J. M. G. Le Clézio - Onitsha

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  • Jean-Marie Gustave Le Clézio:"Onitsha"


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    Geoffroy Allen lebt am Nigerstrom, „etwas oberhalb des Stroms, ein wenig stromaufwärts von der Stadt Onitsha, wie im Herzen einer großen Kreuzung von Wasserwegen.“ Wenn erzählt wird, Geoffroy arbeite für eine britische Handelsfirma, die diverse Waren aus England importiert, heißt es im selben Atemzug gleich weiter:

    Zitat von "Le Clézio"


    Raubtiere gab es nicht, außer in den Prahlereien der Offiziere, und der Urwald war seit langem verschwunden, war Yamswurzelnfeldern und Ölpalmen-Plantagen gewichen.


    Geoffrey arbeitet für die United Afrika Company, die ab 1886 unter dem Schutz des British Empire als Royal Niger Company im Land das sagen hatte, sogar Grenzen absteckte, um sich von den deutschen und französischen Kolonien abzugrenzen. Offenbar, wie aus dem o.g. Zitat hervorgeht, ist Urwald abgeholzt worden, Städte ausgebaut. Für diese Gesellschaft arbeitet also Geoffroy, und als Maou und der zwölfjährige Fintan im Jahre 1948 in Port Harcourt ankommen, haben sie eine vierwöchige Schiffsreise hinter sich, von der Girondemündung in Frankreich bis zum Nigerdelta. Maou voll Zuversicht, freut sich schon über ihr Leben in Afrika: weite Grasebenen, in denen man sich verliert, der breite Strom, so breit, dass man ihn für ein Meer halten könnte, Mangobäume, rote Lehmhäuser, ihr Haus auf einem Hügel von Bäumen umgeben, und Fintan wird erstmals seinen Vater sehen.


    Doch die Reise in die Heimat führt keineswegs ins Idyll. Maou betritt afrikanischen Boden, und es dauert nicht lange, da macht sie sich bei Kolonialbeamten unbeliebt. In Onitsha trifft sie auf „eine Gesellschaft von langweiligen, pedantischen Beamten“...die in ihrem Klub Bridge spielen, währenddessen angekette Sklaven für die englischen Herrschaften eine Grube für ein Swimmingpool ausheben. Als sie sich über diese Menschenunwürde beklagt, dauert es nicht lange, und Geoffrey wird des Landes verwiesen.


    Aber noch träumt Geoffrey davon, das Land zu finden, in das die „Schwarze Königin Meroe" einst mit ihrem Volk hingezogen ist, als die Stadt Meroë im Jahre 350 nach Chr. vom König Ezana aus Aksum geplündert wurde. Das Reich der Meroë hat es wirklich gegeben und wird von Herodot erwähnt (Historien II,29) und ersteckte sich von der großen Nilkrümmung in Nubien (Südsudan) bis zu den abessinischen Bergen (Äthiopien). Im Zuge des Recherchierens bin ich auf zwei Bücher gestoßen: 1) Oliver Rolin: „Meroe“, Roman, Berlin 2002 und 2) Fischer, Rudolf: „Die schwarzen Pharaonen, 1000 Jahre Geschichte u. Kunst d. Ersten innerafrikan. Hochkultur“, Bergisch Gladbach, 1986 ( u.a. Meroë ).


    Mir hat es sehr gefallen, wie Le Clézio Geoffreys Träume literarisch anpackt. Er träumt nämlich wirklich von „der letzten Vertreterin des Osiris, der letzten Nachfahrin der Pharaonen.“ Und dann verfolgt ihn die Geschichte bis ins reale Leben. Auch in den Abenteuern zwischen Fintan und seinen Freund Bony mischt sich afrikanische Mythologie pur hinein. Gerade dieses ist es, was mich erbarmungslos begeistert hat, und an dieser Stelle auch ein großes Lob an die Prosa. Der Roman ist von Beginn bis zur letzten Seite berstenvoll mit herrlichem Lokalkolorit, in diesem Maße ich das erstmals bei Le Clézio erlebt habe.


    Wer Le Clézios „Afrikaner“ gelesen hat, erkennt den biografischen Bezug des Romans. Der Autor kam im Alter von acht Jahren nach Afrika und lernte dort seinen Vater kennen.


