Günter Grass - Die Box: Dunkelkammergeschichten

Es gibt 28 Antworten in diesem Thema, welches 6.711 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von sandhofer.


  • @ mombour,
    in der Tat, von der professionellen Kritikerzunft halte ich nichts - das ist für mich Schmarotzertum in Potenz...
    ...Sekundäres interessiert mich überhaupt recht wenig, ich mache mir lieber selbst ein Bild...


    Wie soll man aus 1000 Neuerscheinungen die für sich 5 interessantesten auswählen? Dazu braucht man doch Kritiker. Ich finde sie hilfreicher als dieses Forum hier. Nicht jeder Einzelkritik muss man zustimmen, aber es gibt ja zahlreiche Kritiken zu vielen der Neuerscheinungen.


    Gruß, Thomas

  • Ach. nach fast fünfzig Jahren als Leser (und sonstiger Teilhaber an dieser Branche) weiß ich, was mir zusagt; von den Zeitgenossen ist das herzlich wenig, eher die sog. "klassische Moderne" und älteres (da ich ja schon seit Jahren weiß, nicht all das lesen zu können, was ich noch gerne lesen möchte, muss man den "Mut zur Lücke" haben - und bei den meisten Zeitgenossen ist das eh kein Verlust).
    Sollte ich wirklich einmal einen mir ganz unbekannten Autoren in die Hand nehmen, genügt mir die "Probe des ersten Satzes"; wenn der nicht sofort packt, weiß ich, dass ich keine Lust habe weiterzulesen (das funktioniert wie bei der Begegnung mit Unbekannten, die ersten Sekunden entscheiden, ob einem jemand sympathisch ist oder nicht).
    Die Zunft der Kritiker war noch nie hilfreich, eher im Gegenteil.


  • , eher die sog. "klassische Moderne" und älteres


    Ich lese ja auch viel Klassisches. Daher bleiben dann nur fünf Titel für belletristische Neuerscheinungen über. Diese wolllen aber gut ausgewählt sein. Mir helfen hier Kritiker und auch der erste Satz. Da bin ich wie Du :breitgrins:


    Gruß, Thomas

  • Günter Grass: Die Box. Dunkelkammergeschichten.


    Die Box ist der zweite Teil der Autobiografie Grass', der die schriftstellerische Phase von Grass umfasst, nachdem sich der erste Teil "Beim Häuten der Zwiebel" vor allem mit seiner Jugend und den Kriegsjahren auseinandersetzt. Der zweite Teil liest sich jedoch nicht als Fortsetzung des ersten Teils, stilistisch bricht er mit der traditionellen Ich-Erzählung. Er lässt in diesem Buch seine Kinder auftreten, die über ihren Vater reden. Das ist natürlich ein merkwürdiges Verfahren, wenn der Autor seinen Kindern Worte in den Mund legt, wobei man als Leser genau weiß, dass es ja doch der Autor war, der diese Worte gewählt hat. Auch dem Autor ist dieser "Betrug" bewusst, er lässt am Ende eines der Kinder sagen, dass es ja gar nicht die eigenen Worte der Kinder seien.


    Die Kinder sitzen in mehreren Sitzungen zusammen am Tisch, essen etwas und plaudern dabei über das Leben ihres Vaters. Grass gelingt es dabei, eine echte gesprochene Sprache auf das Papier zu bringen. In einem Interview hat Grass mal erklärt, dass er beim Schreiben sich jeden seiner Sätze laut vorliest. Den typischen Grass-Ton hört man diesen Plaudereien an, das ist sehr gelungen. Zugleich ist es reichleich misslungen, denn ich als Leser höre immer nur die Stimme von Grass, egal welches Kind gerade spricht. Man weiß ohnehin nicht immer so genau, welches Kind gerade spricht, da er auf Anführungszeichen und ein erläuterndes "sagte x" weitgehend verzichtet.


    Ein wichtiger Bestandteil dieses Buches sind Plaudereien über Fotos, die mit der von Agfa produzierten Box, siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Agfa_Box, gemacht wurden. Für den Leser sind diese Gespräche wenig ergiebig, die Inhalte mögen den Grass'schen Familienkreis interessieren. Man darf gespannt sein, ob man als Leser diese Fotos je zu Gesicht bekommen wird. Bei den langatmigen Gesprächen bleibt man gelangweilt zurück, ich ziehe einzig die Erkenntnis daraus, dass Grass seinen Kindern wohl nie richtig zugehört hat, denn das sie alle wie Klone eines Günter Grass reden, ist reichlich unwahrscheinlich. Und so konnte er ihren Ton nicht treffen. Die professionelle Kritik hat das Buch fast ausschließlich negativ rezensiert, so beispielsweise im DLR Kultur: "So ist aus einem schönen erzählerischen Ansatz ein überflüssiges, geschwätziges, langweiliges Buch geworden." Ich stimme dem uneingeschränkt zu.


    Gelungen sind die Illustrationen in der Vorzugsausgabe, die fast ausschließlich die Fotografin mit ihrer Box zeigen. Die schönen Zeichnungen retten jedoch nicht den Inhalt.


    2ratten


    Gruß, Thomas

    Einmal editiert, zuletzt von Klassikfreund ()

  • Im Gegensatz zu meinem Vorredner, und im Gegensatz zu meinem letzten Grass (Beim Häuten der Zwiebel) habe ich dieses schmale Bändchen genossen und finde es sehr gelungen. Während Grass im Häuten der Zwiebel in typischer geschwätziger Altmänner-Manier von sich erzählt und sich und seine Erlebnisse viel zu wichtig nimmt, bricht er seine Autobiografie nun ironisch, indem der seine Kinder erzählen lässt, wild durcheinander, ohne erkennbare zeitliche Ordnung. Doch selbst diese ironische Brechung wird ihrerseits gebrochen, indem Grass sich als Regisseur im Hintergrund geriert, der sogar die Mikrofone richtet, die die Gespräche der Kinder aufzeichnet. Und selbst dieser Brechung wird eine weitere hinzugefügt, indem Grass seine Kinder sich darüber beklagen lässt, dass ihnen der Vater sie so sprechen lässt, wie sie nie gesprochen hätten.


    Grass' Beziehungen zu Frauen stehen - neben der Box und ihrer Besitzerin - im Zentrum des Büchleins. Es ist so eine kleine Liebeserklärung an die Liebe geworden - an die Liebe und an das Leben. Und an die Fotografie.


    Die Box ist zugleich ein Sinnbild der schöpferisch-dichterischen Phantasie, indem sie nicht nur zeigt, was ist (das kann jede Kamera), sondern auch wahrnimmt, was einmal gewesen ist und was einmal sein könnte. Oder auch, was man sich so wünschen wird.


    Auch sprachlich ist Grass hier auf der Höhe, und ich persönlich kann das Büchlein nur jedem empfehlen.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Hallo sandhofer,


    so weit können Meinungen auseinandergehen! Alles, was du der "Zwiebel" vorwirfst, sehe ich viel stärker in der "Box". Grass' Selbstverliebtheit ist nie größer als dort, wo es nur um das Private geht und die Kinder auch in der perspektivischen Brechung nur ein Lob ihres Vaters singen, selbst dessen Schwächen zu Liebenswürdigkeiten umstilisieren. Die "Zwiebel" finde ich viel selbstkritischer, historisch,sozial- und kulturgeschichtlich interessanter, die "Box" dagegen ist ein in meinen Augen nicht sonderlich kunstvoll verpacktes Privatissimo und Eigenlob, was ich sehr schade finde, da ich Grass' sonstige Werke fast durch die Bank sehr schätze.


    HG
    finsbury

  • die Kinder auch in der perspektivischen Brechung nur ein Lob ihres Vaters singen,


    Tun sie das? Ich sehe das nicht ganz so. Immerhin sind die beiden Ältesten, die Zwillinge, so ungefähr mein Jahrgang. Da beginnt man, so langsam, ein entspannteres Verhältnis zu seinen Vorfahren zu haben. Ich sehe weder "nur Lob" noch "nur Tadel", sondern ein mehr oder weniger zustimmendes Sich-Fügen in die Gegebenheiten. Mag sein, dass Grass seine Altersweisheit oder -resignation auf seine literarisch überformten Kinder übertragen hat. Dennoch halte ich dies Werklein für bedeutend besser als Beim Häuten der Zwiebel. Letzteres bringt dir jeder 80- oder 90-Jährige zustande, wenn du ihm nur ein Mikrofon hinhältst. (Auch hier eine ironische Brechung Grass', der - quasi bereuend und einsehend - das Mikrofon nun nicht sich selber sondern seinen Kindern hinhält.)

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)