Gioconda Belli - Waslala

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    Gioconda Belli - Waslala


    Kurzbeschreibung:


    Ein fiktives südamerikanisches Land in der Mitte des 21. Jahrhunderts. Melisandra lebt in Faguas auf der Hacienda ihres Großvaters, einem bedeutenden Philosophen des Landes. Einmal im Jahr bekommen sie Besuch: Händler und Schmuggler aus aller Welt bringen mit den Waffen und dem Müll auch Neuigkeiten. In diesem Jahr ist unter den Schmugglern ein junger Journalist, der Amerikaner Raphael, dessen geheimer Auftrag eine Reportage über die Herstellung der Droge Philin ist. Offiziell behauptet er, auf der Suche nach Waslala zu sein - einem Ort, von dem jeder weiß, daß es eine Art Utopia sein soll, den aber nur wenige Menschen je gesehen haben. Melisandra verliebt sich in Raphael, und gemeinsam machen sie sich auf eine gefährliche Reise an den Ort, an dem Melisandra auch ihre verschollenen Eltern vermutet ...


    Meine Meinung:


    Da steckt jede Menge Stoff zum Nachdenken drin in dieser eindringlichen Geschichte, in der nichts so kommt, wie ich es erwartet hatte. Am Anfang deutet alles eher auf eine exotische Dschungel-Expedition hin und ich machte mich auf Schlingpflanzen, Sümpfe und wilde Tiere gefasst. Es ist auch ganz schön abenteuerlich, als Melisandra gemeinsam mit ihrem neuen Freund Raphael und einigen weiteren Figuren auf das Boot geht und den Fluß mit Ziel Waslala befährt.


    Der Charakter der Geschichte ändert sich aber ziemlich rasch; weg von der ungezähmten Natur in den harten Alltag der lateinamerikanischen Wirklichkeit, die von Armut, Machtmissbrauch, Drogenhandel erzählt. Die Autorin zeichnet hier einen düsteren Entwurf einer zukünftigen Welt, in der die Entwicklungsländer Lateinamerikas endgültig verloren haben und auf dem Abstellgleis der Zivilisation vergessen werden. Manches davon ist sicherlich bereits Realität.


    Insbesondere die Rolle des Zivilisationsmülls, der für die Bewohner Faguas den wichtigsten Rohstoff schlechthin darstellt, steht im Mittelpunkt der Geschichte und spielt auch eine Schlüsselrolle für das weitere Geschehen. Aufgerüttelt durch einen schrecklichen Unfall, keimt die Idee zum Widerstand gegen die despotischen Gebrüder Espada, die das ganze Land in ihrem Würgegriff haben. Wie immer bei Gioconda Belli, ist der Griff zu den Waffen durchaus ein probates Mittel, um der Obrigkeit die Grenzen zu weisen und aus der Unterdrückungsspirale auszubrechen, was mich persönlich immer sehr zwiespältig zurücklässt.


    Sehr viel mehr konnte ich mich mit der Idee anfreunden, dass inmitten dieser Hoffnungslosigkeit eine utopische Enklave besteht, in der die Menschen glücklich, zufrieden und ohne Angst leben können, eben das titelgebende Waslala. Entworfen durch die Dichter und Denker des Landes, geschützt durch einen Windkorridor und eine unerklärliche Zeitverwerfung, sollen hier die Ideale des menschlichen Lebens ohne Einfluss von außen ausgelebt und an die späteren Generationen weitergegeben werden. Die Frage, ob es Waslals tatsächlich gibt oder nicht, zieht sich bis ans Ende des Buches und ich war immer wieder hin- und hergerissen, ob Melisandra es wohl finden werde. Interessant ist, dass alleine die Tatsache, dass es Waslala geben könnte, den Menschen Kraft und Mut zur Bewältigung ihres täglichen Lebens gibt. Was sich niemand fragt: ob Waslala tatsächlich auch so funktioniert, wie die Intellektuellen das vorgesehen haben - ein interessanter Aspekt, der am Ende nur teilweise beantwortet werden kann.


    Wunderbar gelungen sind die Figuren, die allesamt sehr eindringlich und tiefgründig gezeichnet sind. Melisandra, die Unschuld vom Lande, die mehr und mehr eine charismatische Ausstrahlung bekommt; Raphael, der europäische Journalist, den die Tragödie des Landes in tiefe Zweifel stürzt und der sich mit seinem gewohnten Schwarz-weiß-Denken nicht mehr zurechtfindet; der philosophische Großvater, für den einer der größten Dichter Nicaraguas Pate stand, und schließlich Morris und Engracia, die tragischen Figuren dieses Romans, die mich sehr bewegt haben. Auch die zahlreichen Nebenfiguren sind beeindruckend ausgearbeitet und bringen so manchen zusätzlichen Aspekt in den Roman, ich denke zum Beispiel an ein lesbisches Paar aus Holland, das ein Kind aus Fagua adoptieren möchte.


    Gioconda Belli hat eine mitreißenden, aufrüttelnden Schreibstil, der mich durchwegs begeisterte; er lebt auch von seine Kontrasten, denn sowohl die wunderbaren bildhaften Landschaftbeschreibungen von den Ufern des Amazonas, als auch die Schilderung der elenden Zustände in den Städten und Straßen Faguas, die absurde Verwendung von Müll, der für sämtliche Alltagsgegenstände herhalten muss, erzeugten bei mir sehr intensive Bilder im Kopf und ließen mich lange nicht mehr los. Dabei hat die Autorin aber immer auch eine Blick für das Schöne im Schrecklichen, was die Lektüre für mich umso faszinierender machte.


    5ratten


    Viele liebe Grüße
    Miramis

    :lesen: Kai Meyer - Die Bibliothek im Nebel

  • Wow, eine tolle Rezi hast du da beschrieben, Miramis! :daumen:


    Viel mehr brauche ich da gar nicht hinzuzufügen. Was mir am meisten vom Lesen in Erinnerung geblieben ist, ist dass mir erst mitten im Buch aufgefallen ist, das die Handlung irgendwann in der Zukunft spielen muss. Ich fand die Zustände so realistisch beschrieben, dass es auch sehr gut in der Jetzt-Zeit hätte spielen können, auch wenn Faguas natürlich ein fiktives Land ist.


    Deiner Bewertung kann ich mich nur anschließen.
    5ratten

  • Cuddles: danke! :redface:


    Ja, mir ging es auch so, dass sich erst nach und nach beim Lesen ein unbestimmtes, unwirkliches Gefühl eingestellte, nicht in der Jetzt-Zeit zu sein. Das wurde dann auch bestätigt, spätestens zu dem Zeitpunkt, als Raphael und Melisandra eine echte Bibliothek aus weggeworfenen Büchern besichtigen und es zumindest für Raphael eine völlig neue Erfahrung ist; er kannte Bücher bis zu diesem Zeitpunkt nur als virtuelle Gebilde auf dem Bildschirm. Eine starke Szene, wie ich finde! Und wie gemacht für uns Bücherfreunde.


    :winken:

    :lesen: Kai Meyer - Die Bibliothek im Nebel

  • Wow, gleich zwei so positive Meinungen!
    Ich bin schon längere Zeit, um das Buch herumgeschlichen, aber ich habe mich bisher nicht getraut, mitzunehmen...aber wenn ich es jetzt das nächste mal sehe, werde ich es wohl mitnehmen müssen :breitgrins:

    Books are the ultimate Dumpees: put them down and they’ll wait for you forever; pay attention to them and they always love you back.<br />John Green - An Abundance of Katherines<br /><br />:lesewetter: Caprice

  • Das habe ich auf meinem Wichtel-SuB und nach der Rezi werde ich es als nächstes angreifen. :zwinker:

    Liebe Grüße JaneEyre

    Bücher haben Ehrgefühl. Wenn man sie verleiht, kommen sie nicht zurück.

    Theodor Fontane

  • Nach dem eher durchwachsenen Eindruck den Bellis Bewohnte Frau bei mir hinterlassen hat, habe ich doch noch diesen zweiten Versuch gewagt. Gleich vorweg, Waslala hat mir etwas besser gefallen, das Fehlen eines eher esoterischen Erzählstrangs wie der des Orangenbaums in der bewohnten Frau hat dazu sicher maßgeblich beigetragen. Abgesehen von ein paar Kleinigkeiten wie der bereits vollständig wahrgewordenen Digitalisierung von Büchern fand ich es auch nicht besonders unrealistisch. Das gilt insbesondere für das Thema Müll. Wer meint, Belli habe hier phantasiert, dem empfehle ich die Photos des Südafrikaners Pieter Hugo, die er in seinem Projekt Permanent Errors zusammengestellt hat. Auf denen kann man sehr gut sehen, was unser Elektroschrott auf unkontrollierten Müllkippen in Ghana anrichtet. Ich habe mal die Google-Bildersuche bemüht: klick!



    Die Frage, ob es Waslals tatsächlich gibt oder nicht, zieht sich bis ans Ende des Buches und ich war immer wieder hin- und hergerissen, ob Melisandra es wohl finden werde.


    Dessen war ich mir eigentlich ziemlich sicher, nicht aber, ob es auch gut wäre, wenn sie es findet. Das hängt mit Deiner weiteren Beobachtung zusammen:



    Interessant ist, dass alleine die Tatsache, dass es Waslala geben könnte, den Menschen Kraft und Mut zur Bewältigung ihres täglichen Lebens gibt.


    Funktioniert das nicht gerade deswegen, weil es so wenig greifbar, mehr eine Illusion ist? Kann Waslala die Kraft nicht ausschließlich als Mythos wirklich entfalten? Ich neige zu der Ansicht, daß das so ist, denn die Realität muß notgedrungen an dem Bild scheitern. Du stellst ja auch die Frage, ob Waslala in sich so funktioniert/funktionieren kann, wie es von den Gründern angedacht war. Und die Antwort wird letztlich schon gegeben, wie ich fand, auch sehr eindeutig.


    Kann ich mich mit der Gesamthandlung hier im großen und ganzen noch gut anfreunden (wenn auch nicht mit allen Handlungen im Detail, Engracias Plan bspw. ist zwar aus der Situation erklärlich, hinterläßt bei mir aber gleichwohl einen schalen Beigeschmack), so waren mir die Personen doch etwas zu eindimensional. Die Espada-Brüder waren einfach nur Bösewichte, Melisanda zu naiv (man denke nur an ihre überstürzte Abfahrt aus dem Hotel!), Raphael zu sehr aufrechter Reporter usw. Die einzige Figur mit ein paar Ambivalenzen war der Waffenhändler Maclovio, der mich daher auch am meisten interessieren konnte.


    3ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:


    Schönen Gruß
    Aldawen