Renate Welsh: Großmutters Schuhe

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    Renate Welsh: Großmutters Schuhe, Roman, München 2008, dtv, Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-423-24695-8, 196 Seiten, Format: 13,5 x 21 x 2 cm, Euro 12,90 [D], Euro 13,30 [A] sFr 22,60.


    Das Oberhaupt einer großen Familie ist gestorben, Edith Karmann, 93. Wie wohl bei vielen Beerdigungen wurden auch auf dieser Reden gehalten, die den verstorbenen Menschen in die Nähe eines Heiligen rückten. Nun sitzen die Hinterbliebenen in einem Gasthaus beim Leichenschmaus.


    Oft fragt man sich ja bei solchen Gelegenheiten, was wohl die nächsten Angehörigen von diesen posthumen Lobeshymnen halten mögen. Sie haben den Verstorbenen schließlich mit all seinen Fehlern und Schwächen gekannt. In diesem Buch erfahren wir es. Christine Welsh schaut den Hinterbliebenen quasi in die Köpfe und lässt uns an deren geheimsten Gedanken teilhaben. Manch ein Abschiednehmen gerät unversehens zur gnadenlosen Abrechnung mit der Verstorbenen und der ganzen Verwandtschaft.


    Die Töchter: Stefanie (72) und Friederike (69)
    Von ihrem Vater haben Stefanie und Friederike nie viel gehabt. Als er aus dem Krieg wiederkam, psychisch angeschlagen, war die Beziehung zu seiner Frau am Ende. Vielleicht schon vorher. Er orientierte sich anderweitig und war viel unterwegs. Die wichtigste Bezugsperson für die Mädchen war die Mutter – die beide zurückwies. Stefanie war ihr zu brav und zu angepasst, und mit der intelligenten aber unscheinbaren Friederike konnte sie ebenso wenig anfangen.


    Was hat Edith Karmann von ihren Töchtern erwartet? Dass sie ein perfektes Abbild von ihr sind, schön, aristokratisch, klug, lebensfroh und ein wenig theatralisch? Und weil die Töchter eigene Persönlichkeiten waren, waren sie eine Enttäuschung? Ausgesprochen hat sie es nie, aber beide Töchter empfinden es so. Stefanie bringt es auf den Punkt: „Ja, Edith, es muss einmal gesagt werden, nach all den Lobeshymnen: Als Mutter warst du eine Katastrophe!“ (S. 145)


    Die Schwiegersöhne: F.T. (75) und Eberhard (73)
    F.T., der Mann von Stefanie hat mit der Karmann-Sippe nicht mehr viel am Hut. Seine Ehe mit Stefanie besteht nur noch auf dem Papier. Zur Beerdigung der Schwiegermutter ist er gekommen, weil er sie gemocht hat, obwohl sie eine besserwisserische Tyrannin sein konntet. „Sie war die einzige, die mich nicht als Trottel behandelt hat, weil ich keine so genannte humanistische Bildung hatte.“ (S. 99) Und er schätzte ihren Stil und ihren Verstand.


    Eberhard, Friederikes Mann, nutzt den Leichenschmaus für eine persönliche Lebensbilanz. Aufgewachsen in einer freudlosen Familie mit einer früh verwitweten Mutter, die Jahrzehnte lang aufopferungsvoll die verhasste Schwiegermutter pflegte, wollte er in seiner eigenen Familie alles besser machen. Resultat? Eine Frau, die ihn verachtet, Kinder, zu denen er kaum Kontakt hat, einen Alkoholiker als Schwiegersohn und zwei nichtsnutzige, verwöhnte Enkel. Sieht so ein geglücktes Leben aus? An seiner Schwiegermutter schätzte Eberhard die Lebensfreude und ihren Sinn für Humor. „Vielleicht war ich deshalb so gern bei ihr, sie konnte sich freuen über ein paar Blumen, über die italienischen Mandelmakronen, die sie so gern aß (…). Sie freute sich einfach, genauso wie über eine Tasse Tee, eine Anekdote.“ (S. 167) Er wird sie vermissen.


    Marie (81), Haushälterin mit Familienanschluss, und ihr Sohn Andreas (61)
    Für Marie wird der Tod ihrer Arbeitgeberin und Freundin Edith zur existenziellen Frage. Für einen Hungerlohn hat sie seit ihrer Teenagerzeit für Ediths Familie gearbeitet. Erst in den letzten 10 Arbeitsjahren wurde sie offiziell angemeldet, was nach 65 Jahren treuer Dienste nicht einmal für die Mindestrente reicht. Doch Marie hat sich nie beklagt, denn Edith hat ihr einmal sehr geholfen. Als Marie mit 20 von Ediths Neffen Fritz schwanger wurde, der im Krieg blieb, setzte Edith durch, dass Mutter und Sohn im Haus bleiben durften und der Bub finanziell unterstützt wurde.


    Dennoch … Marie hat Edith Karmann oft genug als undurchschaubar und unehrlich erlebt. Jedem hat sie Recht gegeben und ihre wahre Meinung für sich behalten. Marie hat Edith zwar bewundert, aber ihr nicht getraut. Ob Edith ein Testament gemacht und Vorkehrungen für Maries Alterssicherung getroffen hat? Marie glaubt nicht daran.


    Was wird nun aus ihr, der alten Haushälterin, jetzt da Edith nicht mehr lebt? Mit dem Haus, in dem die beiden alten Damen zuletzt alleine wohnten, hat die Erbengemeinschaft sicher schon Pläne. Und zu ihrem Sohn Andreas und dessen Familie will Marie nicht ziehen. So nahe stehen sie einander nicht.


    Streng war die Mutter, daran erinnert sich Maries Sohn Andreas (61) mit Grausen. So als wollte sie den Makel seiner unehelichen Geburt mit einer perfekten Erziehung wettmachen. Er ärgert sich darüber, dass seine Mutter sich von den Karmanns so hat ausbeuten lassen. Auch die Karmanns hätten mannigfaltige Gründe, Marie dankbar zu sein.


    Auch Eifersucht und Neid stecken hinter Andreas’ Groll auf die Karmanns: „Manchmal habe ich den Eindruck, dass diese ganze Familie zwischen mir und meiner Mutter steht, dass diese Leute ihr Lebensmittelpunkt sind und immer waren.“ (S. 153) – „Was habe ich Raffael und Thomas beneidet, auch Anna und Theresa [seine Neffen und Nichten aus der Karmann-Sippe] für ihre Weltläufigkeit, wie selbstverständlich sie sich überall bewegten, für diese – ja, so ungern ich es sage, diese natürliche Überlegenheit. Was war ich für ein lahmer Ackergaul neben diesen Vollblutpferden, gehemmt in jeder Bewegung, stur büffelnd, ein braver, etwas übergewichtiger Schüler.“ (S. 154)


    Die Enkel und ihre Familien
    Wenn schon das Verhältnis zu den Kindern, der Beinahe-Schwägerin und deren Sohn problematisch war, war es dann mit den Enkeln vielleicht entspannter? Auch nicht wirklich:


    Anna (48), Friederikes Tochter, hat Alex geheiratet, der sich als Spieler und Alkoholiker entpuppt und sich in seiner Rolle als Totalversager eingerichtet hat. Anna hält mit Mühe das Alltagsleben am Laufen, und Alex fällt stets mit neuen Schnapsideen auf die Nase. Und wer hat ihm immer wieder auf die Beine geholfen, immer wieder Entschuldigungen für seine Eskapaden gefunden? Oma Edith. Vielleicht Patricia zuliebe, seiner schönen, starken und unabhängigen Tochter, in der Edith Karman sich ein Stückweit wieder erkennt?


    Thomas (46), Friederikes Sohn hat seine Energie in den geschäftlichen Erfolg gesteckt und die Erziehung seiner Söhne der Ehefrau überlassen. Jetzt ist Thomas enttäuscht, dass Lea die beiden Buben zu verantwortungslosen Muttersöhnchen verzärtelt hat. Seine Großmutter Edith war für ihn nicht nur wesentlich unterhaltsamer als seine selbstmitleidige Mutter Friederike, er sieht sie als Heldin. „Wer war es, der mir erzählt hat, dass sie zu Kriegsende einen Deserteur im Haus versteckt hat? (…) Und dass sie einer jüdischen Schulkameradin zwei Jahre lang das Essen gebracht hat (…)?“ (S. 133) Die Vorstellung einer heldenhaften Großmutter gefällt Thomas. „Was hätte ich auch sonst anzubieten? Eine gescheiterte Ehe, zwei Söhne, von denen ich nichts halte?“ (S. 133)


    Mit Stefanies Kindern steht es auch nicht besser: Raffael (43) lebt von seiner Frau Lilly getrennt. Raffael denkt an seine Kindheit zurück, an die Erinnerungen, die ihn mit seiner Großmutter verbinden. Und ihm wird klar, dass manche Familientradition nun ein Ende hat und dass er genau danach Heimweh bekommen wird.


    Führt eigentlich niemand in dieser Familie eine glückliche Ehe? Theresa, 41, Stefanies Tochter, jedenfalls nicht. Sie ist von Roland geschieden. Einmal in ihrem Leben war sie spontan – und nun ist sie von einem Mann schwanger, von dem sie nicht einmal den Namen weiß. Oma Edith hätte das verstanden, der Rest der Welt wird sie für verrückt halten.


    Theresa macht sich Gedanken darüber, warum die Ehen in der Familie Karmann nicht funktionieren: „Es ist schon seltsam mit den Frauen unserer Familie (…) Alle haben sie gelitten unter den Männern, die ihnen nicht gewachsen waren, haben sie dafür verachtet, dass sie hinter anderen Frauen hergelaufen sind (…). Haben die Männer dafür bestraft, dass sie selbst nicht den Mut hatten auszubrechen aus ihren Ehekäfigen, haben sich die Feigheit als Heiligenschein auf den ordentlich frisierten Kopf gesetzt.“ (S. 95)


    Die Urenkel: David (20) und Patricia (21)
    Familienähnlichkeit und Zuneigung haben bei der Familie Karmann offenbar zwei Generationen übersprungen. Die Urenkel David (Sohn von Raffael und Lilly) und Patricia (Tochter von Anna und Alex) sind Nachkommen ganz nach dem Herzen von Uroma Edith: gut aussehend, intelligent, charmant, charismatisch und auch auf dem besten Weg, beruflich erfolgreich zu werden.


    Mit erschreckender Klarheit durchschaut der junge David seine Verwandtschaft. Und ihm ist bewusst, was der Tod der Uroma bedeutet: „Diese Familie braucht kein Oberhaupt mehr, weil sie nämlich mit diesem Tag aufgehört hat, eine Familie zu sein, die Nabe ist aus dem Rad gefallen, die Speichen spritzen in alle Richtungen.“ (S. 21) Und er ahnt auch, dass seine „Ditta-Oma“ eine Frau mit vielen Gesichtern war: „Nimmt man Abschied von einem Menschen oder einem Bild? Meine Ditta haben die anderen hier alle nicht gekannt.“ (S. 23)


    Urenkelin Patricia kommt zu ganz ähnlichen Schlüssen, was die Zukunft der Familie angeht. Und die Uroma, die große Manipulatorin, die alte Anarchistin, mit der man so herrlich über die Familie lästern konnte, wird ihr fehlen. Sie beiden mochten einander. „Unmöglich bist du,“ hat die Urgroßmutter oft zu Patricia gesagt. „Unmöglich bist du, das war der höchste Orden, den sie zu vergeben hatte. (…) manchmal fügte sie sogar hinzu: ‚Das hast du von mir. Begabungen überspringen oft eine Generation. Oder sogar zwei.’“ (S. 53) Mit Patricia und David fühlte Edith Karmann sich mehr verwandt als mit sonst jemandem aus der Familie.


    Freunde und Bekannte
    Auch Freunde und Bekannte machen sich Gedanken über Edith Karmann. Manche kannten sie ihr Leben lang, andere lernten sie erst im hohen Alter kennen. Und für alle Anwesenden gilt, was Schwiegerson Eberhard so treffend zusammenfasst: „Jeder von uns hat eine andere Ditta begraben, vielleicht ist gerade das der richtige Tribut an eine besondere Frau.“ (S. 188)


    Eine besondere Rolle kommt einem guten Bekannten der Verstorbenen zu, Alfred Schreiber, 91. Ihn hat Edith Karmann beauftragt, den Hinterbliebenen schon beim Leichenschmaus einen Ausblick auf die Testamentseröffnung zu geben. Diese „Botschaft aus dem Jenseits“ ist für manch einen ein Schock – und setzt dramatische Ereignisse in Gang …


    Vom Wesen der Familienbande
    Es hat etwas von gehässigem Familienklatsch, wenn man hier die geheimsten Gedanken der einzelnen Familienmitglieder erfährt. Deswegen hat man auch so ein diebisches Vergnügen an all diesen Enthüllungen. Doch jenseits von Neugier und Indiskretion stellen sich ganz andere Fragen: die nach Persönlichkeit, Rollen und Identität.


