Yi Munyol – Der entstellte Held

Es gibt 2 Antworten in diesem Thema, welches 1.934 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Aldawen.

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    ZUM BUCH:
    Om Sokdae, Klassensprecher in der fünften Klasse einer kleinstädtischen Grundschule, tyrannisiert die Kinder mit eiserner Faust. Er ist ein durchtriebener Kerl, der seine Kameraden zu willenloser Unterwerfung zwingt und sie zu kriecherischen Duckmäusern degradiert. Er schlägt sie, nimmt ihnen Geld weg, nutzt sie aus, verkauft Vergünstigungen und läßt sich wie ein König behandeln.
    Han, ein neuer Schüler aus Seoul, nimmt den Kampf gegen Sokdaes Diktatur auf, wird aber in die völlige Isolation getrieben und muss sich schließlich geschlagen geben. Nach seiner Kapitulation entdeckt er jedoch eine neue Seite der korrupten Herrschaft und beginnt die Privilegien und die Teilhabe an der Macht zu genießen. Nachdem Sokdae fort ist, beginnt eine lange Phase des Umbruchs, die schließlich in der Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse mündet. (aus der Amazon-Kurzbeschreibung, die mal recht gut gelungen ist?!)



    MEINE EINDRÜCKE:
    Beim Lesen soll man ein wenig den geschichtlichen Kontext im Auge behalten. So z.B. die stetige Präsenz diktatorialer Kräfte in Korea bis gegen Ende der 80iger Jahre, dem Entstehungszeitraum der Erzählung, die 1987 auf Koreanisch veröffentlicht wurde. Es muss nachdenklich stimmen, wenn es zu meiner franzoesischen. Ausgabe auf dem Klappentext heißt, dass dieses Stück einen immensen und sofortigen Erfolg in Korea fand. Wohl nicht einfach wegen einer Schülergeschichte, sondern weil man sich in den Inhalten, den Spannungen, Fragen wiederfand!


    Auf dem Hintergrund gelesen sieht man deutlicher, dass Hans Vater also wegen eines "politischen Vergehens" in der Provinz landet (direkt erste Seite der Erzaehlung) und also alles Folgende indirekt Konsequenz oder Begleiterscheinung von Wirren sind. Sicherlich wird - das ist schnell absehbar - die Frage des Umgangs mit Autorität eine große Rolle spielen.


    Da es sich um einen Rückblick handelt (am Anfang wird klar gesagt: "vor gut 30 Jahren") muss man die Erzählung quasi früher ansetzen. Eventuell Ende der 50iger, d.h. also in der Zeit, in der das autokratische Regime von Diktator Rhee in den letzten Zügen lag.


    Wunderbar präzise wird beschrieben, wie Han die verschiedenen Stadien im Umgang mit der Autorität von Om Sokdae, dem „diktatorialen Mitschüler“, durchmacht. Von Erstaunen, Revolte, legalen Schritten, Widerstand, Gegenwehr hin bis zur Verzweiflung, ja dann auch Unterwerfung, gar Komplizität. Das alles ist überaus gut beobachtet und beschrieben. Hut ab. Auf dem Klappentext einer Ausgabe steht: "In 'Der entstellte Held' zeichnet er (Yi Munyol) ein Psychogramm der Macht und spricht damit ein Thema von universeller Gültigkeit an." Wie wir auch in einer Leserunde feststellten, fällt es nicht schwer, hier trotz aller kulturellen (koreanischen) Eigenheiten Parallelen zu den auch hier in Europa nicht so lange zurück liegenden Diktaturen zu finden.


    Die „Lösung“, der Ausweg aus dem System, ist ein ähnlicher Prozeß, mag aber nachdenklich stimmen, wenn man darin eine universale Gültigkeit sehen will. Doch das mag jeder dann selber entscheiden.


    Ein überaus lesenswertes Buch, das zeitlos von der Erfahrung von Macht und Gewalt spricht.


    4ratten


    ZUM AUTOR:
    Yi Munyol (* 18. Mai 1948 in Yongyang, Südkorea) ist ein südkoreanischer Schriftsteller. Yi gehört zu den bedeutendsten und meistgelesenen koreanischen Schriftstellern der Gegenwart. Seine Romane und Erzählungen sind in viele Sprachen übersetzt worden.
    Kurz vor Ausbruch des Koreakrieges geboren, musste Yi schon bald ohne seinen Vater auskommen, der die Familie 1951 verließ und in das kommunistische Lager wechselte. Den Besuch der Oberschule in Andong brach er ab, um nach Obdachlosigkeit und längerer Krankheit seinen Abschluss nachzuholen. 1968 bestand er die Aufnahmeprüfung der Seoul National University und studierte bis 1970 Koreanisch. Dann brach der das Studium ab, um Beamter zu werden. Er konnte aber die dafür nötige Prüfung mehrmals nicht bestehen und so trat er 1973 ins Militär ein. Nach seiner dreijährigen Dienstzeit arbeitet er als Dozent und Journalist. 1979 hatte er mit der Erzählung Saehagok seinen Durchbruch als Schriftsteller. Er bekam den Preis für Nachwuchsschriftsteller und schuf weitere Erzählungen und Romane, die mehrfach ausgezeichnet wurden.Von 1994 bis 1997 lehrte er koreanische Sprache und Literatur an der Sejong University. Später baute er eine kleine Akademie auf, in der er Dichter ausbildet.


    Taschenbuch: 123 Seiten
    Verlag: Unionsverlag; Auflage: 1 (April 2004)
    Sprache: Deutsch
    ISBN-10: 3293202918
    ISBN-13: 978-3293202917

    Gruß, tom leo<br /><br />Lese gerade: <br />Léonid Andreïev - Le gouffre<br />Franz Kafka - Brief an den Vater<br />Ludmila Ulitzkaja - Sonjetschka

  • Nach der Kurzbeschreibung hätte ich es wahrscheinlich auch als Schülergeschichte und deshalb eher weniger interessant verworfen. Daher finde ich Deine zusätzlichen Ausführungen zur Einordnung sehr hilfreich. Zusammen mit meiner noch frischen und guten Erfahrung eines anderen koreanischen Romans macht mich das recht neugierig auf dieses Buch. Ich habe gerade schon gesehen, daß bei Bookcrossing einige Exemplare in Umlauf sind, da sollte sich einigermaßen kurzfristig eines von organisieren lassen. Danke fürs Aufmerksammachen!


    Schönen Gruß,
    Aldawen

  • Manchmal geht es schneller als gedacht, gelesen habe ich diese Ausgabe:


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    Zum Inhalt will ich nichts hinzufügen, da ist alles wesentliche gesagt.



    Meine Meinung: Yi Munyol hat hier ein interessantes kleines Buch vorgelegt. In dem Mikrokosmos einer Klasse gelingt ihm die Darstellung der Funktionsmechanismen einer Diktatur. Om Sokdaes „Regime“ lebt davon, daß keiner den Widerstand wagt, auch nicht, als in dem neuen Schüler Han Pyongtae ein Rebell auftritt, den man unterstützen könnte. Es ist ja auch viel bequemer, sich mit den herrschenden Verhältnissen zu arrangieren, wenn dadurch keine unmittelbare Gefahr für einen selbst droht. Wie tom leo schon schrieb: Die Selbstreflexionen des Ich-Erzählers Han Pyongtae durch die verschiedenen Stadien, die er in seinem Verhältnis zu Om Sokdae durchläuft, sind ausgesprochen präzise dargestellt, und weil der Ich-Erzähler schon als Kind instinktiv die Funktions- und Verhaltensweisen erfaßt, reagiert er auch differenzierter auf die „Revolution“.


    Meine HC-Ausgabe enthielt ein Nachwort, das eine Einordnung in den spezifisch koreanischen Kontext bietet. Dieses fand ich sowohl unter kulturellen als auch historischen Aspekten sinnvoll und gelungen. Ich würde auch empfehlen, es wirklich als Nachwort zu lesen, weil es sonst doch viel von der Geschichte vorwegnimmt. Yi Munyol hat mit diesem Büchlein bewiesen, daß es nicht immer umfangreiche Schwarten zur Diktaturforschung sein müssen, hier wird viel Wissenswertes ganz nebenbei vermittelt. Vielleicht sollte man es den Kultusministerien als Schullektüre empfehlen ...


    4ratten


    Schönen Gruß,
    Aldawen