Jens Lossau - Die Schlafwandler

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    Jens Lossau - Die Schlafwandler


    Worum geht's?
    Lina und Ferdinand sind ein verliebtes junges Paar mit einer etwas seltsam anmutenden Liebe für ihre 3 Plüschraben Hugin, Munin und Nevermore. Als ihnen beim abendlichen Herumalbern und Skizzieren die Idee kommt, einen Comic zu zeichnen, setzen sie Dinge in Bewegung, von denen sie nichts ahnen. „Rabenwelt“ wird zu einem Erfolg, der jedoch die Meinungen spaltet – schließlich thematisiert er anhand von Raben im KZ eines der dunklen Kapitel der deutschen Vergangenheit.
    Obwohl Lina es nicht wusste, hat Ferdinand viele Details aus der Vergangenheit seiner Familie in den Comic integriert und damit schlafende Dämonen geweckt. Seine Mutter überlebte als Kind das KZ, nur um sich Jahre später in den Selbstmord zu flüchten. Bei seiner Suche nach Antworten stößt Ferdinand auf ungeheuerliche Verbrechen, die damals von einigen Tätern und Opfern des KZ gemeinsam begangen wurden – und einige der Verbrecher leben heute noch. In ihren Bemühungen, die Vergangenheit bedeckt zu halten, schrecken sie auch vor neuen Verbrechen nicht zurück.


    Meine Eindrücke:
    Mit diesem Roman hat Jens Lossau ein sehr aufwühlendes Buch geschrieben, das mich auch lange nach dem Lesen noch beschäftigt. Zu Beginn sind Lina und Ferdinand ein Paar wie (fast) jedes andere auch und man freut sich mit ihnen über ihr privates und geschäftliches Glück. Doch die anfänglich relativ gute Stimmung wird sehr schnell von dunklen Vorahnungen und seltsamen Geschehnissen getrübt, die ein schlimmes Ende voraussagen.
    Zu der fast durchgängig gedrückten Atmosphäre trägt auch der Aufbau des Buches bei: Lina schreibt in einem düsteren Keller ihre Erinnerungen an die Geschehnisse auf, die sie in der Gegenwart in ebendiesen Keller geführt haben. Dadurch bleibt dem Leser auch bei einigen witzigen Stellen das Lachen im Hals stecken, wenn er sich vor Augen führt, wo dies alles enden wird.
    Während Ferdinand mir durchweg immer etwas fernblieb, konnte ich mich sehr gut in Lina hineinversetzen und ihre Gefühle nachvollziehen. Vermutlich liegt dies hauptsächlich daran, dass der Roman aus Linas Sicht geschrieben wurde und der Leser genau wie sie selbst auch erst nach und nach die Geheimnisse aufdeckt, die Ferdinand und seine Familie umgeben.
    Je tiefer Lina im Schlamm wühlt, der die Vergangenheit bedeckt, desto schmutzigere Tatsachen werden ans Licht befördert. Die Zweifel an allem und jedem werden sukzessive immer stärker, bis man selbst – genau wie Lina im Roman auch – nicht mehr weiß, wem man trauen kann und wem nicht. Der Höhepunkt dieses allgemeinen Misstrauens wird in der Danksagung des Autors erreicht, in der er mit einem einzigen Satz den Leser dazu bringt, nicht mehr sicher zwischen Fiktion und Realität unterscheiden zu können.
    Besonders beeindruckt hat mich zudem das ständige Aufgreifen des Buchtitels. Selten passte er so markant zum Inhalt des Romans, den er ziert, wie in diesem Fall. Wer genau sich jedoch hinter den Schlafwandlern verbirgt, ist – wie so vieles in dieser Lektüre – nicht eindeutig zu sagen.


    Jens Lossau hat mit „Die Schlafwandler“ auf zweifache Art ein lesenswertes Buch geschrieben. Zum Einen greift er die lange verschwiegenen Lagerbordelle wieder auf und informiert den Leser über Geschehnisse, die nicht Gegenstand des Geschichtsunterrichts waren, aber dennoch nicht dem Vergessen anheim fallen sollten. Zum Anderen bietet er einen spannenden Thriller, in dem nichts so ist, wie es zu sein scheint und am Ende der Leser selbst entscheiden muss, was er glaubt.
    Für mich ist dieser Roman mein bisheriges Lesehighlight 2008. Ich vergebe 5ratten und das Prädikat :tipp: .