    5ratten
    Liebe Grüße
    mombour

  • Hallo,


    ist das aus Deiner Sicht jetzt einfach ein sehr gutes Buch, also ein 5-Sterne-Buch wie man sie im Jahr mehrfach liest, oder ist es ein Jahrhundertbuch, was allein den Nobelpreis rechtfertigen würde?


    Gruß, Thomas

  • Hallo klassikfreund,


    es ist ein fünf-Sterne-Buch, wie man solche manchmal zu Gesicht bekommt, aber kein Jahrhundertbuch. Ein Jahrhundertbuch wäre z.B. Orhan Pamuk: "Das schwarze Buch".


    Liebe Grüße
    mombour

    Einmal editiert, zuletzt von mombour ()


  • Hallo,


    ist das aus Deiner Sicht jetzt einfach ein sehr gutes Buch, also ein 5-Sterne-Buch wie man sie im Jahr mehrfach liest, oder ist es ein Jahrhundertbuch, was allein den Nobelpreis rechtfertigen würde?


    Jetzt kam schon eine Meldung "Achtung: In diesem Thema wurde seit 120 Tagen nichts mehr geschrieben." und doch, jetzt, wo ich deinen Beitrag noch einmal lese lese, muss ich doch stutzen. Auch wenn Elias Canetti und Theodor Mommsen den Nobelpreis bekommen haben, von denen kann man behaupten, sie haben u.a. Jahrhundertwerke geschrieben, haben z.B. François Mauriac und Romain Rolland den Literaturnobelpreis bekommen, von denen mit Sicherheit niemand behaupten würde, sie hätten Jahrhundertbücher verfasst. Jahrhundertbücher wie "Ulysses", "Der Proceß" und "Lolita" sind leer ausgegangen.


    Vielleicht kann ich in Kürze, wenn ich Le Clézios Goldsucher rezensiere, mal darauf schauen, ob die Begründung der Auszeichnung mit dem Roman "Der Goldsucher" zu vereinbaren ist.


    Liebe Grüße
    mombour

  • Maria Luisa – Maou - und ihr Sohn Fintan treten 1948 die Reise aus Frankreich nach Nigeria an, um zu ihrem Mann Geoffroy zu gelangen. Dieser arbeitet für eine britische Kolonialhandelsgesellschaft in Onitsha, wo er sich seiner Faszination für die Kultur von Meroe hingibt. Die Überfahrt der beiden ist noch geprägt von Neugier und Vorfreude, seitens Fintan aber auch von Angst vor dem unbekannten Vater. Schon kurz nach der Ankunft in Onitsha ist Maou unglücklich: ihre Tage sind eintönig und langweilig, sie leidet unter Krankheiten, hat Angst und findet keinen Anschluss in der Kolonialgesellschaft. Fintan hingegen genießt seine neu gewonnene Freiheit gemeinsam mit seinem neuen Freund Boney. Seine anfängliche Angst vor Geoffroy wird zu Hass, jedoch nähern sich die beiden über die gemeinsame Faszination für die Meroe einander an. Verschiedene Ereignisse kehren diese Situation um und gegen Ende fasert die Geschichte aus, wird immer weniger greifbar.


    Onitsha basiert auf autobiografischen Ereignissen, wodurch manche Schilderungen sehr eindringlich gelingen. Man merkt dem Geschriebenen an, dass es sich nicht nur um Erdachtes, sondern um tatsächlich Gefühltes handelt. In weiten Teilen habe ich jedoch unbeteiligt gelesen, die Ausführungen waren mir schlichtweg zu langatmig und auch zu verworren. Im Verlauf der Geschichte nehmen negative Gefühle überhand – die Abneigung der Kolonisten vor den Einheimischen und auch die Ausgrenzung der Familie werden zum zentralen Motiv. Auf der anderen Seite steht eine Faszination für die Fremde, die nicht nur durch Fintan und Geoffroy, sondern auch durch eine weitere Figur in Besessenheit getrieben wird. Leider war dies für mich nicht immer nachvollziehbar und manchmal auch zu mythisch. Realität und Fiktion werden wie in einem Fiebertraum miteinander vermischt. Das gelingt LeClézio sprachlich außerordentlich gut, nur verliert er mich als Leserin regelmäßig.


    3ratten


    Schöne Grüße
    Breña

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges