schreibt er an einer Stelle über seine Liebe zu "Liedern" (als Gattungsbegriff ist das übrigens ein Germanismus, der so in diversen anderen Sprachen auftaucht) und erwähnt auch, dass er selbst aktiv musiziert (singt und Geige spielt). Jetzt verstehe ich besser, dass er sich ein solches Thema für sein Buch gewählt hat. Mir hat besonders die erste Hälfte von "Equal Music" gefallen. Gerade von den musikalischen Beschreibungen war ich (große Klassikliebhaberin) ganz hin und weg. Im 2. Teil war mir dann zu viel von Liebe die Rede und die Musik geriet etwas in den Hintergrund. Trotzdem empfehle ich auch das Buch.


    Jetzt aber zurück zu "Zwei Leben":
    War euch eigentlich aufgefallen, dass die Anfangsbuchstaben des Widmungsgedichts "Shanti and Henny" ergeben?
    Seth liebt es offensichtlich, Gedichte zu schreiben. Auch die "Gute Partie" beginnt mit einer gereimten Danksagung an die Leser und das Inhaltsverzeichnis bietet eine gereimte Zusammenfassung jedes Teils, z. B.:
    "1. Browsing through books two students meet one day.
    A mother mopes, a medal melts away."
    Und dann hat er ja mit "Golden Gate" ja sogar einen ganzen Roman in Sonetten geschrieben. Das Buch reizt mich ja irgendwie schon, aber ich bin eine "lyrische Analphabetin"; mir fällt es ungeheuer schwer, Gedichte zu lesen.


    Zweiter Teil:
    Seth ist es hier wirklich gelungen, eine Zeit und Shanti Uncle lebendig werden zu lassen. Ich hätte nie gedacht, dass mich eine Biographie (nicht mein bevorzugtes Genre) je so fesseln könnte. Wie in einem guten Roman musste ich unbedingt wissen, wie es weiter geht, und das, obwohl ich ja das Ende (Shanti verliert seinen rechten Arm, wird Zahnarzt, praktiziert in London und heiratet Henny) durch den 1. Teil schon kannte. Sandhofer hat schon recht darin, dass richtig gute Literatur "spoilerresistent" ist, dass also Spoiler nicht den Spaß am Buches verderben können. Nicht das "Was" sondern das "Wie" ist das Wichtigste.
    In diesem Teil wird deutlich, wie sehr Zufälle das Leben der Menschen bestimmen. Man glaubt ja gerne, sein Leben planen und dessen Entwicklung bestimmen zu können, aber das ist meistens ein Irrtum. Wäre Shanti in Frankreich auf nettere Menschen gestoßen, hätte er vielleicht in Paris studiert. Hätte er in Berlin ein anderes Zimmer genommen, wäre er Henny nie begegnet, etc. (Hätte "Schwedisch für Anfänger" nicht mittwochs von 14-16 Uhr stattgefunden, wäre ich jetzt nicht in Schweden.)
    Schade finde ich es, dass Shanti nicht mehr über seine Deutschlernphase erzählt. Der Kontakt, die Probleme mit Fremdsprachen ist ein Thema, das mich brennend interessiert. Da erfahren wir schon mehr über seinen Kampf mit dem Latein; dass er den erforderlichen Sprachweis dank eines verständnisvollen Prüfers trotz mangelnder Kenntnisse doch erhält, kann einem glatt den Glauben an das "innewohnende Gute" der Menschen wieder geben. (Ebenso wie Hennys Erfahrungen, stellvertretend für die der europäischen Juden, einen von dem Gegenteil, der angeborenen Schlechtheit, überzeugen kann. Menschen haben die Fähigkeit zu beidem.) Die Parallele zu Seths erzwungenem, überstürztem Deutschlernen brachte mich zum Grinsen, (und noch mehr die Erinnerung daran, wie mein älterer Bruder kurz vor seinem Examen erfuhr, dass er Französischkenntnisse nachweisen musste. Auch er war etwas schockiert und schaffte den Nachweis mit Ach und Krach. Irgendwie bleibt sich alles gleich.)
    Nun ja, Shanti schließt sein Studium erfolgreich ab, macht seinen Doktor, nur um feststellen zu müssen, dass alles vergebens war. In Deutschland bekommt er als Ausländer/Nicht-Arier keinen Job und Großbritannien und damit das gesamte Commonwealth erkennt seine Ausbildung nicht an. Dass er da nicht verzweifelt und aufgibt... Aber andererseits - was blieb ihm weiter übrig, als die Zähne zusammen zu beißen und weiter zu kämpfen? Etwas, das er nach Verlust seines Armes in noch größerem Ausmaß tun musste. Hier zeigt sich, dass er eine starke Persönlichkeit ist. Er gibt nicht auf und fängt z. B. an zu saufen, wie es andere an seiner Stelle - nachvollziehbarerweise - vielleicht getan hätten. Ich (sehr zu Selbstmitleid neigend) wünschte, ich hätte etwas mehr von seiner Kraft.


    Es hat mich etwas gewundert, dass Shanti nur so wenig über rassistische Übergriffe im Deutschland der 30er Jahre gegen ihn selbst berichtete: Entweder war er wohl so exotisch, dass er durchs Raster fiel oder er hat vieles verdrängt, als er seinem Neffen aus seinem Leben erzählte.


    Das wunderte mich auch. Ich denke, viel lag einfach an seinem Exotismus, seiner "Seltenheit". Wahrscheinlich hatten viele Berliner noch nie Kontakt mit einem Inder gehabt und waren vorrangig neugierig. Andererseits kann es auch gut sein, dass Shanti rassistische Erfahrungen verdrängt oder vielleicht nicht als solche wahrgenommen hat. Vielleicht fand er für rassistische Übergriffe andere Erklärungen, führte sie auf andere Eigenschaften als just seine Hautfarbe zurück. Man kann nur spekulieren.


    Die Kriegsbeschreibungen gefielen mir auch gut. Da es mir da eklatant an Vorkenntnissen mangelt, war ich froh darüber, dass Seth die Ereignisse um Monte Cassino genauer beschreibt. Ich hatte den Namen zwar schon mal gehört, aber wer da wann und wo wieso gegen wen kämpft, war mir nicht bekannt. Wieder was gelernt. Bei Sätzen wie diesem am Ende von 2.36 wurde mir ganz anders: For all the loss of life and the destruction of a great monastery, one of the springs of Western civilization, nothing was achieved. Grauenhaft! So viel Tote, so viel Leiden, so viel Zerstörung, und alles umsonst.
    Auch die Vorzeichen eines weiteren Angriffs waren makaber: Massengräber werden ausgehoben und Geistliche verschiedener Konfessionen tauchen auf (2.37).


    Sehr eindrucksvoll dann die Schilderung von Shantis Verzweiflung, der nach Verlust seines Armes keine Zukunft für sich mehr sehen kann . "What will I do? What will I do? [...] That morning I'd operated on a few patients. Now I was useless for anything." (2.41) So beschreibt er seine Reaktion in der Retrospektive. Seine direkte Reaktion nur ein paar Tage nach der Verletzung gibt ein noch stärkeres Bild seiner Verzweiflung: I am simply going through hell. Why my life has been spared I do not know. [...] I dread to think about the future. The present is bad enough. (2.42)
    Dass er es später schafft, seine Verzweiflung zu überwinden und ein (gutes) neues Leben aufzubauen, wissen wir ja schon, aber wieviel er fertig bringt, hat mich doch überrascht! Dass er es tatsächlich fertig bringt, selbst Lehrfilme zu drehen, finde ich fast so unglaublich wie die Tatsache, dass er als ehemaliger Rechtshänder es schafft, eine erfolgreiche Zahnarztpraxis aufzubauen. Der Mann hat(te) Power!


    Ach ja, bei dem Motto der Zahnärztlichen Vereinigung (?) Dens sana in corpore sano (Ein gesunder Zahn in einem gesunden Körper) lag ich fast am Boden vor Lachen!


    Heute abend schreibe ich zu Teil 3.
    LG, Saltanah

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Hallo Saltanah und Karthause,


    ich bin immer mehr begeistert und auch zum Teil wirklich ergriffen von diesem Buch.
    Nun bin ich in Kapitel 3.19, dem "Henny-Buch ", bereits in der Nachkriegszeit und kaue immer noch an den Kapiteln, in denen Seth sehr eindrücklich seine ehemalige und auch spätere Liebe zur deutschen Sprache und Kultur kontrastiert mit den entsetzlichen Rechercheergebnissen zu dem Schicksal von Hennys Schwester und Mutter.
    Es beschämt mich doch zutiefst, welche unglaublichen Grausamkeiten geschahen und in welch menschenverachtender Weise dieser Völkermord mitsamt der damit verbundenen Bereicherung selbstverständlichst von den Nazi-Schergen verhandelt wurde. Angesichts der Schriften, die Seth zu Gesicht kamen, ist es ein Wunder, dass er überhaupt wieder irgendwann in der Lage war, Schriften auf Deutsch zu schätzen.
    Wenn man auch theoretisch weiß, was passiert ist, ist die Konfrontation mit persönlichen Dokumenten von jüdischen Schicksalen immer wieder sehr aufwühlend! Im Oktober war ich auch in Buchenwald: Eine sehr engagierte Dame geleitete uns durch das Gelände und brachte uns das Unfassbare wieder plastisch vor Augen. Man kann sich angesichts des Grauens, das mit Buchenwald verbunden ist, gar nicht mehr vorstellen, was in Auschwitz, Treblinka und den anderen reinen Vernichtungslagern geschah.


    Zitat von "Saltanah"

    dass er den erforderlichen Sprachweis dank eines verständnisvollen Prüfers trotz mangelnder Kenntnisse doch erhält, kann einem glatt den Glauben an das "innewohnende Gute" der Menschen wieder geben. (Ebenso wie Hennys Erfahrungen, stellvertretend für die der europäischen Juden, einen von dem Gegenteil, der angeborenen Schlechtheit, überzeugen kann. Menschen haben die Fähigkeit zu beidem.)


    So empfinde ich das auch - selten so sehr wie bei der derzeitigen Lektüre. Neben den oben angeführten Grausamkeiten wird auch gerade in Hennys Nachkriegsjahren wieder diese große Mitmenschlichkeit deutlich, die einen wieder ein bisschen aufrichtet und die leider in unserer Zeit auch selten geworden ist.
    Auch ich las - wie du, Saltanah, neben "Eine gute Partie" "Verwandte Stimmen", wie der deutsche Titel von "Equal Music" heißt. Und ich war auch völlig erstaunt von der anderen Thematik des letzteren Romans, langsam beginne ich aber die Bezüge zu verstehen, wenn ich auch noch nicht im vierten Buch bin.
    Auch dass Seth' Vater ein findiger Schuhhändler war/ist, zeigt, wie stark Seth schon vor "Zwei Leben" seine Biografie und seinen familiären Hintergrund mit seinem literarischen Werk verschränkt.


    EIn schönes Wochenende!


    HG
    finsbury

  • Hallo ihr zwei,


    gestern abend habe ich das Buch beendet, hänge aber, wie gesagt, mit meinen Kommentaren hinterher. Das passt aber recht gut, da ihr noch nicht so weit seit. Außerdem habe ich so Gelegenheit, mich noch ein paar Tage mit dem Buch zu beschäftigen.


    3. Teil:
    Zum ersten Mal ist es mir hier beim Lesen eines englischen Buches im Original passiert, dass ich mir wünschte, doch die deutsche Übersetzung vor mir zu haben. Dies liegt natürlich daran, dass Seth für seine englischsprachigen Leser gezwungen war, die vielen deutschen Briefe und Dokumente, aus denen er zitiert, zu übersetzen. Schade, denn ich hätte sie viel lieber im Original gelesen. Ist bei euch angegeben, ob Seth dem Übersetzer die Originalschriftstücke zu Verfügung gestellt hat? Ich hoffe zumindest, dass seine Übersetzungen nicht noch einmal zurückübersetzt wurden.


    Mich faszinierte dieser Teil etwas weniger als der letzte, was wohl daran liegt, dass ich mehr über die Ereignisse in Nazideutschland weiß, als über Kriegsgeschehnisse. Seth musste ja relativ viele in Deutschland bekannte Informationen für seine nichtdeutschen Leser aufbereiten. Das ist ihm gut gelungen - so weit ich das beurteilen kann - und wie Finsbury schrieb, werden die Gräueltaten dadurch, dass sie hier uns "bekannte" Personen betreffen, trotz meiner recht umfangreichen Vorkenntnisse sehr eindrücklich.
    Gerade die verzweifelten Versuche nach Kriegsende, etwas über das Schicksal der Ahgehörigen und Freunde zu erfahren, die Korrespondenz rund um den Globus mit rechtzeitig Ausgewanderten/Geflohenen, die vielleicht von Dritten neue Informationen erhalten haben könnten, und der plötzlich auftauchende Argwohn, liebe Freunde hätten vielleicht auch "Dreck am Stecken", und sei es noch so wenig, mit der folgenden Frage, ob man sich von ihnen lossagen soll oder nicht, haben mich tief betroffen gemacht. Wie groß die psychische Belastung auch der "Glücklichen" wie Henny war, die den schlimmsten Terror nicht am eigenen Leibe durchgemacht hatten, wird dadurch sehr deutlich.


    In diesem Teil wurde mir plötzlich klar, dass Seth trotz seiner persönlichen "Verwicklungen" in das Thema des Buches ja eigentlich eine große Außenperspektive hat. Ich nehme immer automatisch an, dass allen Menschen die Nazizeit und die Judenverfolgung sozusagen nahe liegen, aber für ihn als Inder mit indischer Schulbildung war das ja ein Thema, dass ihm ebenso fern lag und über das er wohl ungefähr so viel (so wenig) wusste, wie ich über z. B. das indische Kastenwesen. Man hat davon gehört, hat eine vage Vorstellung davon, ist vielleicht auch schockiert, aber im Grunde genommen ist es doch sehr fremd und etwas, das man mit einem Schulterzucken von sich streift.
    Gegen Ende des 3. Teils (3.33) erwähnt Seth auch selbst, dass er mehr über "Schafzucht in den Canterbury Plains von Neuseeland" gelernt hatte, als über europäische Geschichte. Um so beeindruckender ist, wie tief er sich in das Thema eingearbeitet hat. Es zeigt deutlich, wie ernst er sein Buch nahm; er hat jedenfalls nicht "geschludert".


    Dass ihm nach seinem Besuch im Archiv von Yad Vashem die deutsche Sprache zutiefst zuwider war, kann ich nachvollziehen. Eine eigentlich geliebte Sprache weckte plötzlich so entsetzliche Assoziationen, dass sie eine Zeit lang zu einer Unsprache wurde. Ähnlich wie Henny es jahrzehntelang nicht fertig brachte, Deutschland zu besuchen, konnte Seth die deutsche Sprache nicht benutzen (wobei ich die Erlebnisse der beiden natürlich nicht gleichsetzen will - aber der psychologische Mechanismus ist, wenn auch in ganz verschieden starker Ausprägung, derselbe.)


    Ein schönes Wochenende wünscht euch
    Saltanah

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Hallo Saltanah und Karthause,


    gestern morgen bin ich auch fertig geworden.
    Das vierte Buch hatte zunächst für mich Längen, und ich störte mich auch etwas an dieser minutiösen Behandlung der Erbschaft und Äußerungen von Onkel Shanti und Vikrams Übelnahme derselben. Aber dann sagte ich mir, dass das eben auch zu dieser Großfamilientradition gehört: Man ist füreinander da und setzt sich in beeindruckender Weise unter Einsatz von großen Mengen Zeit und Geld füreinander ein, ist aber andererseits auch sehr hellhörig, um nicht zu sagen empfindlich, wenn es um Anerkennung dessen geht.
    Ich habe an meinem eigenen Vater kurz vor seinem Ende ähnliche Grobheiten, wie sie bei Onkel Shanti vorkamen, beobachtet, ohne dass er senil gewesen wäre und habe es aber dem Eigenbrötlerischen des Alters zugeordnet und nicht weiter krumm genommen.
    Andererseits kann man unsere oft lockeren Familienbande nicht mit den intensiven Beziehungen der in diesem Buch geschilderten Großfamilie vergleichen.


    Zur Übersetzungsproblematik:


    Zitat von "Saltanah"

    Ist bei euch angegeben, ob Seth dem Übersetzer die Originalschriftstücke zu Verfügung gestellt hat? Ich hoffe zumindest, dass seine Übersetzungen nicht noch einmal zurückübersetzt wurden.


    Ich gehe davon aus, dass das Buch die deutschen Originaldokumente enthält, da auf der Rückseite des Titelblattes steht, dass bei der Wiedergabe der Korrespondez orthographische Eigenheiten der Schreiber erhalten geblieben seien. So wie diese Eigentümlichkeiten in den deutschen Briefen aussehen, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie ein Rückübersetzer sich minutiös ausgedacht hätte. Außerdem sind ja einige Briefauszüge faksimiliert wiedergegeben, und die stimmen mit dem Abgedruckten üebrein.
    Wunderschön fand ich den Abschlusssatz des Buches, denn der bringt diesen ganzen Wahnsinn des Rassismus, Chauvinismus und aller Vorurteile auf einen Punkt.


    Wir sollten einsehen, dass wir auch als jemand anders hätten geboren werden können. Wir sollten an eine menschliche Logik und vielleicht zur rechten Zeit an die Liebe glauben.


    Für dieses Ende und für das ganze Buch: Respekt und großen Dank, Vikram Seth ! :blume:


    Und euch ebenfalls ein herzliches Dankeschön fü die kleine, aber feine Leserunde.


    Bis bald mal wieder


    finsbury

  • Hallo Saltanah und finsbury,


    wie gesagt ich hänge etwas hinterher, es liegt aber keineswegs am Buch. Von dem bin ich ebenso begeistert wie ihr. Gestern habe ich den 3. Teil beendet.


    Dieser Teil hat ja Henny im Focus. Ich finde es schon beeindruckend wie Vikram Seth die verschiedenen Lebenssituationen beschreibt. Akribisch hat er viele Details gesammelt, mit denen er dem Leser ein sehr umfassendes Zeitbild schafft. Der Briefwechsel zwischen Henny und Fröschlein hat mich sehr berührt. Über die zeit der Judenverfolgung habe ich zwar schon sehr viel gelesen, aber in dieser Biografie wird das ganze Grauen sehr persönlich dargestellt, es erhält sozusagen ein Gesicht. Das ging mir stellenweise schon unter die Haut.



    Zitat von "Saltanah"

    Ist bei euch angegeben, ob Seth dem Übersetzer die Originalschriftstücke zu Verfügung gestellt hat? Ich hoffe zumindest, dass seine Übersetzungen nicht noch einmal zurückübersetzt wurden.


    Wie finsbury gehe ich auch davon aus, dass die deutschen Originale Verwendung fanden. Seth hat in seine Recherche so viel Mühe investiert, ihm ist doch sicher bewusst, dass eine Übersetzung und deren Re-Übersetzung zu deutlichen sprachlichen Verlusten führen würde.


    Ich werde mich nun dem 4. Teil widmen. Dieses Buch mag ich sehr gern. Es ist noch ein richtiges Highlight in diesem Jahr. Es tut mir Leid, dass ich nicht wirklich mit eurem Lesetempo mithalten konnte. Aber es geht momentan nicht anders.

    Liebe Grüße<br />Karthause :schmetterling:<br /><br />Die Kunst zu lesen, in ein Buch hineinzufallen, darin zu versinken, kaum noch auftauchen zu können, ist ein Stück Lebenskunst. <br />Elke Heidenreich

  • Ich muss noch einen Nachtrag zum 3. Teil machen.


    Dieser Einschub, den Vikram Seth über die Rolle Deutschlands in der Geschichte machte, warum Deutschland den Krieg verlor und die Rolle, die Deutschlang in der gegenwärtigen Welt spielt fand ich grandios. Einerseits hätte ich solch einen Exkurs in einer Biografie nicht erwartet, andererseits zeigte mir das, welch umfangreichen Gedanken der Autor sich bei seiner Recherche gemacht hatte. Ich hatte dieses Kapitel meinem Mann vorgelesen. Er zeigte sich auch sehr beeindruckt davon. Am meisten hat mich aber der Gedankengang festgehalten, als er über den Kriegsausgang spekulierte, wäre die Judenfrage von den Nazis anders geregelt worden. Darüber haben wir noch lange diskutiert. Jetzt will mein Mann dieses Buch auch ganz schnell lesen.

    Liebe Grüße<br />Karthause :schmetterling:<br /><br />Die Kunst zu lesen, in ein Buch hineinzufallen, darin zu versinken, kaum noch auftauchen zu können, ist ein Stück Lebenskunst. <br />Elke Heidenreich

  • Hallo Karthause,


    Dieser Einschub, den Vikram Seth über die Rolle Deutschlands in der Geschichte machte, warum Deutschland den Krieg verlor und die Rolle, die Deutschlang in der gegenwärtigen Welt spielt fand ich grandios. Einerseits hätte ich solch einen Exkurs in einer Biografie nicht erwartet, andererseits zeigte mir das, welch umfangreichen Gedanken der Autor sich bei seiner Recherche gemacht hatte.


    So ging es mir genau mit diesem Abschnitt auch. Besonders beeindruckt hat mich dabei, wie er nach der Lektüre dieser schauerlichen Briefe und Aktennotizen der Nazi-Schergen sich dennoch damit auseinandergesetzt hat, welche negative und positive Bedeutung dieses Land einst und jetzt in seinen Augen hat. Ich halte es für ganz wichtig, dass wir uns immer wieder vergewissern, was in anderen Ländern allgemein gedacht und auch von uns gehalten wird, anstatt in der eigenen Suppe zu verkochen.



    HG
    finsbury

  • Hallo ihr zwei,


    jetzt muss ich endlich auch was zum Rest des Buches schreiben.


    4. Teil:
    Henny und Shanti. Endlich erfahren wir mehr über die beiden gemeinsam. Schön dabei war, jetzt endlich auch weitere "Zeugen" zu vernehmen, nicht alles nur aus Shantis Mund oder Briefen vermittelt zu bekommen.
    Mehrmals musste ich mit dem Kopf darüber schütteln, als mal wieder ein Teil der Seth-Familie plötzlich in London auftaucht, und ganz selbstverständlich von Shanti und Henny aufgenommen und/oder unterstützt wird. Für die Ankommenden natürlich schön, dass sie in der Fremde einen Zufluchtsort haben - ihnen zumindest wird die ganz extreme Einsamkeit, die Shanti anfangs in Berlin erfahren musste, erspart. Für die Gastgeber muss das allerdings ein ganz schöner Stress gewesen sein; immer wieder mussten sie sich um weitgehend Unbekannte kümmern, sie teils gar ins Haus aufnehmen. Das wäre wirklich nichts für mich! Ich frage mich auch, wie Henny dazu stand; wie freiwillig oder gezwungen sie die Verwandten ihres Mannes aufnahm. War nicht jeder Besuch aus Indien gleichzeitig eine Erinnerung daran, dass sie außer ihrem nie wieder gesehenen Bruder in Südamerika keine Verwandten mehr hatte?
    Überhaupt habe ich mit Seth zusammen viel über das Verhältnis Henny/Shanti gerätselt. Im ersten Teil klang es so perfekt, so ideal (und so hat Seth es wohl als Jugendlicher wahrgenommen), aber hier zeigen sich doch einige weniger ideale Sachen. Das hat mich - ich muss es zugeben - ein bisschen enttäuscht. Ich habe mir nach allem Elend so sehr ein perfektes Märchenende gewünscht, es mir für Shanti und Henny gewünscht, aber nur im Märchen (und in Hollywood) leben die Helden nach Bestehen ihrer Abenteuer glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.
    Um das Leben der beiden so darzustellen, dazu ist Seth viel zu sehr an der Wahrheit interessiert, daran, den beiden so nahe wie möglich zu kommen. Auch mit negativen Aspekten.


