Jenny Erpenbeck - Heimsuchung

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    Über den Autor:


    Jenny Erpenbeck wurde 1967 in eine Berliner Schriftstellerdynastie geboren. Ihre Großmutter Hedda Zinna schrieb Romane, ihr Großvater Fritz Erpenbeck war Krimiautor und gründete die Zeitschrift `Theater der Zeit`. Ihr Vater John Erpenbeck ist ein bekannter Physiker, Philosoph, Psychologe und Romanautor, und ihre Mutter Doris Kilias arbeitet als Übersetzerin. Nach einer Buchbinderlehre und Tätigkeiten als Requisiteuse und Ankleiderin an der Staatsoper Berlin studierte Jenny Erpenbeck in Berlin Theaterwissenschaften und Musiktheaterregie, u.a. bei Peter Konwitschny, Ruth Berghaus, Werner Herzog und Heiner Müller. Seit 1991 arbeitete sie zunächst als Regieassistentin und inszenierte danach Aufführungen für Oper und Musiktheater in Berlin und Graz. Sie lebt als freie Autorin und Regisseurin in Berlin.


    Weitere Informationen:
    Jenny Erpenbeck - Eintrag in der Wikipedia
    Jenny Erpenbeck - Eintrag bei perlentaucher.de
    Jenny Erpenbeck - Eintrag im Literaturport Berlin / Brandenburg



    Klappentext:


    Ein Stück Land und ein Haus an einem märkischen See: Zwölf Lebensgeschichten, durch den Ort miteinander verwoben und aneinander gespiegelt. Alle zusammen bilden eine Art kollektives literarisches Gedächtnis des letzten Jahrhunderts.


    "Jenny Erpenbeck hat einen Roman von enormer
    poetischer Kraft geschrieben. Sie erzählt von den kleinen
    Geschichten eines unscheinbares Ortes und spiegelt
    darin - ergreifend und faßbar - die große Geschichte."

    (Neue Zürcher Zeitung)



    Eigene Meinung:


    "Wo der neue Mensch anfangen soll, kann er nur aus dem alten wachsen."


    Ein Haus, errichtet in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, ist der Schauplatz von Erpenbecks Jahrhundert-Gemälde. Wir verfolgen und erleben die wenigen Besitzer dieses Hauses, lesen von Freude, von kindlichen Wünschen, von natürlicher Schönheit, aber auch von Trauer, Verfolgung, Tod. Der Gärtner, stumm und ohne viel Charakter, ist die einzige Konstante in dem Roman und im Leben des Hauses; er pflegt und bewässert das Stück Land, den Garten, kümmert sich um Arbeiten am und im Haus, je nach den Wünschen des Besitzers. Er besitzt keine Meinung, keine Gefühle, seine Gedanken und Ansichten werden nur bzw. mit Hilfe der Pflanzen und Tiere beschrieben; er wird geradezu charakterlos, blutleer, wie ein Gegenstand der zum Haus dazu gehört, egal zu welcher Zeit. Das Haus ist seine Heimat. Wie auch das der anderen elf Personen, Familien, Lebewesen. Unwichtig, ob sie sich auf der Durchreise, als Besetzer, als Inhaber, als kurzzeitige Nutzer betrachten, die Geschichte des Hauses ist immer mit ihnen verwoben, egal ob durch Geheimnisse, die erste gemeinsame Liebesnacht, eine geführte Ehe oder aber als Ort von Tod, Trauer, Besetzung und Angst.


    Das Haus ist gemütlich und schön, schrecklich und hässlich zugleich. Es ist Heimat, bzw. dient als Ort der "Heimsuchung", als Station auf vielen Lebenswegen, wo sie auch enden mögen. Egal, ob diese in der Gaskammer in Auschwitz enden oder aber im Altersheim. Egal, ob es als Selbstmord endet oder aber in dem Verlust einer geliebten Freundin. Dieses seltsame Haus mit den farbigen Fensterläden aus Milchglas im ersten Stock, mit dem Geheimversteck im hinteren Teil des Schranks, mit dem Bootshaus und den dazugehörigen linoleumgrünen Handtüchern bleibt immer der Rahmen der Handlung, wenn auch nicht immer präsent. Wie ein stiller Beobachter verfolgt man die Geschichten der Familie. Die des Architekten, der das Grundstück seiner Nachbarn kauft, die dieses finanzielle Hilfe benötigen, um auszuwandern. Die der kleinen Doris, ein Kind, gerade noch versteckt in einer Wohnung, die schließlich als "Untermensch" erschossen wird. Die der Zurückgekehrten, die schweigt, wenn Unrecht geschieht, aus Depression und Angst noch einmal Verachtung und Schmerz erfahren zu müssen.


    Trotz fast durchgängiger Namenslosigkeit der Figuren sind diese fassbar, ja geradezu offen und persönlich zu entdecken für den Leser. Man hat das Gefühl bei ihnen zu sein in den schwierigsten Stunden, in den schönsten Stunden genauso wie in den bedrückensten Stunden. Dieses Haus und somit auch der Roman entwickeln eine Sogwirkung, der man sich nur schwer entziehen kann. Dabei bleibt der Roman nicht bei einer Abfolge der Geschichten. Erpenbeck verwebt, dröselt auf, verbindet, überschichtet und stapelt sogar über- und nebeneinander die Geschichten der Figuren; somit erscheint dieser doch episodenhaft wirkende Roman als ein Porträt, ein Puzzle, welches nicht nur eine Abbildung der Verhältnisse, sondern auch der Perspektiven ist. Der Rotarmist, stationiert in Berlin, noch jung, unerfahren, gerade erst aufgestiegen, der die hilflos wirkende, etwas verrückte Hausbesitzerin in den Kriegszeiten des Jahres 1945 vergewaltigt; und daneben eben diese Frau, die nie wieder von diesem Erlebnis loskommen wird - beide sprechen über das Geschehen, dröseln es auf, werten ab und fühlen sich beide als Schuldige und Unschuldige einer Generation und der zeitlichen Umstände.


    Jenny Erpenbeck bleibt dabei in Sprache immer dicht am Geschehen, beinahe tiefenpsychologisch analysiert sie die Figuren, spielt mit ihnen, lässt sie sprechen und das mit einer poetischen Kraft, mit einem epischen Fluss, der einen nicht loslässt. Nicht nur mit den Figuren, auch mit der Sprach spielt sie. Mehrmals werden Sprach- und Stilebenen gewechselt - Szenenähnliche Elemente des Theaters eingeführt, Regieanweisungen wie in einem Drama eingearbeitet, genauso wie Gesprächsfetzen und Briefsegmente.


    Kritisierbar wäre, dass die Haltung der Autorin zu ihren Figuren sehr unterkühlt ist, schließlich verschwinden diese meist nach kurzer Zeit wieder, ohne Rücksicht auf deren "Leben" werden sie entsorgt, so sie denn ihre Rolle erfüllt haben. Doch wenn man bedenkt, dass dies die Geschichte eines Hauses, verwoben mit den Familien, nicht unbedingt immer um die Familien, sich handelt, wirkt diese "Versuchsanordnung" künstlerisch sehr stark, sehr lebendig und vor allem auch authentisch. Scheitern tut Erpenbeck nur, wenn sich um die Beschreibung intimster Momente handelt - die Vergewaltigung der Hausbesitzerin im Zweiten Weltkrieg wirkt geradezu plump, abstoßend, geradezu sprachlich ordinär. Die Liebe an sich scheint ihr nur Mittel zum Zweck, selten geht sie auf das Gefühl der Personen in diesen Momenten ein. Sie beschreibt sehr emotional das Innenleben der Figuren, wagt sich dabei aber nicht an Szenen heran, die auch für den Leser unangenehm sein können - vielleicht ist es eine starke Distanz, die sie mit der sprachlichen Veränderung in diesen Szenen erreichen möchte, allerdings wirkt das zu kalt, mit zu viel Distanz, mit zu viel Härte. Im entscheidenden Augenblick fühlen diese Figuren meistens nichts, bleiben Konstrukte in der Handlung, weniger handelnde Charaktere.


    Und doch bleibt von diesem Roman sehr viel Positives: Erpenbecks Sprache erweist sich als poetisch stark, kraftvoll und einfach wunderschön zu lesen. Sie weiß es, Geschichten miteinander zu verweben, Geschichten überhaupt zu erzählen und ihren Figuren einen Hintergrund zu geben, der den Leser dazu bringt mit ihm zu leben, zu lachen, zu weinen, zu trauern. Die meiste Zeit sind diese Figuren Begleiter, keine reinen Konstrukte der menschlichen Phantasie trotz ihrer Flüchtigkeit innerhalb der Handlung. Filigran arbeitet die Autorin Zeitebenen mit ein, ohne auf zeitliche Zusammenhänge direkt hinzuweisen. Es liest sich nicht wie ein Abfolge historischer Daten und der damit verbundenen Figuren, sondern wie eine Figur bzw. ein Lebewesen in dem Umfeld, zeitlich und lokal, agiert, wie es reagiert und denkt. Mittelpunkt dabei bleibt das Haus an einem märkischen See in Mecklemburg-Vorpommern.
    Ein sehr angenehm zu lesender, stilistisch sehr starker Roman.



    Bewertung:


    4ratten

    Einmal editiert, zuletzt von Desdemona ()

  • Da hast Du Dir aber eine Menge Arbeit gemacht. Vielen Dank dafür! :daumen:
    Ich habe schon einiges Gutes über das Buch gelesen, und in einem Interview neulich ist Jenny Erpenbeck sehr sympathisch rübergekommen. Nun werde ich mir das Buch wohl zulegen müssen... :zwinker: :smile:


    Für das Haus im Buch soll sie sich an dem Haus orientiert haben, in dem sie aufgewachsen ist. In einem Interview der Zeitschrift "Bücher" vor ein paar Monaten gab's eine Fotostrecke, die sie in und vor diesem Haus zeigte. Leider kann oder will sie wohl nie wieder dahin zurückkehren, denn noch zu DDR-Zeiten wurden ihre Eltern (?) enteignet und mussten das Haus verlassen, und eine Rückgabe von den jetzigen Besitzern will sie nicht erzwingen.

  • Für das Haus im Buch soll sie sich an dem Haus orientiert haben, in dem sie aufgewachsen ist. In einem Interview der Zeitschrift "Bücher" vor ein paar Monaten gab's eine Fotostrecke, die sie in und vor diesem Haus zeigte. Leider kann oder will sie wohl nie wieder dahin zurückkehren, denn noch zu DDR-Zeiten wurden ihre Eltern (?) enteignet und mussten das Haus verlassen, und eine Rückgabe von den jetzigen Besitzern will sie nicht erzwingen.


    Dazu habe ich das folgende Interview gefunden, angeregt durch eine Amazon-Rezension, die von einem Haus gesprochen hat, welches 1936 gebaut und nach dem 2.Weltkrieg von ihren Großeltern Hedda Zinner und Fritz Erpenbeck übernommen wurde. Auf die Enteignung, wie du es genannt hast, geht sie im Interview so ein:


    Zitat

    In welcher Weise sind Sie denn persönlich ‚heimgesucht’ worden?


    Erpenbeck: Ich gebe zu, dass es ein solches Haus in Wirklichkeit gegeben hat. Dass wir es in Wirklichkeit durch die Restitution an den Alteigentümer verloren haben und dass ich heimgesucht worden bin, insofern, als ich über Monate, oder sogar Jahre hinweg von dem Haus geträumt habe. Ich habe es nur schwer ausgehalten, dass dieses Haus über die ganze Zeit der Entscheidungsfindung des Amtes leer stand. Es war sehr schmerzlich zu sehen, in welchem Zustand es war, und dass ein Ort, auf den Menschen früher so viel Mühe verwendet haben, und in dem viel Leben stattgefunden hat, plötzlich so verlassen ist.


    Dieses Szenario der Leere, die Menschen bzw. Figurenkonstrukte zu füllen versuchen, hat sie mit diesem Werk auch literarisch verewigt.

  • Zitat

    ... durch die Restitution an den Alteigentümer verloren ...


    Ah, dann habe ich das falsch in Erinnerung behalten. Ich habe noch mal nachgelesen in dem "Bücher"-Interview. Es war genau umgekehrt. Der Architekt, der das Haus gebaut hat, musste 1952 die DDR verlassen, woraufhin Jenny Erpenbecks Großeltern das Haus pachteten. Nach dem Zusammenbruch der DDR forderten die Erben des Architekten im Jahr 1991 das Haus zurück. Im Jahr 2002 fiel die Entscheidung zu ihren Gunsten, und sie erhielten es zurück.


    Insofern ist auch nachvollziehbar, was Jenny Erpenbeck über diese elf Jahre bis zur Rückgabeentscheidung sagt (hast Du ja schon zitiert):


    Zitat

    Ich habe es nur schwer ausgehalten, dass dieses Haus über die ganze Zeit der Entscheidungsfindung des Amtes leer stand. Es war sehr schmerzlich zu sehen, in welchem Zustand es war, und dass ein Ort, auf den Menschen früher so viel Mühe verwendet haben, und in dem viel Leben stattgefunden hat, plötzlich so verlassen ist.