    Jeder kannte eine andere Edith Karmann. Waren das nur die ganz normalen Facetten eines Charakters und jeder Mensch bekam, je nach der Beziehung, in der zur Verstorbenen stand, ein anderes Stückchen zu davon sehen? Oder blieb ihre wahre Persönlichkeit den Blicken der anderen verborgen? Zeigte sie nur, was ihr nützlich erschien, um ihre Mitmenschen zu manipulieren? Wer hat wohl das Bild zu sehen bekommen, das der authentischen Persönlichkeit Edith Karmanns am nächsten kam? War sie besonders schillernd, falsch und wankelmütig, wie Marie vermutet, oder sind wir alle eine Summe widersprüchlicher Rollen und Eigenschaften?


    Interessant ist auch die Frage, über wie viel Generationen einer Familie sich der Einfluss einer so dominanten Persönlichkeit wie Edith Karmann erstreckt. Ihre Töchter leiden ein Leben lang darunter, den Ansprüchen der Mütter nicht genügt zu haben. Deren Partner und Kinder wiederum leiden daran, dass ihre Frauen und Mütter sich unzulänglich, ungeliebt und zurückgewiesen fühlten und im Schatten ihrer charismatischen Mutter nie genügend Sonne bekommen haben. Erst die Urenkel scheinen diese Leidenskette durchbrechen zu können. Weil der Einfluss von Edith Karmann über die Generationen nachlässt, oder weil ihre starke Persönlichkeit bei den Urenkeln wieder durchschlägt? David und Patricia sind vielleicht die ersten, die in Edith Karmanns Fußstapfen treten können, und denen „Großmutters Schuhe“ nicht viel zu groß sind.


    Vielleicht sollte man das Servicepersonal des Gasthauses, in dem der Leichenschmaus stattfand, zu ihrer Meinung befragen. Die Angestellten dort haben Tag für Tag mit feiernden und trauernden Menschen zu tun und eine erstaunliche Kunstfertigkeit darin entwickelt, aus diesen Momentaufnahmen treffende Rückschlüsse auf Beziehungen und Charaktere zu ziehen.


    „Großmutters Schuhe“ ist ein Familienporträt mit komischen und tragischen Momenten, unterhaltsam, eigenwillig und lebensnah – eine illusionslose Offenlegung der Beziehungen innerhalb eines Familienclans, eine knallharte Bestandaufnahme all dessen, was eine Familie ausmacht – im Guten wie im Schrecklichen.


    Wer befürchtet, sich beim Lesen in dem komplexen Beziehungsgeflecht verirren zu können: Unter der vorderen Klappe des Buchs ist ein übersichtlicher Stammbaum verborgen, den man zwischendurch schnell mal zu Rate ziehen kann.


    Die Autorin
    Renate Welsh wurde 1937 in Wien geboren. Ihre Kindheit verlebte sie in einem Vorort Wiens, wo ihr Vater Arzt war. Nach dem Abitur studierte sie Englisch, Spanisch und Literaturwissenschaften, brach ihr Studium aber nach zwei Jahren ab und arbeitete am British Council in Wien. Nebenberuflich, später freiberuflich war sie als Übersetzerin tätig. Seit 1969 hat sie dann viele engagierte Kinder- und Jugendbücher geschrieben, für die sie neben zahlreichen anderen Auszeichnungen mehrfach den Österreichischen Staatspreis für Kinderliteratur, den Preis der Stadt Wien und den Deutschen Jugendliteraturpreis erhielt. 1995 wurde ihr Gesamtwerk mit dem Österreichischen Würdigungspreis ausgezeichnet.

  • Was für eine schöne Rezension :daumen:


    Schon wieder ein Kandidat für die Wunschliste *seufz*

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen