Josef Winkler - Friedhof der bitteren Orangen

Es gibt 2 Antworten in diesem Thema, welches 1.500 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von mombour.

  • Ich habe vor rund einem Jahr Friedhof der bitteren Orangen gelesen und ziemlich ausführlich dokumentiert. Vielleicht interessiert es jemanden:


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    Erst einmal muss sich der mit Winkler noch nicht vertraute Leser seitenweise durchbeißen und den ungewöhnlichen Zugang des Autors zu Tod und katholischen Riten ertragen. So ging es auch mir, und irgendwann einmal, nachdem ich das Buch schon zigmal weggelegt hatte, vorgeblättert hatte, um zu sehen, ob eine geringe Chance auf eine zusammenhängende Geschichte jenseits der Erwähnung von Verwesung, Leichen, Papst und Tod besteht, wurde ich dann doch von Winklers Schreib-Welt eingenommen. Dann beginnt er in einem Stil, der mich irgendwie an den Gedankenstrom von James Joyce erinnert, aber doch ganz eigenständig ist, detailliert, ja sogar peinlich genau, zu beschreiben, was an der Statione Termini in Rom tagtäglich passiert. Dabei nimmt er gerade das ins Visier, was die meisten anderen Passanten gerne übersehen, wo sie mit Sicherheit sogar absichtlich wegsehen. Und in dieser peniblen Beschreibung lässt sich der Autor zu Rückblenden in seine verhasste Kindheit im erzkatholischen kärntner Dorf Kamering inspirieren, wo er die schlechtesten Erfahrungen mit Schulfeinden, Verwandten, Nachbarn, Bauern und dem Pfarrer machen hat müssen. Viele im Ort nehmen es dem Autor offensichtlich übel, dass er schlecht über sie schreibt. Seine homosexuelle Orientierung, seine Todessehnsucht, sein krankhaft anmutendes Verhältnis zu Tod und Begräbnis lassen eine unheimliche Unzufriedenheit mit sich selbst erkennen und einen Hass auf fast alles, was mit seiner Kindheit und seinem Heimatdorf zu tun hat.
    Winkler kann zweifellos genau beobachten und präzise schreiben. Aber das, was er da unbarmherzig mit einer ISBN Nummer versehen auf dem Buchmarkt deponiert hat, muss erst einmal unbeschadet verdaut werden. Das ist meiner Meinung nach nur möglich, wenn man einen guten Magen hat und das Geschehen aus der nötigen Distanz betrachtet. Dass gerade das den Kameringern, die in Winklers Büchern vorkommen, nicht einfach gelingen kann, ist nicht direkt eine Überraschung. Bei jeder Seite denkt sich ein Leser wie ich unwillkürlich: „Ich bin froh, dass ich nicht in seiner Haut stecke.“ In diesem Buch erfährt man über das wilde Innenleben eines äußerlich womöglich unauffälligen Menschen. Innen zerrissen und unvollständig vernarbt. Er beschreibt unheimliche Albträume. In seinem Heimatdorf gibt es immer wieder Selbstmorde, vorzüglich durch Erhängen.
    Winkler zeigt dem Leser die Welt, insbesondere die Stricher-Szene Roms, durch die Augen eines schwulen, von der nach sexueller Entspannung bei Römische Straßenjungen, vorzüglich dunkelhäutig und von tunesischer oder marokkanischer Herkunft, strebenden Autors, der von seinem Elternhaus, seinem Dorf, den Bauern und dem Klerus schwer, genau genommen existenziell geschädigt ist und einer magischen Anziehung der Selbstzerstörung und des Todes ausgesetzt ist. Die Berichte von seinen triebgesteuerten Stadtspaziergängen an den Schattenseiten der heiligen Stadt spickt der Erzähler mit Vorwürfen und Schuldzuweisungen an andere. Ich frage mich, was für ein Schaden dem Kind durch die fanatische Heiligenverehrung der Kameringer angetan wurde? Verwesung, verwelkte Blumen, Leichen, alles, was mit dem Tod in Zusammenhang gebracht werden kann, durchzieht seine Schilderungen. Versucht er eine Befreiung von Schuldgefühlen? Er war Ministrant in seinem kreuzförmig angelegten Heimatdorf. Im Laufe der Erzählung stellt sich schließlich heraus, dass der mehrfach erwähnte „Selbstmord-Jakob“ als Kind sein homosexueller Freund war. Dieser Jakob hat sich 17-jährig gleichzeitig mit seinem Freund Robert im Pfarrhof-Stadel erhängt. Na endlich. Ein Geschenk für den Leser, der sich seitenlang gefragt hat, worauf die vielen Fragmenten und Andeutungen hinauslaufen werden. Von dieser Stelle her betrachtet, wird dann der hervorragende dramaturgische Aufbau erkennbar. Der Protagonist hat auch den 16-jährigen Pjotr verführt, den Sohn einer ins Heimatdorf Kamering verschleppten Ukrainerin, die ihm ihre Geschichte erzählt hatte und nach der Publikation den Hass des Dorfes zu spüren bekam.
    Eigentlich ist es niemals Hass allein, sondern immer eine Hassliebe, die den Autor beschäftigt.
    Immer wieder kommt im Erzähler die katholische Erziehung durch, die ihm sagt, was man tun darf, und für alles andere Schuldgefühle parat hat. Man spürt in dem Erzähler eine Angst vor allem, was nicht tot ist. Er schreibt: „Bei den Toten bin ich gerne. Sie tun mir nichts und sind auch Menschen.“ Das sind die Worte eines Menschen, den die toten Angehörigen mit festem Griff zu sich ins Jenseits ziehen wollen, der sich dem Griff fast nicht mehr entziehen kann. Es ist nur mehr eine Frage der Zeit. In seinen Träumen haben sie schon vollends von ihm Besitz ergriffen. Er kann den Lockrufen aus dem Jenseits schwer widerstehen.
    Manches, was Winkler schreibt, ist an der Grenze des Erträglichen. Seine Hassliebe und Faszination betrifft die Zeremonien, Gewänder, Rituale der Kirche und ihre Symbole. Er scheint sich gleichzeitig am betäubenden Geruch des Weihrauchs zu ergötzen und im brennheißen Wachs der Kerzen Todesqualen zu erleiden.
    Wonach soll man ein Werk und einen Autor beurteilen? Die einen haben einen wohl strukturierten, spannenden und interessanten Plot, unverwechselbare Charaktere, eine wunderbare Sprache. Winkler skizziert eigentlich nur einen Charakter, sich selbst. Seine Erzählkunst zeigt sich in der Genauigkeit, mit der er die sonst unbeachteten Typen beschreibt und in der scheibchenweisen Aufdeckung der lebensbedrohenden Probleme des Protagonisten. In seinen detaillierten Beschreibungen der römischen Stricherszene nimmt der Erzähler selektiv das wahr, was dem Leser wahrscheinlich ohne ihn verschlossen bliebe.
    Der im Titel erwähnte Friedhof der bitteren Orangen ist der Ort, an den er am Ende des Buches die unzähligen Toten geistig überführt.


    EDIT: Habe diese Rezension von dem Thread "Wer kennt den diesjährigen Georg Büchner-Preisträger? abgetrennt sowie den Amazonlink eingefügt. LG, Saltanah

    Einmal editiert, zuletzt von Saltanah ()

  • Oh, sehr schön, wschin. Danke. Hört sich jedenfalls nach 'nem harten Brocken an. Das typische Herbstbuch für mich. Mal gucken, wann ich es meinem SUB entsteiße...

  • Hallo wschin,


    herzlichen Dank für den wunderbaren Einblick in den Roman. Literatur soll ruhig ein wenig wachrütteln, schockieren, von Dingen erzählen, die gerne lieber verschwiegen werden. Insofern mag Winkler ein harter Brocken sein (recht so :smile:). Ich werde immer neugieriger auf seine Romane.


    Liebe Grüße
    mombour