Ivo Andrić - Die Frau auf dem Stein

Es gibt 2 Antworten in diesem Thema, welches 2.616 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Breña.

  • Das Buch enthält zehn Erzählungen, die 1967 von dtv herausgegeben wurden. Alle (abgesehen von der letzten) spielen in Bosnien, doch die genauen Handlungsorte und vor allem die Zeitpunkte variieren sehr. Verbunden werden sie hingegen durch die Unsicherheit und Zerissenheit, welche die Protagonisten durch die jeweiligen äußeren Umstände beherrschen.


    Geschichte vom Salz - Der Mangel an Salz entzweit nicht nur eine Dorfgemeinschaft sondern auch Familien.
    Anikas Zeiten - Anika, eine Waise, entwickelt sich vom unscheinbaren Mädchen zur mächtigen Verführerin. Wichtig sind in ihrem Leben aber nur zwei Männer: Mihajlo, der Zugezogene, und ihr Bruder.
    Die Probe - Pfarrer Grga veranstaltet ein Gelage und Andrić zeigt, dass alle Menschen von gegensätzlichen Empfindungen geleitet werden.
    Durst - Die junge, einsame Frau eines Kommandanten muss mitanhören, wie im Keller ein Heiducken-Anführer über Nacht Durst leidet.
    Im Streit mit der Welt - Ein Junge schnappt beim Lauschen auf, dass jemand "verdächtigt" wird. Fasziniert von diesem Begriff und den damit verbundenen Geheimnissen möchte auch er in diesen Zustand gelangen.
    Das Fest - Anlässlich seines Namenstags feiert ein kleiner Beamter mit sich selbst und rechnet im Rausch mit allen ab.
    Die Sonne - Ein Gefangener in Einzelhaft findet in der Sonne wieder Hoffnung.
    Worte - Eine kurze Erzählung über den richtigen Zeitpunkt von Reden und Schweigen.
    Die Frau auf dem Stein - Die Gedanken einer Frau über das Älter werden.
    Häschen - Der Belgrader Häschen, bricht aus der bedrückenden Enge seiner Familie aus und entgeht seiner despotischen Ehefrau. In den Wirren des Zweiten Weltkriegs wächst er schließlich über sich hinaus.


    Meine Favoriten der Sammlung sind Durst, das mir sprachlich am besten gefiel und eine dichte, bedrückende Atmosphäre aufweist, und Häschen. Diese letzte Erzählung hebt sich nicht nur durch ihren Umfang von den anderen ab sondern eben auch durch die Tiefe, die Andrić entwickelt. Aus dem unscheinbaren Häschen wird nach und nach ein interessanter Protagonist, dessen Entwicklung ich gerne verfolgt habe.


    Die Qualität der Erzählungen finde ich eher durchwachsen, das Leseerlebnis war nicht immer so kurzweilig, wie ich es mir gewünscht hätte. Andrić ist ein sehr kritischer Autor, der es durchaus versteht die Sorgen seiner Protagonisten greifbar darzustellen. Seine Gesellschaftskritik ist aber nicht mehr aktuell, wodurch manche Erzählungen an Spannung für mich verloren haben, in meiner Erinnerung sind sie, höchstens drei Wochen nach dem Lesen, nur noch sehr blass. Ein interessanter Blick auf seine Zeit war es aber durchaus.


    Den Nobelpreis bekam er übrigens "für die epische Kraft, mit der er Motive und Schicksale aus der Geschichte seines Landes gestaltet". Und genau das zeigt sich auch in den vorliegenden Erzählungen.


    3ratten :marypipeshalbeprivatmaus:


    Viele Grüße
    Breña

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges

    Einmal editiert, zuletzt von Breña ()

  • Zu den Erzählungen selbst hat Breña ja schon jeweils eine Zusammenfassung gegeben, das brauche ich also nicht zu wiederholen – sehr praktisch :zwinker:


    Korrigieren muß ich allerdings diese Aussage:



    Alle spielen in Bosnien,


    Ausgerechnet die letzte und längste spielt in Belgrad, und ich bezweifle, daß man dort als bosnisch bezeichnet werden möchte :tststs:


    Davon abgesehen kann ich mich Breñas Einschätzung im wesentlichen nur anschließen. Häschen nimmt schon wegen seines Umfangs eine Sonderstellung in dieser Sammlung ein, und die Länge ermöglicht halt auch eine ganz andere Charaktersierung der Personen als eine Kurzgeschichte. Die Wandlung des unscheinbaren Mannes in ihrer Allmählichkeit, die ihm selbst anfänglich kaum bewußt wird, ist wirklich gut getroffen.


    Neben Durst gefiel mir auch noch Die Sonne sehr gut. Unter anderen Voraussetzungen schafft Andrić hier ein ähnliches Gefühl von Beklemmung, denn die Hoffnung durch die Sonne ist ausgesprochen trügerisch. Geradezu erfrischend als komisches Stück fiel dann noch Die Probe aus dem Rahmen, die übrigen Geschichten fand ich auch eher mittelprächtig und wenig einprägsam. Da das Entstehungdatum der Erzählungen nach meinen Recherchen zwischen 1930 und 1960 liegt, bleibt auch nicht aus, daß viele Aspekte heute überholt sind und anachronistisch wirken, das ist aber natürlich nicht dem Autor anzulasten.


    3ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:


    Schönen Gruß,
    Aldawen


  • Korrigieren muß ich allerdings diese Aussage:



    Ausgerechnet die letzte und längste spielt in Belgrad, und ich bezweifle, daß man dort als bosnisch bezeichnet werden möchte :tststs:


    :redface: Oje, natürlich! Für diesen Fauxpas hätte ich mir zu Recht auch von einem bosnischen Freund eine dicke Rüge eingehandelt. Also: "Alle, abgesehen von der letzten, spielen in Bosnien,..."


    Viele Grüße
    Breña

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges