Alice Munro - Das Bettlermädchen

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  • Hallo!


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    Klappentext:


    "Rose wächst mit ihrem Halbbruder Brian und ihrer Stiefmutter Flo in der kanadischen Provinz auf. Sie kennt die Armut und gehört in der Kleinstadt West-Hanratty nicht gerade zu den Arrivierten der Gesellschaft. Als sie die kleinbürgerliche Enge ihrer Familie nicht mehr ertragen kann, zieht sie in die Welt hinaus, fängt an zu studieren, stürzt sich in eine Ehe, beginnt Affären.
    Mit ihrem unvergleichlichen Gespür für die Wirrnisse des Alltags, für Hochgefühle und Hilflosigkeiten hat Alice Munro mit Das Bettlermädchen ein kleines Meisterwerk geschrieben. Sie war damit für den Man Booker Prize nominiert und erhielt 1978 den Governor General's Award."


    Teilnehmer:


    Annabas
    mombour
    Saltanah


    Viel Spaß, fairy

    [size=9px]&quot;I can believe anything, provided that it is quite incredible.&quot;<br />~&quot;The picture of Dorian Gray&quot;by Oscar Wilde~<br /><br />:leserin: <br />Henry Fielding - Tom Jones<br /><br />Tad Williams - The Dragonbone Chair<br /><br />Mark Twai

  • Hallo miteinander,
    ich freue mich riesig, dass die Leserunde zustande kommen konnte!.


    In meiner Ausgabe (Berliner Taschenbuch Verlag) sind im Anhang 14 Diskussionspunkte für Lesekreise aufgeführt. Da ich nicht weiß, welche Ausgaben euch vorliegen, poste ich die Diskussionspunkte hier. Die Seitenzahlen lasse ich dabei stehen.


    Ich kann nicht sagen, ob diese Punkte etwas taugen oder nicht, das stellen wir im Laufe der Zeit dann schon fest. Wenn sie uns nichts bringen, lassen wir sie eben weg.


    Viele Grüße von Annabas :winken:


    Diskussionspunkt 1:
    Welche Rolle spielt für Flo und Rose die Kunst des Geschichtenerzählens? Welchen Stellenwert hat Literatur, die Rose in der Schule kennen lernt, zu Hause in West-Hanratty?


    Diskussionspunkt 2:
    Welche Erfahrungen macht Rose als Mädchen mit Körperlichkeit und Sexualität? Gibt es eine geschlechterspezifische Differenz, die n den Geschichten etabliert wird?


    Diskussionspunkt 3:
    Welche Rollenzuweisungen innerhalb der Familie übernimmt Rose von ihrem Umfeld? Und wie gelingt es ihr, sich von dem als „selbstverständlich genommenen Hintergrund ihres Zuhauses“ (S. 110) zu emanzipieren?


    Diskussionspunkt 4:
    Judith Hermann schreibt: „Nicht selten entfaltet Alice Munro den Beginn einer Liebe als ihr Ende“. Trifft diese Aussage auch auf die Begegnung von Rose und Patrick zu?


    Diskussionspunkt 5:
    Auf Seite 124 sagt Patrick zu Rose: „Du bist wie das Bettlermädchen (...) Du weißt doch. Das Bild. Kennst du das Bild nicht?“ Damit bezieht er sich auf das Gemälde König Cophetua und das Bettlermädchen von Edward Burne-Jones. Was sagt Patricks Vergleich über seinen Blick auf Rose aus? Und über die Art, wie er seine Beziehung zu ihr definiert wissen will? Und wie reflektiert Rose Patricks Sicht, als sie sich das Gemälde in der Bibliothek ansieht (S. 126)?


    Diskussionspunkt 6:
    Warum lässt der Erzähler Rose Szenen, die sie mit Patrick erlebt, häufig aus der Perspektive eines unbeteiligten Beobachters rekapitulieren? Vgl. folgende Passage auf S. 128: „Sie hatte das Bild satt, das sie in diesem Augenblick boten, als sie durch einen verschneiten park in der Stadt gingen, ihre bloße Hand in die Patricks geschmiegt, beide in seiner Tasche.“ Oder auf Seite 152: „Dann überkam sie ein überwältigendes Bild von sich selbst. Sie lief leise in Patricks Kabine, sie warf die Arme von hinten um ihn, sie gab ihm alles zurück.“


    Diskussionspunkt 7:
    Inwiefern relativiert der Besuch bei Patricks Familie in Britisch Kolumbien Roses Sicht auf ihre eigene Familie? Aus welchem Grund löst Patricks Besuch in West-Hanratty bei ihr erstmals ein Gefühl der Verbundenheit mit ihrer Familie, mit dem Laden, der Stadt und der „wenig bemerkenswerten Landschaft“ (S. 143) aus?


    Diskussionspunkt 8:
    Alice Munro geht mit Verweisen, ein eine zeitliche Einordnung der Geschehnisse zulassen, sehr sparsam um. Wie stellt sie das Vergehen von Zeit dar? Wie greifen die verschiedenen dargestellten Zeitebenen etwa in der fünften Geschichte ineinander?


    Diskussionspunkt 9:
    Welche Funktion kommt dem Figurenpaar Jocelyn und Clifford zu? Welche Ideale verkörpert es?


    Diskussionspunkt 10:
    Essen ist ein zentrales Element in Das Bettlermädchen und charakterisiert häufig Roses Befindlichkeit, aber auch das Gefälle zwischen städtischer und ländlicher Umgebung. Welche Beispiele geben die Geschichten für diese These?


    Diskussionspunkt 11:
    Wie gelingt es Munro, Roses widersprüchliche Gefühlslagen darzustellen? Welche Rolle spielen das Zweifeln und Zaudern in Roses Leben? Welche Hoffnungen setzt Rose in die Begegnungen mit Tom oder Simon? Warum lässt sie ihre Lebensentwürfe immer wieder hinter sich und flüchtet sich an neue Orte und in neue Beschäftigungen?


    Diskussionspunkt 12:
    Auf welche Weise wird Flos veränderter Geisteszustand in der vorletzten Geschichte Buchstabieren eingeführt?


    Diskussionspunkt 13:
    Welche Bedeutung kommt der letzten Geschichte Was glaubst du, wer du bist? im Gefüge der zehn Geschichten zu? Was verbindet Rose mit Ralph Gillespie? Was meint der Satz „Es schien da Gefühle zu geben, von denen man nur in Übersetzung sprechen konnte; vielleicht konnte man auch nur in Übersetzung damit umgehen.“ (S. 327)?


    Diskussionspunkt 14:
    Könnte man Alice Munros Geschichten von Flo und Rose auch als Roman begreifen?

  • Hallo Annabas,


    Dieses hier ist das erste Buch, was ich von Munro lese. Auf so manche Diskussionspunkte werden wir sicher zu sprechen kommen. Meistens entwickeln sich spontane Überlegungen während der Lektüre. Das Abhaken von best. Diskussionspunkten kommt mir ein wenig schulmäßig vor. Doch, nachdem ich die ersten drei Geschichten gelesen habe, kann ich schon bekennen, ich lese den Roman als Episodenroman. Flo, Rose und der Laden kommen immer wieder vor, und so fühle ich mich in einem Roman.


    Aufgefallen ist mir, wie schlecht Väter wegkommen: Brutal, angeblich inszestiös usw. Die Geschichte um Becky Tyde macht betroffen. Schon ihre Äußerlichkeiten als Missgestalt: „Zwergin mit großem Kopf“. Sie hatte zwar Kinderlähmung, habe laut Flo „genauso viel Verstand wie die anderen“, aber Vorurteile und Bedenken mischen sich unters Volk, der Vater habe durch die Schläge Schuld an ihren Verwachsungen, sie wurde versteckt gehalten, weil sie angeblich vom Vater geschwängert wurde. Die Rache einiger Burschen aus dem Ort ist Selbstjustiz. Die Sache wurde nicht gebührend bestraft.


    Rose bekam auch eine „fürstliche Abreibung“. Viel Gewalt auf den paar Seiten. Rose scheint aber doch ein friedliches unschuldiges Mädchen zu sein. Geradezu unerfahren (auch sexuell). In der Schule äfft sie eine Kommilitonin nach (in „Unverletzbarkeit"). Als Mädchen in der Pubertät sucht sie Vorbilder und findet in Cora eines. Sie plappert Spottverse nach, ohne zu begreifen: „Bruder und Schwester/Geschwister einer Nummer.“ oder „Zu alt für die Wiege, zu jung fürs Bett“. Später prophezeit Flo Rose, Cora werde ein "fettes Monstrum" Nichts bestrebenswertes. Sie will Rose's Jugendidol desisullionieren. Es wird sogar angedeutet, Rose könne (evtl.?) lesbisch sein. Auf die Frage von Flo, ob sie verliebt sei, verneint Rose, weil sie damit Heirat usw. verband.


    "Ihre Gefühle waren in diesem Augenblick verletzt und preisgegeben, und obwohl sie es nicht wusste, begann sie schon zu welken."


    Durch Verletzung von Gefühlen wird immer etwas kaputgemacht. Alice Munro erzählt diese kleinen Dramen schnörkellos, d.h. lakonisch.


    Liebe Grüße
    mombour

    Einmal editiert, zuletzt von mombour ()

  • Hallo ihr Beiden :winken:



    Viel Gewalt auf den paar Seiten.


    Ich habe erst die erste Geschichte Royal Beatings gelesen, kann das aber voll unterschreiben. Gewalt in der einen oder anderen Form ist überall vorhanden, ob es sich "nur" um die Schläge, die Rose bekommt, handelt, oder um einen Totschlag.
    Bei der Beschreibung der Schläge durch den Vater fiel mir besonders die Ähnlichkeit mit einem Ritual auf. Alle übernehmen den ihnen zugedachten Part, verspüren eine Unausweichlichkeit und so könnte man meinen, dass es sich irgendwie doch um ein Spiel handelt. Allerdings eines, dass von allen Beteiligten ernst genommen wird. Der Vater braucht Zeit, sich richtig in seine Rolle als Bestrafer hineinversetzen zu können, aber schließlich sieht Rose an seinem Blick voller hatred and pleasure, dass er bereit ist. Da mischt sich ein sadistisches Vergnügen, dass er (meint Rose) verspürt, mit einer doch beachtlichen Zurückhaltung, so dass er sie trotz aller Schläge und Tritte doch nicht "wirklich" verletzt, nicht krankenhausreif schlägt.
    "Alles halb so wild" würde ich es nicht nennen wollen, aber so schlimm, wie die Beschreibung erst klingt, war es wohl auch nicht. Eher etwas, das zu einer (damals) normalen Vater-Kind-Beziehung "dazu gehört"; man tut eben, was man "muss".


    Auch für mich ist dieses Buch die erste Begegnung mit Munro. Ich muss gestehen, dass sie mir bisher noch nicht einmal dem Namen nach bekannt war :redface: . Mein erster Eindruck ist jedenfalls positiv. Sprachlich stimmt die Geschichte und ich verspüre auch eine Welt "hinter den Buchstaben"; eine Öffnung auf mehr, das es gilt, allmählich zu identifizieren, was mir hoffentlich mit euch zusammen im Laufe unserer Leserunde gelingen wird.


    Nur ein Problem habe ich mit dem Buch: Es will einfach nicht in meinen Kopf hinein, dass Flo die Stiefmutter und Rose das Kind ist. Für mich ist Rose ein "älterer" Name, während ich hinter Flo automatisch ein Kind vermute :vogelzeigen: , und so muss ich mir immer wieder klarmachen, dass es eigentlich umgekehrt ist.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Auch ein herzliches Hallo euch beiden :winken:,


    ich habe jetzt die ersten beiden Geschichten („Eine fürstliche Abreibung“ und „Unverletzbarkeit“) gelesen und bin überwiegend begeistert.


    Ich staune immer wieder, wie Munro es schafft, mit der Erwähnung von ein paar Nebensächlichkeiten einen Menschen zu charakterisieren. Zum Beispiel Roses Vater: er repariert Möbel, murmelt merkwürdige Worte vor sich – „Die wolkengekrönten Türme, die prachtvollen Paläste“ und nimmt immer zu wenig Geld für seine Arbeit. Schon habe ich mein Bild von Roses Vater vor mir.


    Munros Vergleiche haben mich oft im ersten Moment des Lesens stutzig gemacht, z. B. schreibt sie bei Becky Tyde: „Ihr Lachen war laut und lärmend wie eine Maschine, die auf einen losfährt.“ Zuerst fragte ich mich, was sie damit meinte, aber gleich danach fiel es mir ein – es gibt wirklich eine Art zu Lachen, die einen förmlich überrollt.


    Alle Ereignisse und Begebenheiten aus Roses Kindheit werden von Munro fast beiläufig erzählt und wirken dadurch umso schockierender, besonders bei Roses Erlebnisse in der Schule musste ich ab und zu beim Lesen innehalten. Ich denke da nur an die Episode von Shorty und Franny McGill – du liebe Zeit!


    Gefragt habe ich mich, warum die zweite Geschichte „Unverletzbarkeit“ heißt. Vielleicht weil man, wenn man das erlebt hat, wirklich ein Stück weit unverletzbar wird? Darüber muss ich noch nachdenken.


    @ mombour:
    Dass die Väter in Roses Kindheit schlecht wegkommen, ist mir auch aufgefallen. Aber ich denke, das spiegelt auch die Zeit und das Milieu wieder, man lebt ja nicht gerade in der besten Gesellschaft und Alkohol und Schläge waren da evtl. "normal". Vielleicht bediene ich da aber auch ein Vorurteil.
    Dass Rose sozusagen mit einer Tracht Prügel in die Geschichte eingeführt wird, hat mich überrascht, aber komischerweise kam mir diese Episode nicht gewalttätig vor. Vielleicht weil sich alle wie in einem Theaterstück aufführen - der Vater schlägt, weil er muss (Flo hat ihn geholt, damit er Rose bestraft), Rose schreit, weil sie es muss und Flo protestiert und hätschelt Rose später, weil es auch ihre Rolle als Mutter ist. Und zum Schluss vertragen sich alle wieder, weil sie es müssen.


    Viel schlimmer als diese Episode wirkt auf mich die Gewalt in Roses Schule und die Gleichgültigkeit oder Sensationsgier, mit der ihr begegnet wird.



    .. und ich verspüre auch eine Welt "hinter den Buchstaben"; eine Öffnung auf mehr, das es gilt, allmählich zu identifizieren, was mir hoffentlich mit euch zusammen im Laufe unserer Leserunde gelingen wird.

    Darauf freue ich mich auch.


    Viele Grüße von Annabas


  • „Die wolkengekrönten Türme, die prachtvollen Paläste“


    Ach ja - das wollte ich eigentlich noch erwähnen: ich habe nach der Phrase gegoogelt (auf englisch the cloud-clapped towers, the gorgeous palaces) und bin bei Shakespeares "Sturm" gelandet. Der Vater ist also nicht unbelesen.



    (4. Akt. Quelle)

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Hallo,


    ich lese gerade im zweiten Durchgang "Eine halbe Grapefruit" und habe mir Gedanken darüber gemacht, was die Überschrift wohl bedeuten mag. Vielleicht etwa so, wie halbe Portion?, also in dem Sinne, dass Rose von ihrer Umwelt nicht ganz für voll genommen wird. So will sie sich in der Schule gerne unter die Städter setzen. Es wird hier schon bemerkt, sie sitze ganz hinten in der Reihe. Wenn sie nach Hause geht, hört sie Rufe "Eine halbe Grapefruit", was wohl als Spott gemeint wird. Ihre Integration mit den Städtern gelingt ihr nicht.


    Und zu Hause: Flo, sie hat die Fuchtel in der Hand, es scheint, sie bestimme wie der Laden zu hause läuft, auch der vater duckt vor ihr. Rose ist nicht so angepasst, wie er, bzw. Flo, meint, wie eine Frau zu sein hat. Hier duckt der Vater vor Flo, denn erschätzt Rose, möchte aber vor Rose gut dastehen. Flo interessiert sich nicht für die Bücher, die Rose mit nach Hause bringt. Von BIldung wird im Hause Flo nichts gehalten (wir wissen aber, der Vater kennt Shakespeare). Ich frage mich, woher die Macht von Flo kommt. Auf jedenfall ist sie dominant. Und als Rose eine pikante Geschichte von drei Jungs und einem Mädchen erzählt, sagt Flo, es sei ihr (Rose`s) Ende, wenn sie jemals mit so einem Jungen was anfängt. Natürlich kocht Rose vor Wut und läuft rot an, aber sie duckmäusert hier auch. Eine Widerrede erfolgt nicht. Darum wird es später sicher noch interessant werden, wenn Rose sich mal verliebt oder heiratet. Aufgrund der starken Dominanz Flos, vermute ich, dass sie deswegen die Last gewisser Unerfahrenheit mit sich trägt.


    Liebe Grüße
    mombour

  • Hallo miteinander,


    jetzt habe ich die dritte Erzählung "Eine halbe Grapefruit" auch gelesen.


    Ähnlich wie mombour frage ich mich, was der Titel bzw. das spöttische Zitieren von Roses Bemerkung zu bedeuten hat. Ich vermute, ihre Mitschüler wissen ganz genau, dass sie geschwindelt hat bzw. angeben wollte und verspotten sie.
    Der Schuss ging da für Rose ganz nach hinten los, es wird ja erwähnt, dass sie so gerne zu den "gebildeten" Einwohnern gehören will. Flo wird da ganz anders zitiert: "Sieh zu, dass du nicht zu schlau wirst, es ist besser für dich." Roses Vater, der selbst über Bildung zu verfügen scheint (Shakespeare, Spinoza), hält Bildung für unweiblich. Da liegt noch eine Menge Konfliktstoff.


    Bisher lese ich die Erzählungen wie eine Sammlung von vielen unterschiedlichen Geschichten. Man erzählt sich von Ruby Carruthers, der Schwester des Bischofs und der Frau mit dem zweiten Gesicht. Und immer wieder wechseln die Zeitebenen, was ich übrigens sehr interessant finde. Eben noch lese ich über die junge Ruby Carruthers, einige Seiten später erfahre ich, dass sie an Krebs starb und was aus ihren Männern wurde. Dass "Horse" Nicholson in die Politik gegangen ist und Reden schwingt, dass man in der Schule mehr von Gott reden soll, ist schon sehr zynisch - aber vermutlich sehr nah an der Realität.


    Prosperos Zitat aus "Der Sturm" habe ich inzwischen auch nachgeschlagen, ich musste es nochmal auf deutsch lesen, um zu prüfen, ob ich es auch richtig verstanden habe. Es geht um die Vergänglichkeit. Ich frage mich, warum Roses Vater ausgerechnet dieses Zitat vor sich hin spricht. Ahnt er vielleicht, dass er nicht mehr lange zu leben hat mit seiner Lungenkrankheit? Ober bewerte ich es zu hoch? Ich denke jedenfalls, dass Munro es nicht zufällig ausgewählt hat.


    Im Moment habe ich beim Lesen immer wieder das Gefühl, dass Munro viel mehr sagt, als da steht. Sie beschreibt eine ganze Welt mit ein paar Geschichten.


    Bis morgen!
    Viele Grüße von Annabas

  • Privilege:
    Heißt diese zweite Geschichte auf Deutsch wirklich Unverletzbarkeit? Der englische Titel spielt meiner Meinung nach auf den Beginn der Geschichte nach, wo sich spätere Freunde von Rose wünschen, arm aufgewachsen zu sein. Rose hatte dieses "Privileg", und kann einiges darüber erzählen.
    Für ihre erste Verliebtheit (meiner Meinung nach ist sie da noch vor der Pubertät - immerhin ist sie einige Jahre hünger als Cora und auch die ist noch nicht in der High School) hätte sie sich durchaus ein schlechteres Objekt suchen können. Von Cora lernt sie immerhin, wie man sich die Jungen vom Leibe hält, was, wie man an Franny McGills Beispiel sieht, überlebenswichtig sein kann. Aber - und das fand ich an der Episode mit Franny eigentlich am erschütterndsten - ein Akt "performed on Franny had no general significance, no bearing on what could happen to anyone else". Gut, einer Gruppenvergewaltigung vor den Augen der gesamten Schule würde Rose wohl nicht ausgesetzt werden, aber die Gefahr anderer (sexueller) Gewalt verspürt sie durchaus - zu recht, meine ich. Von Cora lernt sie, sich nicht wie ein potentielles Opfer zu verhalten.
    Flos Verhalten - ihre herablassenden, oft verletzenden Bemerkungen über und zu Rose - sind auch schlimm. Sie stützt ihre Tochter (ich glaube nicht, dass es eine Bedeutung hat, dass Rose nicht ihr leibliches Kind ist) nicht, sondern hält sie klein. Andererseits hat sie oft genug auch recht, z. B. wenn sie sagt, dass Cora später fett werden wird. Das wird sie ja tatsächlich, nur geht es Flo hier ja hauptsächlich darum, das Liebesobjekt ihrer Tochter (und damit gleichzeitig deren Liebe) lächerlich zu machen.
    Aber Flo handelt auch auf Basis ihrer eigenen Erfahrungen, und die sind nicht immer so schön. Liebe führt ihrer Meinung/Erfahrung nach zu "enslavement, self-abasement, self-deception", was ja auch immer eine Möglichkeit ist. Ich denke, sie will Rose eben nicht nur verletzen (was sie durch ihre Bemerkungen tut), sondern sie auch vor Verletzungen (durch Liebe) bewahren.



    Half a Grapefruit:
    Auch in der High School sitzt Rose "zwischen den Stühlen". In der Grundschule hatte sie versucht, neutral zu sein, jetzt ist sie es unfreiwillig. Sie gehört weder zu den Städtern noch zu den Landkindern, wobei ihr sehr klar ist, was begehrenswerter ist.



    ich lese gerade im zweiten Durchgang "Eine halbe Grapefruit" und habe mir Gedanken darüber gemacht, was die Überschrift wohl bedeuten mag. Vielleicht etwa so, wie halbe Portion?, also in dem Sinne, dass Rose von ihrer Umwelt nicht ganz für voll genommen wird.


    Ach je, ich neige immer dazu, Sachen wörtlich zu nehmen. Ich kam überhaupt nicht auf die Idee, die halbe Grapefruit auch symbolisch zu lesen. Dazu passt es einfach zu gut: es ist etwas, das niemand anders genannt hat, "fein" genug, um städtisch zu sein, und eine ganze Grapefruit würde man nicht essen. Aber dass das im Zusammenhang so glaubwürdig ist, hindert ja nicht an der Möglichkeit, es auch symbolisch zu deuten.


    Flo kann ich nicht so negativ sehen wie du, Mombour. Ja, sie hat die Fuchtel in der Hand, aber wer sollte das auch sonst haben? Immerhin ist sie nicht nur "Hausfrau und Mutter", sondern versorgt die Familie auch finanziell. Dass der Vater mit seiner Reparaturwerkstatt nicht viel verdient, wird in der ersten Geschichte ja angedeutet, und später kann er krankheitsbedingt nicht mehr arbeiten, wird zu einer weiteren Belastung für Flo, die zu allem anderen auch noch Krankenbetreuerin werden muss.
    Sie kämpft weitgehend allein für das Überleben der Familie, und das ziemlich erfolgreich. Dafür hat sie meine Achtung und mein Mitgefühl. Was mich aber nicht daran hindert, ihre Schwächen zu sehen.
    Sie unterstützt Rose bei dem Versuch, eine bessere Schulbildung zu bekommen, nicht, aber hindert sie auch nicht aktiv daran. Indirekt, nämlich durch ihre Bemerkungen, tut sie es schon, hat aber zum Glück keinen Erfolg damit. Aber auch vom Vater bekommt Rose keine Unterstützung, und dessen Auffassung, wie eine "perfekte Frau" zu sein habe, nämlich wie Flo (energisch, praktisch, gut im Umgang mit Geld, aber ihrem Mann intellektuell auf jeden Fall unterlegen), ist auch nicht besser als Flos Warnung, nicht zu smart zu werden.



    Und als Rose eine pikante Geschichte von drei Jungs und einem Mädchen erzählt, sagt Flo, es sei ihr (Rose`s) Ende, wenn sie jemals mit so einem Jungen was anfängt.


    Womit sie ja auch nicht ganz unrecht hat. Wir befinden uns immerhin in der Vorpillenzeit und ich kann mir nicht vorstellen, dass die Jungen Kondome benützen. Eine Schwangerschaft würde auf jeden Fall das Ende von Flos Schulgang bedeuten, und eine eventuelle Ehe mit einem der Jungs sehe ich auch als wenig erstrebenswert. Unter den gegebenen Bedingungen halte ich Flos Warnungen vor Liebe und Sex für durchaus berechtigt.



    Mir gefallen die Geschichten bisher sehr gut. Besonders hat es mir die Art, wie die Ereignisse geschildert werden, angetan. Diese wenig emotionale, distanzierte Art erzeugt in mir eine leicht traurige, aber zugleich akzeptierende Stimmung von "so ist das Leben". Es gilt, es zu nehmen, wie es ist.
    Und obwohl wir ja nur kleine Ausschnitte aus Roses Leben erfahren, habe ich doch den Eindruck, sehr viel über sie zu wissen. Munro erzählt tatsächlich viel mehr als sie ausspricht.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Hallo miteinander,


    inzwischen habe ich auch die vierte Erzählung "Wilde Schwäne" gelesen und habe immer mehr den Eindruck, dass es sich doch um einen Roman handelt, der eben nur nicht chronologisch erzählt wird.


    Rose verlässt nun also das Elternhaus, um nach Toronto auf die Uni zu gehen. Und gleich warnt Flo sie vor Mädchenhändlern im Zug - hier kommt Flos Prüderie so richtig zum Vorschein. Rose lebt in zwei Welten - auf der einen Seite versucht Flo, ihr die Männer zu verleiden und auf der anderen Seite hat Rose ja in der Schule schon die s.e.x.uelle Freizügigkeit ihrer Mitschülerinnen kennengelernt.
    Roses Erlebnis mit dem Geistlichen im Zug der sie betatscht, wird seltsam distanziert beschrieben. Überhaupt schreibt Alice Munro völlig unbeteiligt, sie gibt dem Leser nicht vor, was gut und was schlecht ist. Manchmal fühle ich mich beim Lesen fast allein gelassen, weil ich alles selbst beurteilen und einordnen muss. Ist schon komisch, wie man gewohnt ist, in Büchern Dinge vorgekaut zu bekommen.


    Im nächsten Kapitel taucht Patrick auf - bin mal gespannt, was das gibt.


    Viele Grüße von Annabas

  • Gleich noch eine Bemerkung hinterher, nachdem ich Saltanahs Posting erst jetzt mitgekriegt habe:


    Der Titel "Privilege" (statt "Unverletzbarkeit") ist wirklich eindeutiger als die Übersetzung.



    Diese wenig emotionale, distanzierte Art erzeugt in mir eine leicht traurige, aber zugleich akzeptierende Stimmung von "so ist das Leben". Es gilt, es zu nehmen, wie es ist. Und obwohl wir ja nur kleine Ausschnitte aus Roses Leben erfahren, habe ich doch den Eindruck, sehr viel über sie zu wissen. Munro erzählt tatsächlich viel mehr als sie ausspricht.


    Genau das habe ich auch gemeint. Aber ich frage mich die ganze Zeit, was dieses "mehr" tatsächlich ist? Ich wünsche mir, ich könnte es in irgendeiner Form definieren.


    Grüße von Annabas

  • Womit sie ja auch nicht ganz unrecht hat. Wir befinden uns immerhin in der Vorpillenzeit und ich kann mir nicht vorstellen, dass die Jungen Kondome benützen. Eine Schwangerschaft würde auf jeden Fall das Ende von Flos Schulgang bedeuten, und eine eventuelle Ehe mit einem der Jungs sehe ich auch als wenig erstrebenswert. Unter den gegebenen Bedingungen halte ich Flos Warnungen vor Liebe und Sex für durchaus berechtigt.


    aus der Sicht der Erwachsenenwelt verhält sich Flo natürlich korrekt. Aber, und darauf kommt es mir doch an, auf Rose hat dieses verhalten eine ganz andere Wirkung. Sie ist wütend, wird rot, und unterdrückt ihre Wut. Wir Erwachsene wissen manchmal nicht, wie manche Worte auf Kinder oder auf Jugendliche in der Pubertät wirken. Gerade diese Bemerkung Flos über diese leichtfertigen Jungens wird Rose warscheinlich nie vergessen. Auch ich höre immer noch mahnende Worte meiner eigenen Eltern in den Ohren, obwohl es etwa 35 Jahre her ist. Das ist ja gerade das sogenannte "mehr", was also Alice Munro denkt aber nicht schreibt. Diese klitzekleinen Tragödien über die niemals gesprochen werden, spricht Munro in ihrer Erzählung an. Gerade dieses macht aus meinen Augen große Literatur aus. (vielleicht hat jeder Leser hier seine eigene Interpretation, weil jeder durch seine eigene Brille schaut :zwinker: ).


    Die Erzählung "Wilde Schwäne" gehört sicher zu den besten, weil hier einiges in der Schwebe gehalten wird. Rose denkt, der Pfarrer habe seine Hände auf ihren Beinen, zu Beginn wird aber gesagt, es sei die Zeitung. Für mich ist nicht ausgeschlossen, dass Rose erotisch fantasiert. Dieses in der Schwebe halten, man weiß nicht, ist es wirklich die Hand, oder die Zeitung, die sie berührt, finde ich geradezu erstklassig. Überdrehte erotische Fantasien kann sie ja haben, gerade sie, die sich in erotischen Dingen sehr Verhalten zeigt.


    Also, hierin sehe ich Spannungspotential, besonders im Erotischen und in dem sich anders fühlen, dass Gefühl haben, irgendwo außerhalb zu stehen (Beispiel: Stadt- Landkinder in der Schule). In der Ehe mit Patrick ist sie sich auch nicht klar in ihren Gefühlen. Sie ist sehr unsicher. Gerade darum geht es. Um ihre Gefühlswelt.


    Zu Beginn unserer Lektüre war ich noch sehr skeptisch, aber allmählich beginne ich vielleicht zu begreifen, dass in diesen Geschichten unheimlich viel drinsteckt.


    Liebe Grüße
    mombour

    Einmal editiert, zuletzt von mombour ()

  • Hallo miteinander,



    Rose denkt, der Pfarrer habe seine Hände auf ihren Beinen, zu Beginn wird aber gesagt, es sei die Zeitung. Für mich ist nicht ausgeschlossen, dass Rose erotisch fantasiert. Dieses in der Schwebe halten, man weiß nicht, ist es wirklich die Hand, oder die Zeitung, die sie berührt, finde ich geradezu erstklassig. Überdrehte erotische Fantasien kann sie ja haben, gerade sie, die sich in erotischen Dingen sehr Verhalten zeigt.


    Hm, ich habe es so gelesen, dass tatsächlich eine Hand auf ihrem Schenkel war. Aber es stimmt, man könnte es auch als Phantasie deuten.


    In der Erzählung "Das Bettlermädchen" lernt Rose Patrick kennen. Ich glaube nicht, dass sie ihn je wirklich geliebt hat und ich bin mir auch bei seinen Gefühlen nicht sicher. Ich denke eher, dass er ein Gefühl der Überlegenheit braucht, er lernt sie ja als "Jungfer in Not" kennen, was sein Ritterlichkeitsgefühl anspricht. Trotzdem tut er mir manchmal leid, Rose geht nicht gerade zimperlich mit ihm um. Ich frage mich, warum sie ihn doch noch heiratet, nachdem sie sich schon getrennt hatten. Patrick halte ich für einen etwas weltfremden Romantiker, der ein Aschenputtel sucht und es in Rose zu finden glaubt. Schade nur, dass sie mit dem "Ritter auf dem weißen Pferd" nicht viel anfangen kann, ich denke, dazu ist sie viel zu bodenständig.


    Die nächste Erzählung "Pech" hat mir bisher von allen am besten gefallen. Hier merkt man, wie sich Rose emanzipiert und von Patrick entfernt. Jocelyn und Clifford sind dafür eine Art Katalysator - mit Jocelyn kann Rose ihre Jugend nachholen, kichern und albern sein und mit Clifford erlebt sie ein zwar am Ende total missglücktes, aber doch sehr aufregendes Rendez-vous. Und beide führen sie in ihre Bohème-Gesellschaft ein, die sie wohl allein mit Patrick nie kennengelernt hätte.


    Roses Passivität ist mir aber jetzt sehr auffallend. Sie wird selten aktiv, eher passieren ihr Dinge, die ihrem Leben eine Richtung geben. Auch Jocelyn konnte sie zunächst ja nicht ansprechen, sie wartete, bis Jocely auf sie zukam. Genauso war es bei Patrick und auch bei Clifford. Ihr Leben scheint von anderen Menschen bestimmt zu werden, erst war es Flo, dann übernahm Patrick diese Rolle.


    Grüßle von Annabas :winken:

  • Diskussionspunkt 4:
    Judith Hermann schreibt: „Nicht selten entfaltet Alice Munro den Beginn einer Liebe als ihr Ende“. Trifft diese Aussage auch auf die Begegnung von Rose und Patrick zu?


    Ja durchaus, das zeigen Zitate wie z.B. diese:


    Zitat von "Munro"

    "Wir kommen aus zwei verschiedenen Welten"
    ......
    "Meine Leute sind arme Leute. Für dich wäre der Ort, wo ich wohne, ein Loch."


    Die Überraschung, die Patrick zeigte, als er erfuhr, dass Rose arm sei, war eine "spöttische Überraschung" (so heißt es). Seine Reaktion war mehr gespielt, als dass sie ernst gemeint sei.


    Zitat von "Munro"

    Patrrick und seine Schwestern benahmen sich, als ob nichts sie betroffen machen könnte.


    Patricks Zuwendung zu Rose scheint er eine Spielerei gewesen zu sein. Geliebt hat er sie wirklich nicht, da gebe ich Annabas natürlich recht. Er ist sehr reich und kann sich offenbar alles erlauben. Die vermeinte Liebe zwischen Rose und patrick verpufft ziemlich schnell, und Rose ist schon schnell gelangweilt von ihren Schäferstündchen. Hier scheint keine wirkliche Liebe zu sein. Rose flieht geradeso vor ihm, sie ist sehr schwankhaft. Sie meint, sie liebt ihn, dann kehrt sie wieder zu ihm zurück, ein hin und her, welches sie Jahrelang so durchzieht.


    Ein schönes Bild entwirft Munro auf seine 126 (des btv-Taschenbuchs):


    Zitat von "Munro"

    "Es war, als sei er in einer Menschenmenge auf sie zugekommen und habe einen großen einfachen, glänzenden Gegenstand getragen - ein riesiges Ei vielleicht, aus massivem Silber, etwas von zweifelhaftem Nutzen und ungeheurem Gewicht - und habe ihn ihr angeboten, ja ihn ihr geradezu zugeworfen, und sie gebeten, ihm etwas von seinem Gewicht abzunehmen. Wenn sie ihn zurückwarf, wie würde er ihn tragen können? Aber in dieser Erklärung fehlte etwas. Ihr eigener HUnger fehlte, der nicht Reichtum, sondern Verehrung suchte.


    Das ist es also. Nicht der materielle Reichtum ist es, der Menschen bindet, sondern der innere: Verehrung, Gefühle.


    Diskussionspunkt 5:
    Auf Seite 124 sagt Patrick zu Rose: „Du bist wie das Bettlermädchen (...) Du weißt doch. Das Bild. Kennst du das Bild nicht?“ Damit bezieht er sich auf das Gemälde König Cophetua und das Bettlermädchen von Edward Burne-Jones. Was sagt Patricks Vergleich über seinen Blick auf Rose aus? Und über die Art, wie er seine Beziehung zu ihr definiert wissen will? Und wie reflektiert Rose Patricks Sicht, als sie sich das Gemälde in der Bibliothek ansieht (S. 126)?


    Patrick ist wie der König auf dem Bild. Das Bettlermädchen mit "seinen scheuen Füßen", passt zu Rose.


    Ein bemerkenswertes Zitat auf Seite 127, in dem Rose ihre Dankbarkeit von Patricks Liebe bekennt. Sie habe sich immer gewünscht, jemand würde sie maßlos lieben, gleichzeitig aber ihre scheuen Füße,. Sie habe gedacht, niemand könne sie mögen, niemand könne sie haben wollen.


    Ihr passt das Sprichwort, nicht alles ist Gold was glänzt.


    Rose ist nur aus Verzweiflung bei Patrick gelandet. Sie hatte "Angst vor der Welt" (vgl. Seite 153), und wollte sich an jemandem klammern. Hierin liegt auch Rose's ständige Hin- und Hergerissenheit begründet. Sie hat festen Schuhe, die sie bodenständig durchs Leben tragen. Ihre Angst vor sich selbt macht sie flatterig....


    Liebe Grüße
    mombour

  • Patrick ist wie der König auf dem Bild. Das Bettlermädchen mit "seinen scheuen Füßen", passt zu Rose.


    Ein bemerkenswertes Zitat auf Seite 127, in dem Rose ihre Dankbarkeit von Patricks Liebe bekennt. Sie habe sich immer gewünscht, jemand würde sie maßlos lieben, gleichzeitig aber ihre scheuen Füße,. Sie habe gedacht, niemand könne sie mögen, niemand könne sie haben wollen.


    Ihr passt das Sprichwort, nicht alles ist Gold was glänzt.


    Je öfter ich das Bild anschaue, umso mehr fällt mir die verängstigte Haltung des Bettlermädchens auf. Sie wirkt total eingeschüchtert. Ist es das, was Rose tatsächlich fühlt? Sie ist keinesfalls geschmeichelt, dass ein reicher Mann sich in sie verliebt hat, sie kann es einfach nicht glauben. Dass ihr alle zu ihrem "guten Fang" gratulieren, verwirrt sie vermutlich noch mehr, denn dadurch traut sie ihren eigenen Gefühlen (die sie nicht zu Patrick ziehen) noch weniger. Rose ist hier wirklich in einem großen Dilemma, und sie hat leider nicht die Kraft oder den Mut, auf ihr Bauchgefühl zu hören. Wobei das in der Zeit wohl nicht möglich oder zuviel verlangt war.


    Ich habe ein weiteres Kapitel "Vorsehung" gelesen, aber mit dem kann ich nicht viel anfangen. Was soll ich darin über Rose und ihr Verhältnis zu Anna erfahren? Oder um was geht es dabei? :confused:


    Viele Grüße von Annabas

  • Wild Swans:
    Für mich steht fest, dass es sich bei dem Vorfall um keine Fantasie von Rose gehandelt hat. Beweisen kann ich das zwar nicht und sehe auch, dass man es durchaus anders lesen kann, zweifle persönlich aber nicht daran. Ich glaube nicht, dass Rose noch viele Jahre später immer wieder an diese Episode denken würde, wenn "nichts" geschehen wäre. Natürlich könnte auch eine Fantasie einen tiefen Eindruck hinterlassen, aber das scheint mir nicht so wahrscheinlich.
    Übrigens habe ich vor mindestens 20 Jahren in einem aus der Bibliothek ausgeliehenen Buch von Nadine Gordimer eine ganz ähnliche Szene gelesen, die in einem Flugzeug auf einem langen Nachtflug stattfindet und aus der Perspektive des Mannes geschildert wird. Ich werde mal in mich gehen und über den Titel des Buches nachdenken.


    Was haltet ihr eigentlich von dem Titel "Wilde Schwäne"? Ist das einfach nur ein Hinweis auf die im Frühjahr erwachende Natur (mit den nach Norden in ihre Brutgebiete ziehenden Schwänen) und Roses parallel dazu erwachende Sexualität?

    Wir sind irre, also lesen wir!


  • Was haltet ihr eigentlich von dem Titel "Wilde Schwäne"? Ist das einfach nur ein Hinweis auf die im Frühjahr erwachende Natur (mit den nach Norden in ihre Brutgebiete ziehenden Schwänen) und Roses parallel dazu erwachende S.e.x.ualität?


    Ich habe den Titel auf die Erzählung des Geistlichen bezogen, in der er wilde Schwäne beobachtet.
    Ich weiß nicht, ob es mehr bedeuten soll?


    Grüßle von Annabas

  • Hallo,


    Der Schwan ist Träger unterschiedlicher Symbolik. In unserem Falle passt es ganz gut, wenn wir an Zeus denken, der sich einigen Damen als Schwan zeigte. So schwängerte Zeus Leda in der Gestalt eines Schwans.


    Je öfter ich das Bild anschaue, umso mehr fällt mir die verängstigte Haltung des Bettlermädchens auf. Sie wirkt total eingeschüchtert. Ist es das, was Rose tatsächlich fühlt?


    Ich habe ein weiteres Kapitel "Vorsehung" gelesen, aber mit dem kann ich nicht viel anfangen. Was soll ich darin über Rose und ihr Verhältnis zu Anna erfahren? Oder um was geht es dabei? :confused:


    "Verängstigte Haltung" und "eingeschüchtert". Ja, ich finde, du kommst Rose's Befindlichkeiten sehr nahe.


    Auch in der Geschichte "Vorsehung" erleben wir wieder Rose's totale Verunsicherung. Wie ich schon früher sagte, bin ich davon überzeugt, dass sich Rose mit ihrer Lebensangst herumschlagen muss. Auch an Tom will sie sich nur heranhängen, auch Anna wird von Rose nur gebraucht, damit sie einen Sinn in ihrem Leben sieht. Das geht ganz deutlich aus der Geschichte hervor.


    Zitat von "Munro"

    Ohne diese Verbindung zu einem Mann hätte sie sich selbst als unsichere und klägliche Gestalt gesehen.....
    .....
    Konnte es nicht so sein..., dass sie Anna dazu brauchte, sich selbst eine gewisse Festigkeit zu geben und sich nicht den Problemen des Alltags zu stellen...?



    Ich glaube nicht, dass Rose noch viele Jahre später immer wieder an diese Episode denken würde, wenn "nichts" geschehen wäre.


    Das glaube ich auch nicht. Ich bezog mich aber nicht auf "Wilde Schwäne" (falls du mich meinst), sondern auf eine andere Begebenheit, als Flo sagte, es wäre ihr Ende, wenn sie mit solchen Jungens etwas anfangen tät :winken:


    Liebe Grüße
    mombour

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  • Hallo miteinander,


    „Simons Glück“:
    Hier hätte ich Rose doch mal packen und durchschütteln wollen. Wie kommt sie nur dazu, diese unsägliche Geschichte von der Katze im Wäschetrockner auf einer Party zu erzählen? Will sie sich so sehr anbiedern? Manchmal ist sie in meinen Augen schon eine unglaublich dumme Pute. Aber sie merkt es wenigstens danach recht schnell.
    Im Gespräch mit Simon sagt sie „Es ist eben nicht sehr viel mit mir los.“ Sie kennt sich selbst und daraus rührt in meinen Augen auch ihre fast verzweifelte Suche nach Bestätigung, siehe ihr Verhalten auf der Party. Ich denke, hier hat Flo viel beigetragen mit ihren „Erziehungsmaßnahmen“.


    „Buchstabieren“:
    Mein Gott, ist das ein deprimierendes Kapitel. Flo ist dement und muss in ein Pflegeheim. Die Geschichten, die erzählt werden (z. B. die der Frau, deren Haare durch den Strohhut wachsen), kommen mir immer mehr vor wie „Die Spinne in der Yuccapalme“, sie werden als wahr erzählt, sind aber reine Erfindung.
    Die drei „Klassen“ des Altenheimes werden von Alice Munro wieder völlig unbeteiligt dargestellt, umso mehr schüttelte es mich beim Lesen.
    Zum Beispiel:
    [quote author=Munro]„Leiber wurden gefüttert und abgewischt, aufgenommen und in Stühlen festgebunden, wieder losgemacht und ins Bett gelegt. Durch die Aufnahme von Sauerstoff und die Abgabe von Kohlendioxyd nahmen sie weiter am Leben teil.“[/quote]
    Leiber – nicht Menschen.
    Oder:
    [quote author=Munro]„Diese Schwester zeigte das Zahnfleisch, wenn sie lächelte, und sie lächelte ständig; sie hatte den Ausdruck einer fast irrwitzigen Heiterkeit.“[/quote]


    Das Kapitel ist schrecklich, aber absolut genial! Das ist BeobachtungsKUNST!


    Viele Grüße von Annabas

  • Ausgelesen!


    Das letzte Kapitel "Was glaubst du, wer du bist?":
    Hier kommen wir wieder zurück nach West-Hanratty und seinen etwas skurrilen Bewohnern.
    In diesem Kapitel habe ich aber zum ersten Mal wirklich das Gefühl, Rose näher zu kommen, und zwar bei ihrem Zusammentreffen mit ihrem Schulfreund Ralph Gillespie. Alice Munro beschreibt Roses Gefühle auf eine ganz wunderbare Art:
    [quote author=Munro]"Worüber sie sich beim Spielen schämte, war der Umstand, dass sie vielleicht auf die falschen Dinge geachtet hatte, während es immer noch etwas mehr gab, einen Ton, eine Tiefe, ein Licht, das sie nicht erreichen konnte und nicht erreichen würde. (...) Alles, was sie je getan hatte, konnte einmal als Fehler angesehen werden." [/quote]
    Das ist ein Abschnitt, den ich mehrmals lesen musste, weil mir die Worte und auch die Bedeutung so sehr gefielen.


    Vielleicht ist dieses letzte Kapitel wirklich als eine Art Quintessenz zu verstehen, es kommt Rose auf den Grund. Manches, was ich in den vorherigen Kapiteln gelesen habe, glaube ich nun anders zu verstehen. Aber das muss sich erst einmal in mir setzen, das kann ich jetzt noch nicht so richtig in Worte fassen, wie ich es gerne tun würde, ich muss darüber noch nachdenken. Das Buch wird mich sicher noch eine ganze Weile beschäftigen.


    Und um mich mal selbst zu zitieren:


    Die Geschichten, die erzählt werden (z. B. die der Frau, deren Haare durch den Strohhut wachsen), kommen mir immer mehr vor wie "Die Spinne in der Yuccapalme", sie werden als wahr erzählt, sind aber reine Erfindung.

    Natürlich sind sie Erfindungen, jetzt fällt bei mir der Groschen. Diese Geschichten sind der Zeitvertreib in West-Hanratty, sie unterhalten den ganzen Ort und werden mit Genuss weitererzählt. Ob sie wahr sind oder nicht, darauf kommt es dabei nicht an. "Se non è vero, è bene trovato." (Giordano Bruno) - Wenn es nicht wahr ist, so ist es doch gut erfunden!


    [quote author=Munro]"Rose erzählte das niemandem, froh, dass es wenigstens eine Sache gab, die sie nicht durch Erzählen verderben würde ...." [/quote]


    Jetzt muss ich dieses Buch erstmal "sacken lassen". Eine Rezi kann ich noch nicht gleich schreiben, das dauert noch.
    Aber schon vorab: Das ist ein tolles Buch!


    Viele Grüße von Annabas

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