[Südkorea] Hwang Sok-yong – Die Geschichte des Herrn Han

Es gibt 9 Antworten in diesem Thema, welches 3.542 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von tom leo.

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    Inhalt: 1968 zieht ein alter, offensichtlich verarmter Mann in ein Zimmer in einem Seouler Mietshaus. Seine Nachbarn finden ihn merkwürdig, weil er nicht mit ihnen spricht. Drei Jahre später stirbt er nach einem Schlaganfall, in einem Notizbüchlein finden die Nachbarn drei Adressen, an die sie Telegramme schicken. Zur Totenwache kommen ein älterer Herr, und zwei Frauen, eine ältere und ein jüngere. Und wer war nun dieser Mann?
    Han Yongdok ist Gynäkologe und Professor am Universitätskrankenhaus in Pjöngjang, als der Korea-Krieg ausbricht. Als fast alle Kollegen zur Front abkommandiert werden, er aber nicht, ahnt er, daß er als unsicherer Kantonist gilt. Er wird mit seinem Freund Soh an ein anderes Krankenhaus versetzt, die offizielle Richtlinie sieht vor, daß Parteikader bevorzugt behandelt werden, alle anderen, vor allem Kinder, haben Pech gehabt. Han ignoriert diese Vorschriften immer wieder, wird verhaftet, zum Tode verurteilt, entgeht aber durch Zufall der Erschießung mit nur einer leichten Verletzung. Eigentlich will er mit seiner Familie über den Fluß Daedong in den Süden fliehen, aber die Mutter fühlt sich dazu nicht in der Lage, und so läßt er sie, seine Frau und die Kinder zurück, will sie später nachholen. Das ist auf Grund der politischen Verhältnisse aber nicht mehr möglich.
    In Seoul lebt er zunächst bei seiner Schwester, hat Schwierigkeiten, eine Anstellung zu finden und eröffnet schließlich mit zwei Schwindlern eine illegale Praxis. Mit seinen Skrupeln wird er den beiden schnell lästig, und um ihm einen Denkzettel zu verpassen, denunzieren sie ihn als nordkoreanischen Spion. Seine Schwester und sein alter Freund Soh machen ihn schließlich in den Folterkellern des Geheimdienstes aus, Han kommt auch frei, weil es keine ausreichenden Beweise gibt, aber er ist ein gebrochener Mann.



    Meine Meinung: Die Art, wie Hwang Sok-yong diese Geschichte erzählt, hat mich beeindruckt. Die Sprache ist ausgesprochen nüchtern, aber gerade weil damit nicht auf die Tränendrüse gedrückt wird, wirkt das Geschehen noch beklemmender. Die Mechanismen, die in Zeiten des Krieges bzw. politischer Spannungen unter autoritärem Regime greifen, zeigen sich in der kurzen Geschichte des Herrn Han exemplarisch und das verleiht ihr eine gewisse Allgemeingültigkeit. Darunter wie unter der Kürze des Textes (inklusive Nachwort nur rund 130 Seiten) leidet jedoch ein wenig die Charakterzeichnung, viel kann man über die meisten Figuren nicht erfahren, sie entfalten kaum Persönlichkeit. Ich hätte mir daher schon gewünscht, daß entweder der spezifisch koreanische Hintergrund etwas ausführlicher dargestellt gewesen wäre (Anfang der 1970er Jahre brauchte das koreanische Publikum als erster Adressat diese Infos aber sicher nicht), oder daß gerade wegen dieser Übertragbarkeit eine zweite, abstraktere Inhaltsebene stärker zum Tragen gekommen wäre. Hier wurde etwas verschenkt, um es zu wirklich bleibender Literatur zu machen – nichtsdestotrotz ist es lesenswert.


    4ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:


    Schönen Gruß,
    Aldawen


    Land im Betreff hinzugefügt.

    Einmal editiert, zuletzt von Aldawen ()

  • Danke für die Rezi.
    Ich hatte von dem Buch bislang noch nie gehört, aber ich werde es mir auf jeden Fall mal näher ansehen. :smile:

    viele Grüße<br />Tirah

  • Mach das, und wenn Du es lesen solltest, bin ich gespannt auf Deinen Kommentar :winken:

  • Ich habe das Buch vor einer ganzen Weile ebenfalls gelesen und fand es auch gut, kann mich wegen des Zeitabstandes aber nicht mehr ausführlicher darüber äußern. Ich kenne auch die beiden anderen Bücher, die von Hwang Sok-Yong bisher auf deutsch erschienen sind:


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    Der ferne Garten und Der Gast, beide ebenfalls empfehlenswert, wobei mir Der ferne Garten am besten gefiel. Sie sind alle auch politische Bücher; es geht um den Koreakrieg, soziale Mißstände in Südkorea und um das Verhältnis der beiden Teile des Landes (Hwang Sok-Yong saß ja einige Jahre im Gefängnis in Südkorea, weil er nach Nordkorea gereist war - inzwischen war er noch mehrmals als Kulturvertreter ganz offiziell in Nordkorea). Vielleicht ist das ja auch etwas für Dich, Aldawen? Ich zumindest warte sehnsüchtig auf weitere Übersetzungen. :smile:

    [i]Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder vorstoßen würden, von allen Mensche

  • Danke für den Hinweis, Pan! Ich hatte jetzt noch nicht nach weiteren Bücher von Hwang Sok-yong geschaut, aber interessant wären sie auf alle Fälle. Ich werd sie mir mal vormerken.

  • Danke für die interessante Rezi, die mich besonders berührt, da ich mich gerade in Seoul befinde und mich ua. auch sehr mit der koreanischen Literatur auseinandersetze.


    Ich bin etwas verwirrt, da ich von französischsprachigen Büchern einen Hwang Sun Won kenne, der ebenfalls in Pyongyang geboren worden ist (1915), doch es handelt sich wohl um einen anderen.


    Etwas grundsätzlicher wollte ich gerne sagen, dass die für uns (zumindest gefühlt) fehlenden Informationen sich zweierlei deuten lassen: Man könnte sich fragen, rein kulturellmaessig, ob ein Koreaner geläufige "deutsche" Bücher ohne gewisses Hintergrundwissen lesen kann. Umgekehrt aber erst recht! Wir haben oft im Westen keine Ahnung, wie es hier (in Korea) ausschaut. Dieses Hintergrundwissen gehört meines Erachtens in ein ordentliches Vorwort, ist also Aufgabe des Herausgebers. Da gibt oder gebe es einiges zu tun!


    Etwas Zweites ist aber kulturell noch viel Ausschlaggebender. Von der ganzen Mentalität her wird ein Koreaner anders an Personenbeschreibungen herangehen als wir "direkten" Europäer. Bis heute ist es eigentlich verpönt, gewisse Dinge direkt zu bezeichnen. Das qualitative URTEIL über jemanden wird man selten finden. Leider - sage ich heute mit diesem Hintergrund - meinen wir in Europa, alles sofort und ohne Blatt vor dem Mund sagen zu müssen. In der koreanischen Mentalität muss man vielleicht viel mehr zwischen den Zeilen lesen...


    Insofern verwundern mich Deine Feststellungen zu den Qualitäten dieses Buches nicht zu sehr. Sicherlich fällt uns Westlern das sehr schwer, doch gerade Literatur aus einem solchen Kulturraum müsste man eigentlich mit anderen Augen lesen lernen.


    Die Kürze des Büchleins mag verwundern. Es gibt eine große Reihe dieser 80- 100 seitigen - ja was? - Werke zwischen Kurzerzaehlung und Roman. Vielleicht ein "typisch" koreanisches Genre.

    Gruß, tom leo<br /><br />Lese gerade: <br />Léonid Andreïev - Le gouffre<br />Franz Kafka - Brief an den Vater<br />Ludmila Ulitzkaja - Sonjetschka

  • tom leo: Danke für Deine Anmerkungen!



    Etwas grundsätzlicher wollte ich gerne sagen, dass die für uns (zumindest gefühlt) fehlenden Informationen sich zweierlei deuten lassen: Man könnte sich fragen, rein kulturellmaessig, ob ein Koreaner geläufige "deutsche" Bücher ohne gewisses Hintergrundwissen lesen kann.


    Davon gehe ich nicht aus, und deshalb mache ich die – für mich – fehlenden Informationen zum koreanischen Zusammenhang auch nicht dem Autor zum Vorwurf. Daher rührt mein ausdrücklicher Verweis darauf, daß es für das koreanische Publikum, für das dieses Buch schließlich in erster Linie geschrieben wurde, auch nicht erforderlich war. Dessen bin ich mir durchaus bewußt.



    Wir haben oft im Westen keine Ahnung, wie es hier (in Korea) ausschaut. Dieses Hintergrundwissen gehört meines Erachtens in ein ordentliches Vorwort, ist also Aufgabe des Herausgebers. Da gibt oder gebe es einiges zu tun!


    Das wäre in der Tat wünschenswert und es gibt auch Verlage, die mir da positiv auffallen. Lenos z. B. macht das bei den arabischen Büchern recht konsequent und ich empfinde das immer als sehr hilfreich.



    Etwas Zweites ist aber kulturell noch viel Ausschlaggebender. Von der ganzen Mentalität her wird ein Koreaner anders an Personenbeschreibungen herangehen als wir "direkten" Europäer. Bis heute ist es eigentlich verpönt, gewisse Dinge direkt zu bezeichnen. Das qualitative URTEIL über jemanden wird man selten finden. Leider - sage ich heute mit diesem Hintergrund - meinen wir in Europa, alles sofort und ohne Blatt vor dem Mund sagen zu müssen. In der koreanischen Mentalität muss man vielleicht viel mehr zwischen den Zeilen lesen...