  • Lina kennt Ferdinand schon aus der Schulzeit, später verlieben sie sich ineinander und ziehen zusammen. Ferner ziehen Ferdinands Plüschraben Hugin, Munin und Nevermore in Linas Leben ein, sie sind auch Grundlage ihrer Idee, ein Comic über die Konzentrationslager Hitlerdeutschlands zu zeichnen. Anstelle von Menschen agieren Raben, was dem Ganzen aber keineswegs den Schrecken nimmt, sondern - wie bei Fabeln üblich - den Focus noch stärker auf die eigentliche Aussage der Autoren lenkt.
    Mit dem Erfolg des Comics entstehen unerwartete Probleme für Lina. Die Dämonen aus Ferdinands Vergangenheit werden geweckt, das junge Paar wird bedroht, der für die Zukunft zuständige Rabe verbrennt. Doch der Schrecken findet kein Ende, sondern beginnt grade erst...
    Einen Roman wie diesen habe ich noch nie gelesen. Ich habe alle wichtigen Aktivitäten des Tages vernachlässigt, auf den Nachtschlaf verzichtet, das Buch sogar auf der Toilette und im Gehen bei der Hunderunde weitergelesen. Innerhalb von weniger als einem Tag war ich fertig mit dem Buch - aber nur mit Lesen. Denn das Buch ist noch lange nicht fertig mit mir. Immer befand ich mich in höchster Anspannung - hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, weiterzulesen und zu erfahren, wie es ausgeht und dem Wunsch, das Buch zuzuschlagen, weil ich schnell merkte, dass jeder Schrecken - kaum mit Mühe verdaut - von einem neuerlichen, größeren Schrecken abgelöst wurde.
    Das Schlimmste jedoch ist, dass ich am Ende nicht einmal in der Lage war und bin, Fiktion und historische Wahrheit auseinander zu halten.


    Das ist das brillanteste Buch, das ich in den letzten Jahren gelesen habe. Der Autor ist ein Ausnahmetalent :anbet:, das Buch ein echter :tipp:


    Ich kann mich Myriel wirklich nur anschließen. Wir ahben das Buch als Leserunde gelesen und das war auch gut so. Einiges im Inhalt hat mir so zugesetzt, dass ich froh war, mit jemandem drüber sprechen/schreiben zu können.

  • Hallo :smile:


    Kann mich den Lobeshymnen nicht wirklich anschließen. Ich fand das Buch zwar auch bis zu einem gewissen Grad gut, also recht spannend, natürlich auch verstörend (bei dem Thema) und nicht schlecht geschrieben. Aber ich konnte mich leider null in die Personen reinfühlen, keine Verbindung zu ihnen aufnehmen :sauer: Ich finde außerdem das Thema hätte wesentlich mehr hergegeben und warum Ferdinand so wurde (mehr will ich nicht sagen da ja Menschen hier sicher dass Buch noch lesen wollen) bleibt mir jetzt auch etwas schleierhaft, da fehlt mir was (an Aufklärung), ist einfach zu wenig gekommen für mich ...


    Und das Ende fand ich leider total misslungen, konnte damit nicht wirklich was anfangen. Ich fühlte mich "hängen gelassen" ...


    Ganz schlecht will ich es jetzt nicht bewerten aber da ich schon sauer bin so viel Geld ausgegeben zu haben, gibts nur


    2ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:

  • Kaum ein Roman der letzten Zeit hat mich so verfolgt wie "Die Schlafwandler" - auch jetzt noch Wochen nach der Lektüre lässt mich der Roman nicht los. Das ging sogar soweit, das eines der Themen des Romans Eingang in mein Referat über Frauen im Nationalsozialismus, für den Geschichtsunterricht fand. Ich konnte mich davon einfach nicht lösen und habe mir zum Thema "Zwangsprositution in Konzentrationslagern" Literatur besorgt. Aber eigentlich war etwas Anderes der Hauptgrund für meine innerliche Verbundenheit mit diesem Roman:
    Fasziniert hat mich zum Einen die Liebesbeziehung der beiden Hauptfiguren, ist das noch Liebe oder schon Abhängigkeit?, fragte man sich nicht nur einmal. Die düstere, melancholische Grundstimmung zog mich magisch an, das passiert im Grunde immer wenn ein Roman in eine eher traurige, fast schon depressive Richtung geht: psychologisch gesehen würde ich sagen (natürlich extrem Laienhaft) nichts für schwache Nerven, vor allem die Stimmung ist oft ziemlich bedrückend. - Ich war allein davon schon begeistert und habe auch genau deshalb weiter gelesen.


    Nach und nach haben es nicht nur die Figuren - vor allem Friedrich hat es mir sehr angetan - geschafft mich zu überzeugen, auch die Handlung zog mich immer mehr in den Roman hinein. Es war keine Spannung im herkömmlichen Sinne, aber ich konnte irgendwann einfach nicht mehr aufhören zu lesen, selbst als ich es eigentlich nicht mehr ertragen konnte...


    Aber auch die Beschäftigung mit Schuld, Schuld die im Dritten Reich auf sich geladen wurde, hat mich sehr angesprochen. Dieses Thema lässt mich schon das Ganze Jahr nicht mehr los. Ein Grund weshalb ich mich auch hier wieder damit auseinandergesetzt hatte. "Schweigen macht frei" ein Satz der im Roman eine Zentrale Rolle spielt und der mich seither bei allen möglichen Gelegenheiten durch den Kopf schießt.


