Thomas Pynchon - Gegen den Tag

Es gibt 46 Antworten in diesem Thema, welches 12.989 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Klassikfreund.

  • @ tinius:


    Wieso denn bei "Vineland"? Das fand ich eigentlich überaus zugänglich und auch in der Botschaft recht klar.

  • Um das jetzt detailliert zu erinnern, ist die Lektüre zu lang her. Aber ich gebe Dir zu, daß "Vineland" schon durchaus zu den verträglicheren Texten von Pynchon zählt. ;) Mag also auch durchaus sein, daß ich immer noch weitere Bedeutungsebenen voraussetzte. "Gegen den Tag" wird im übrigen ja auch immer wieder als sein zugänglichstes Werk beschrieben, allerdings das Auftauchen eines englischsprachigen Wikis läßt mich anderes befürchten..... LG tinius

  • Bis jetzt ist, glaube ich, immer sein jeweils neustes Buch als das zugänglichste beschrieben worden. Das war schon bei "Vineland" und "Mason & Dixon" so...

  • Am Freitag, 27. 06. 08, ist es passiert: Mein Mann hat mir das Buch (ohne Anlaß) gekauft! :herz: Ich selber hätte es angesichts des Preises wohl nicht über mich gebracht.


    Jetzt harrt es auf meinem SUB einer Leserunde entgegen. Vielleicht finden sich für nächstes Jahr ein paar Interessenten.


    Dies hofft


    mit lieben Grüßen, Sue.

  • Ich warne aber dringend davor, von der Leseprobe auf das ganze Buch zu schließen. Denn wie Nikolaus Stingl, einer der beiden Übersetzer, in einem Interview auf der Rowohlt-Seite sagt, imitiert Pynchon in seinem Buch verschiedene Genres. Und im ersten Teil, aus dem die Leseprobe stammt, imitiert er wohl einen Abenteuerroman à la Jules Verne... :zwinker:


    Ha! Das passt genau! Obwohl mich bei näherem Nachdenken darüber der Gedanke beschleicht, dass man bei Verne noch schneller hineingesogen wurde, aber das lässt sich jetzt wohl nicht wirklich feststellen. Auf jeden Fall dürfte schon klar sein, dass man nach 10 Seiten nicht auf weitere 1590 schließen kann.


    Auf jeden Fall hab ich recht großes Interesse an dem Buch und wahrscheinlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis ich es mir holen werd - aber bei dem Gedanken an die 30 Euro kommt mir immer der Gedanke, dass man dafür auch 3 Taschenbücher kriegt und man Gegen den Tag dann wohl auch auf nächsten Monat verschieben könnte. :breitgrins:


  • Auf jeden Fall hab ich recht großes Interesse an dem Buch und wahrscheinlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis ich es mir holen werd - aber bei dem Gedanken an die 30 Euro kommt mir immer der Gedanke, dass man dafür auch 3 Taschenbücher kriegt und man Gegen den Tag dann wohl auch auf nächsten Monat verschieben könnte. :breitgrins:


    Taschenbücher ... Abgesehen vom Inhalt, das Buch an sich ist grandios aufgemacht und ein Genuss, von der Typografie angefangen bis zum Papier. An Lesezeit dürfte es auch mehr als drei übliche Taschenbücher verschlingen, die 1600 Seiten sind sehr "voll". Hineingesogen wird man allerdings nicht, zumindest mir geht es nicht so - der Genuss an dem Buch hat andere Ursachen, die aber schwer zu bestimmen und individuell verschieden sein dürften.


    Jules Verne und Steampunk stehen am Anfang sicherlich Pate, neben Jules Verne könnte auch Final Fantasy VI eine Inspiration gewesen sein - dann gibt es immer wieder Abschnitte, die hinreißend sind, wie der Kugelblitz, der Familienanschluss findet. Dann einzelne Sätze und Formulierungen, die selbst wie Kugelblitze im Hirn ihr Unwesen treiben und das Lesen unterbrechen. Dabei wirkt das Buch auf mich wie ein Theater aus Blechfiguren, die durch eine seltsame Mechanik angetrieben werden - man versucht, diese vertrackten Mechanismen zu verstehen.


    Um es kurz zu machen: Es ist eines der faszinierendsten Bücher, das ich je in der Hand hatte, und im wahrsten Sinne unbezahlbar. Vielleicht ändert sich mein Eindruck noch, im Moment fürchte ich, dass ich "Gegen den Tag" in Echtzeit lesen werde. Also wie Pynchon neun Jahre für sein Buch brauchen könnte.


    Liebe Grüße,
    Marcel

  • Thomas Pynchon: Gegen den Tag. Rowohlt Verlag, 1595 Seiten.


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    Thomas Pynchon ist ein Freak. Seit 1963 schottet sich der heute 71-Jährige von der Öffentlichkeit ab, es kursieren nur wenige mehr als 40 Jahre alte Fotos. Dafür hatte er vor kurzem Gastauftritte in drei Folgen der "Simpsons": Er sprach sich selbst, doch seine Figur hatte eine Tüte mit einem Fragezeichen über den Kopf gestülpt. Und er schreibt weiterhin sehr dicke und sehr seltsame Bücher. Pynchons sechster Roman bricht mit 1 596 Seiten zwar den eigenen Längenrekord, ist aber gleichzeitig sein bisher zugänglichstes Werk. "Gegen den Tag" beginnt an Bord eines Luftschiffs, das Kurs auf die Weltausstellung 1893 in Chicago nimmt, und endet wenige Tage nach dem Ersten Weltkrieg. Im Mittelpunkt stehen der Bergarbeiter, Anarchist und Bombenleger Webb Traverse und seine drei Söhne. Ganz Postmodernist, flankiert Pynchon seine Handlung mit historischen Personen, führt mehr als 100 Charaktere ein und lässt viele Handlungsstränge ins Nichts laufen. Der Plot pendelt zwischen albern und ernst, streift alle Genres von wissenschaftlicher Abhandlung über Spionagethriller bis hin zu Science-Fiction und lässt auf derbste Zoten hochliterarische Passagen folgen. Damit legt Pynchon das bisher beste Buch auf Dünndruckpapier vor, für das man schon mal seinen Sommerurlaub opfern kann. Gegen Verständnisschwierigkeiten haben seine Hardcorefans übrigens im Internet ein englisches Lexikon erstellt, in dem jede einzelne Seite bsprochen wird. (kulturnews).


    Meine Meinung
    Der beliebte Literaturkritiker Denis Scheck nennt dieses Buch “Ein Meisterwerk, wie es ein Literaturkritiker auf dieser Erde wohl nur einmal in seinem Leben vorstellen darf.” Das sind große Worte, wie man sie auch in anderen Rezensionen findet. Lediglich "Literaturen" äußert sich zurückhaltender. Ich komme am Ende meiner Rezension darauf zurück.


    Ich habe das Buch im Rahmen einer Leserunde gelesen, von den 11 angemeldeten Teilnehmern haben am Ende nur zwei das Überschreiten der Ziellinie vermeldet. Das sagt eine Menge über den sehr hohen Anspruch des Romans. Dieser Roman ist tatsächlich äußerst komplex, auf jeder Seite finden sich reale Ereignisse und Personen, die nur den wenigsten bekannt sein dürften. Da Pynchon kein Sachbuch schreibt, verzichtet er (bzw. seine sprechenden Figuren) auf jegliche Erläuterungen. Daher ist das amerikanische Glossar zu jeder Seite http://against-the-day.pynchon…index.php?title=Main_Page neben dem Wikipedia Lexikon äußerst hilfreich für ein tieferes Verständnis. Auch sein großer Fremdwortschatz macht das Buch nicht gerade einfach zu lesen. Aber nicht nur auf der inhaltlichen Ebene ist das Buch schwierig, Pynchon verzichtet zudem auf jegliche Spannung. Spannungsarme Romane bin ich durchaus gewohnt, beispielsweise von Stifters Witiko. Dort entsteht dennoch durch seine Sprache und die geschilderte Atmosphäre ein faszinierendes Werk. Pynchon geht ähnlich vor, aber seine sehr zahlreichen Dialoge bleiben zumindet mir in großen Teilen verschlossen, so dass mich der Roman nur stellenweise faszinieren konnte.


    Pynchon wagt sich mehrere Male an eines der schwierigsten Themen in der Literatur heran, der Beschreibung von Sexualität. Er streut immer wieder unterschiedliche sexuelle Praktiken, die wenig mit Liebe zu tun haben, in seinen Roman ein. Auf Seite 1300 gibt es eine etwa 2 Seiten lange Szene, sonst ist er deutlich knapper. Er findet einen Ton, der nicht ins Geschmacklose und Vulgäre abgleitet, bleibt aber auch nicht bei jugendfreien Beschreibungen stehen. Es passt stimmig in die sonstige Handlung. In solchen Szenen (auch bei Landschafts- und Stimmungsbeschreibungen findet er großartige Bilder) zeigt sich die Könnerschaft des Autors.


    Pynchon gräbt interessante Ereignisse aus. Die Beschäftigung mit diesen Ereignissen, in dem man sie hinterher im Internet recherchiert, strahlt dann wieder positiv auf den Roman zurück. Wer kennt schon das Wort "Bilokation", welches sogar eine Kapitelüberschrift darstellt. Es handelt sich hier um eine (angebliche) Fähigkeit eines Menschen, gleichzeitig an zwei Orten zu sein und wird manchen Heiligen zugesprochen. Es entsteht erst im Nachhinein eine ganz neue Art von Leseglück. Wer kennt schon alle Details des Tunguska-Ereignisse oder des Eisenbahnunglücks im Frankfurter Hauptbahnhof. Auch der Fall "Louis Le Prince", der die ersten Filmaufnahmen der Geschichte durchführte, wird nebenbei erwähnt. Seine entwickelte Kamera wollte er in New York vorstellen, kurz zuvor ist er jedoch bei einer Reise nach Paris spurlos verschwunden. Bis heute ist sein Schicksal ungeklärt. Die Verquickung von Wirklichkeit und Fiktion gelingt ihm auf perfekte Weise. Und über guten Kartoffelsalat (!) wird auch noch parliert. Seine Welt ist übervoll.


    Überhaupt gibt es im amerikanischen Original viele deutsche Worte, die in der deutschen Übersetzung natürlich verloren gehen. Deutschland ist ein wichtiger Handlungsort. Der mit mathematischen Theorien durchsetzte Roman greift viele Forschungsergebnisse Göttinger Mathematiker auf. Die Bedeutung der mathematischen Aussagen für die Handlung bleibt mir jedoch verschlossen, auch wenn ich den ein oder anderen mathematischen Satz durchaus nachvollziehen kann.


    Pynchon lässt sich durch folgende Axiome charakterisieren:
    1. Lass den Leser sich mit keiner Figur identifizieren.
    2. Verzichte auf eine spannende Handlung.
    3. Schreibe nie über Eheprobleme und andere innere Konflikte.
    4. Keine inneren Monologe.
    5. Der Erzähler deutet nicht die Welt.
    6. Verzichte auf einfache Metaphern.
    7. Verzichte auf Erklärungen, der Autor schreibt kein Sachbuch.
    8. Der Erzähler tritt nicht in Erscheinung.
    9. Verunsichere den Leser durch Schaffung eigener Naturgesetze.
    10. Irreales und Reales verschmelzen zu einer Einheit.


    Mir liegen stark dialoglastige Romane ohnehin nicht so sehr, sie fallen mir insgesamt viel schwerer als lange philosophische Ausführungen bei Proust oder Thomas Mann. Mir fehlt eine etwas klarere Handlung, in der man nicht nur rätseln muss, was die Protagonisten dort wieder reden und für unsinnige Dinge tun.


    Das ist sicherlich ein Buch, welches man als Leser so noch nie gelesen hat. Daher verstehe ich Scheck durchaus. Man möchte die Erfahrung nicht missen, auch wenn die "Geburt" über weite Strecken ziemlich schmerzhaft war. Mit gutem Gewissen empfehlen kann ich das Buch aber nicht.


    Zusammenfassend möchte ich sagen: Jeder einzelne Baum ist fantastisch beschrieben, den Wald sieht man jedoch nicht. Vielleicht ist das sogar eine realistische Beschreibung unserer heutigen Geistesverfassung in der Welt, aber zumindest ich will mir das noch nicht eingestehen.


    3ratten


    Gruß, Thomas

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