    Insofern verwundern mich Deine Feststellungen zu den Qualitäten dieses Buches nicht zu sehr. Sicherlich fällt uns Westlern das sehr schwer, doch gerade Literatur aus einem solchen Kulturraum müsste man eigentlich mit anderen Augen lesen lernen.


    Die Frage ist nur, wie man dieses „mit anderen Augen lesen“ lernen kann. Grundsätzlich ist mir der von Dir angesprochene Unterschied schon bekannt, da ich aber keine persönlichen Erfahrungen damit habe, fällt mit das Zwischen-den-Zeilen-Lesen hier etwas schwer. Sicher lassen sich aus einzelnen Formulierungen bestimmte Rückschlüsse ziehen, aber ob diese Formulierungen bei mir die gleichen Rückschlüsse auslösen wie bei einem Koreaner mit seiner kulturellen Prägung? Ich wage es zu bezweifeln. Das ist wahrscheinlich schade, weil mir dadurch vermutlich etwas an der Geschichte entgangen ist, aber ich wüßte nicht wie sich das, außer durch Diskussion mit Koreanern, beheben ließe. Und da fehlen mir die passenden Kontakte.


    Schönen Gruß,
    Aldawen

  • Als 1950 der Koreakrieg ausbricht, arbeitet Han Yongdok als Gynäkologe in einem Krankenhaus in Pjöngjang. Fast alle Kollegen werden zum Militär einberufen, Han wird allerdings an ein anderes Krankenhaus versetzt. Dort werden mit den wenigen vorhandenen Medikamenten und Arbeitskräften nur Parteimitglieder behandelt. Han widersetzt sich und operiert ein junges Mädchen, wird aber erwischt und landet im Gefängnis. Eine Erschießung überlebt er leicht verletzt. Er flieht ohne Familie in den Süden des Landes und fängt dort, so gut es geht, ein neues Leben an. Jahre später stirbt er einsam und verarmt in Seoul.


    Ganz nüchtern, fast wie ein Bericht wird die Geschichte von Herrn Han erzählt. Manchmal war mir das fast ein bisschen zu distanziert, an anderen Stellen war ich aber froh, dass nicht genauer auf die Gefühle und Gedanken eingegangen, sondern alles nur "von außen" beschrieben wird. Auf Folter und grausame Verhörmethoden, die detailliert ausgeführt werden, kann ich nämlich sehr gut verzichten.


    Die Geschichte von Herrn Han ist nicht sehr spezifisch koreanisch. Einerseits fand ich das gut, da der Machtmissbrauch des Regimes und die Versuche, Kritik oder Andersdenken sofort im Keim zu ersticken, sicher auch in vielen anderen Ländern und zu anderen Zeiten so vorkommen oder vorgekommen sind. Andererseits hätte ich mir doch gewünscht, etwas mehr über die Konflikte zwischen Nord- und Südkorea zu erfahren.


    Insgesamt aber ein sehr interessantes und lesenswertes Buch! 4ratten

    ~~better to be hated for who you are, than loved for who you&WCF_AMPERSAND're not~~<br /><br />www.literaturschaf.de

  • Dieses Buch habe ich der Schule wegen gelesen und ich war im Nachhinein begeistert, wie viele Eindrücke über den Koreakrieg hängen geblieben sind. Wenn jemand sich ein Bild vom damaligen Regime machen will, ist dieses Buch absolut lesenswert, selbst wenn kein Lehrer dahinter steht und ein Referat verlangt. :zwinker:



    Sicherlich fällt uns Westlern das sehr schwer, doch gerade Literatur aus einem solchen Kulturraum müsste man eigentlich mit anderen Augen lesen lernen.


    Oh ja, man muss sie sich einfach dann und wann zu Gemüte führen - bewusst. Allein schon um aus den "westlichen" Gedankenbahnen mal wieder auszubrechen. Bei Gelegenheit werd ich mal schauen, ob ich ein paar asiatische Bücher vorstellen soll, oder ob sie nicht eh schon längst hier irgendwo im Forum erwähnt wurden - mir kommt vor, hier wurde nahezu alles schonmal gelesen.

    Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du kennst - aber vom Zufall des Gelesenen hängt es ab, was du bist.<br />- Elias Canetti

  • Ich habe das Buch inzwischen nun auch gelesen und schließe mich ganz dem positiven Eindruck von Aldawen (und anderen Lesern) an.


    Lesen!

    Gruß, tom leo<br /><br />Lese gerade: <br />Léonid Andreïev - Le gouffre<br />Franz Kafka - Brief an den Vater<br />Ludmila Ulitzkaja - Sonjetschka