    Im Grunde hat der Roman nicht nur meine Geistige Seite angesprochen sondern vor allem auch meine emotionale Seite, es gab Stellen an denen ich nahe am Weinen war. Kein Roman hat mich in letzter Zeit so zum Nachdenken gebracht und das Thema lässt mich, wie schon erwähnt, seither nicht mehr los.
    Gerade die Verbindung der verschiedenen Ideen in der Handlung hat mich angesprochen. Irgendwie
    war ich sehr froh das Buch in einer Leserunde gelesen zu haben. So war ich mit meinen Gedanken nicht so allein. Auch jetzt würde ich am liebsten mit 10 Leuten etc. weiter disskutieren^^ Ich hab den Roman sogar meinem Geschichtslehrer empfohlen *gg*


    Für mich persönlich einer der wichtigsten Romane die ich in diesem Jahr gelesen habe und vor allem mit einer der Besten!


    5ratten

  • Ich bin ganz gefangen in der Geschichte. Gestern abend musste ich noch bis zur ersten Rabenwelt lesen, und danach musste ich das Buch erst einmal zur Seite legen. Das ist keine leichte Kost...


    Aber warum, warum, warum zum Henker finde ich in der Beschreibung auf Amazon einen so derben Spoiler??? Das macht mich so wütend, verdammt!! :grmpf:
    Dabei habe ich mir schon aus mehreren gegebenen Anlässen geschworen, nie wieder vor Beenden eines Buches in Rezensionen oder Klappentexten zu schmökern, aber nein, ich bin mal wieder selbst Schuld. Argh!

    "Verzicht bedeutet für Frauen die kurze Pause zwischen zwei Wünschen."

    ~ Mario Adorf

  • Die Schlafwandler ist wieder so ein Buch, nach dem ich Zeit verstreichen lassen musste, bevor ich eine Rezension schreibe. Es wirkt alles noch immer nach; die Stimmungen, die Atmosphäre, der subtile Horror durch die seltsamen Vorkommnisse nach der Veröffentlichung des "Rabenwelt"-Comics.


    Als ich von dem Buch erfuhr, wurde ich direkt neugierig, aber ich hatte mir den Roman erst Anfang des Jahres gegönnt. Ich wusste nicht genau, worauf ich mich einlasse, ich war nur von den einzelnen Meinungen angetan und dachte, "Dass musst du auch lesen!"
    Und als ich anfing, konnte ich so gut wie nicht mehr aufhören. Zuerst fiel mir die Gestaltung der Charaktere positiv auf - Onkel Flossie und Lina, zwei Einzelgänger, die einander gut verstehen und sehr mögen. Linas Eltern sind krass dargestellt. So krass, dass es schon grotesk wirkt. Sie sind gefühlskalte Roboter, die ich sofort hassen gelernt habe. Ferdinand ist ebenfalls ein Einzelgänger, der sehr verschlossen und zurückhaltend ist.


    Lossaus Schreibstil war der zweite Aspekt, der mich fast atemlos weiterlesen ließ. Eine derartige Wortwahl habe ich bisher noch nicht genießen dürfen. Seine Sätze sind so konstruiert und mit den passenden Wörtern geschmückt, dass die Gefühle und Stimmungen sehr greifbar werden.


    Zuletzt interessierte mich das Thema des Romans. Obwohl es genügend Literatur gibt, die sich um das Naziregime und die Zeit danach dreht, klingt es hier nicht abgedroschen oder zum x-ten Male durchgekaut. Im Gegenteil, hier habe ich sogar etwas neues aus der Vergangenheit erfahren, von dem ich bisher noch nichts gehört hatte. Die Grausamkeiten der KZ-Zeiten werden hier zwar nicht in den Vordergrund gestellt, aber unter den Tisch fallen sie ganz und gar nicht.


    Durch ihren Comic haben Lina und Ferdinand etwas losgetreten, was ein paar Personen mehr als sauer aufstößt, und so geraten sie in einen Strudel voller Angst, Panik und Terror, den Lossau wahnsinnig gut beschreibt. Wenn ich abends beim Kaminfeuer las, konnte mich nichts mehr aus der Alzeyer Welt hervorholen. Ich war gebannt bis zum letzten, und mein Herz klopfte vor Spannung und Erwartung dessen, was hinter der nächsten Ecke - bzw. dem nächsten Kapitel - lauerte. Ich hätte am liebsten noch beim Essen weitergelesen, aber das verstößt gegen meine Prinzipien. :zwinker:


    Einzig das Ende ist mir irgendwie eine Prise zu amerikanisch. Ich kann es nicht genau beschreiben, aber der "Showdown" war mir etwas zu actionlastig.
    Doch es reicht nicht für den winzigsten Punktabzug, das Buch hallt in mir noch lange nach. Es ist eines der ganz, ganz wenigen, welches ich direkt noch einmal lesen könnte. Das Abtauchen war stets eine warme Wonne, trotz des ernsten und bedrückenden Themas, das Auftauchen geschah immer widerwillig und nie ganz.


    5ratten & :tipp:



    P.S.: Holden, ich glaube, Du meinst Ferdinand. In dem Buch kommt kein Friedrich vor. :zwinker:

    "Verzicht bedeutet für Frauen die kurze Pause zwischen zwei Wünschen."

    ~ Mario Adorf