    5. Teil:
    Das trifft auf diesen letzten Teil - Shanti alleine - in noch höherem Maße zu. Seth erspart uns nichts, was die negativen Seiten des Alters angeht. Ein immer weiter fortschreitender körperlicher Verfall, immer größere Abhängigkeit von anderen, Verwirrung, Gedächtnisprobleme, gefühlsmäßige Ausbrüche... Nicht leicht, davon zu lesen, und noch viel schwerer, das erleben zu müssen. Ich wünschte mir manchmal, Seth hätte nicht alles so genau geschildert, aber zu einer vollständigen Lebensschilderung gehört auch das dazu, und hier kann er ja sogar aus eigener Erfahrung berichten.
    Die Sache mit dem Testament - auch mir war sie zu ausführlich geschildert, aber im Nachhinein denke ich, dass es wichtig war. Es zeigt ja indirekt, wie sehr Seth seinen Großonkel doch idealisiert hatte; gerade deswegen war er von dem Testament ja so schockiert. Er musste eine Phase der Desillusionierung und Ablehnung durchlaufen, bevor er sich einigermaßen objektiv seinem Thema nähern konnte.


    Übrigens finde ich gerade das so besonders an diesem Buch: das gleichzeitige Vorhandensein von großer Objektivität - Seth geht akribisch alle seine Quellen durch und vermittelt sie an seine Leser - und höchster Subjektivität - Seth ist eben kein von seinem Arbeitsgebiet losglöster Forscher, sondern in hohem Maße auch gefühlsmäßig involviert. Er schreibt immer auch von sich selbst, gibt auch sich selbst Preis, und gerade das gefällt mir sehr gut.


    Karthause:
    Schön, dass dieses Buch durch deine Vermittlung noch einen Leser gewonnen hat!


    Liebe Grüße,
    Saltanah

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Seit Donnerstag bin ich auch durch, nun wird es Zeit für meine letzten Eindrücke.


    Im 4. Teil ging es ja um die Beziehung von Henny und Shanti. Immer wieder klang an, dass Shanti Henny über alle Maßen liebte. An einer Stelle steht, er liebte sie mehr als sein Leben. Henny war immer als die gefühlsmäßig zurückhaltendere dargestellt. Sie konnte ihre Gefühle, auch die Shanti gegenüber, nicht so zeigen. Ich binjedoch überzeugt, dass sie ihn auch ganz aufrichtig und von Herzen geliebt hat.


    Der 5. Teil wurde dann hauptsächlich durch die Testamentsquerelen bestimmt. Auch mir war das viel zu ausführlich. Ok, Shanti hat sein Testament geändert. Vikram, der sich wie ein Sohn von Shanti fühlte, wurde dabei nicht bedacht, auch seine Mutter nicht. Vikram Seth schreibt auf Seite 518/519 er wäre nicht verbittert über das geänderte Testament. M. E. empfand er es aber zumindest als persönliche Zurückweisung.


    Bis zu diesem Zeitpunkt hat mir die Perspektive, die Seth für sein Buch wählte, sehr gut gefallen. Er war um eine neutrale Erzählweise bemüht.Diese Neutralität gibt er in diesem Abschnitt zu Gunsten größerer Persönlichkeit auf. Mir hat dies nicht so gut gefallen.


    Bis auf diesen einen kleinen Kritikpunkt hat mir diese Biografie ausgesprochen gut gefallen. Ich lernte nicht nur Shanti und Henny, deren Familie und Freunde, sondern auch die Lebensumstände in Indien, Deutschland und England im Lauf der Zeit kennen. Vikram Seth hat sich mir als herausragender Erzähler präsentiert, dieses Buch mach Lust auf mehr. "Eine gute Partie" wird das nächste Buch sein, das ich von ihm lese.

    Liebe Grüße<br />Karthause :schmetterling:<br /><br />Die Kunst zu lesen, in ein Buch hineinzufallen, darin zu versinken, kaum noch auftauchen zu können, ist ein Stück Lebenskunst. <br />Elke Heidenreich