[Pakistan] Mohsin Hamid - Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

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    In einem Café in Lahore erzählt der Pakistani Changez einem Amerikaner, wie er in den USA studiert und in einer Unternehmensberatung gearbeitet hat, sich auf die USA und eine Amerikanerin offen eingelassen hat, wie sich daraus zwei äußerst prekäre Beziehungen entwickelt haben und warum er schließlich nach Pakistan zurückgegangen ist.



    Der Roman ist angelegt als durchgehender Monolog, in dem Changez, der Sprechende, den Eindruck erweckt, er müsse seine Lebensgeschichte einem Fremden mitteilen. Ohne Einführung werden wir in die Erzählung hineingezogen, der Erzähler selbst scheint mir reduziert auf den Klang seiner Stimme. Diese Stimme greift wichtige Themen auf: Traditionen und Nationalismus in Zeiten der Globalisierung, Kapitalismus und Islam, den Missbrauch von Geschichte. Latenter Argwohn durchzieht die Nähe der beiden Männer. Von Beginn an ist die Atmosphäre im Café auf unbestimmte Weise bedrohlich. Die Erzählung dagegen ist im Ton lustig bis düster. Changez’ Blick auf seine Kommilitonen, auf das Bewerbungsgespräch, auf seine Arbeit, seine Freundin Erica und deren Familie, auf den 11. September und seine Auswirkungen auf das (gesellschafts-)politische Klima in den USA und auf die Mitmenschen sind getragen von dem Bemühen, eine fremde Welt zu verstehen mit einem Instrumentarium, das dafür vielleicht gar nicht wirklich geeignet ist.


    Wie der Autor die Erzählung kontrolliert, wie zurückgenommen und pointiert er schreibt, wie geschickt er das persönliche und das politische Moment miteinander verwebt, so etwas habe ich schon lange nicht mehr in einem Buch erlebt.



    [size=1]Land im Betreff eingefügt. LG, Aldawen[/size]

    Einmal editiert, zuletzt von Aldawen ()

  • Wie der Autor die Erzählung kontrolliert, wie zurückgenommen und pointiert er schreibt, wie geschickt er das persönliche und das politische Moment miteinander verwebt, so etwas habe ich schon lange nicht mehr in einem Buch erlebt.


    Darf ich das positiv auffassen?
    Das Buch liegt auch noch auf meinem SUB und ich kann mich nicht so recht entscheiden, ob ich es als nächstes lese. :rollen:

  • Darf ich das positiv auffassen?
    Das Buch liegt auch noch auf meinem SUB und ich kann mich nicht so recht entscheiden, ob ich es als nächstes lese. :rollen:


    Das darfst Du unbedingt als positiv auffassen. Das Buch ist - aus meiner bescheidenen Sicht - schlichtweg brillant. Es befand sich auf der Short List für den 2007 Man Booker Prize und hat Anfang 2008 den South Bank Show literature award erhalten.


    Grüße,
    mohan

  • Vielen Dank, Mohan, für Deine Empfehlung. Ich habe das Büchlein am Wochenende gelesen und fand es wirklich bemerkenswert.
    Allerdings haben mich zwei Sachen irritiert: Zum einen der Titel - oder ist das ein Hinweis darauf, dass der Autor Fundamentalismus überhaupt nicht als religiösen Problem oder religiös aufgeladenes Problem sieht, sondern "nur" als politisch-gesellschaftliches?
    Zum zweiten war für mich nicht nachvollziehbar, warum bereits am 11. September der Erzähler diese Reaktion von ihm beschreibt. Das war für mich zu überraschend. Auch wenn er bereits die ersten Erfahrungen gemacht hatte, wie US-Amerikaner im Ausland wirken, fehlt meines Erachtens der Hintergrund, warum er bereits am 11. September sich emotional so weit von den USA entfernt hat. Allerdings muss ich auch sagen, dass ich das Buch auf Englisch gelesen habe und mir eventuell Kleinigkeiten, die eher zwischen den Zeilen als wirklich im Text zu finden sind, entgangen sein können. (Das ist der Grund, warum ich abgesehen von HP Bücher von angelsächsischen Autoren eher auf Deutsch lese, weil ich trotz relativ gutem Englisch doch nicht das Leseniveau wie im Deutschen erreiche. Meine Bib hatte das Buch aber nur auf Englisch.)


    Die weitere Erzählung, gerade auch die Beschreibung des Konflikts zwischen USA, Indien, Pakistan und die Empfindungen des Erzählers dazu fand ich ziemlich gut.

  • Ein freier Nachmittag ist etwas feines, dann kann man ein solches Buch auch mal in einem Zuge durchlesen – angesichts des Sogs, den Changez' Erzählung zumindest auf mich ausgeübt hat, eine willkommene Situation. Wie Hamid hier mit den Vorurteilen spielt, um sie zu entlarven, das ist einfach gut gemacht. Und auch diese merkwürdige Liebesgeschichte ist natürlich genauso nötig: Die einer – nein, nicht echten, denn für Erica ist Chris ja schließlich sehr echt – aber realen Gefühlswelt nicht mehr zugängliche, auf sich selbst fokussierte Amerikanerin gegenüber dem in dieser Beziehung unterlegenen, mitfühlenden Pakistani. Damit stehen sie schon als Sinnbilder dessen, was Changez auch allgemeiner auf die Völker überträgt, ohne daß der Autor hier allerdings zu sehr mit der Keule um sich schlägt.


    Was den Titel angeht, auch den finde ich ausgesprochen passend. Eher scheint es mir erstaunlich, wie eng offensichtlich die Konnotation geworden ist, wenn der Begriff ausschließlich noch mit religiös und Islam verbunden wird. Schließlich ist doch mehr als einmal die Rede davon, daß das Credo des Unternehmens die Konzentration auf die Fundamentals sei, genau das also, dem sich Changez durch die Rückkehr nach Lahore entzogen hat. Wenn man sich von der religiösen Einengung des Begriffs löst – die zwar möglicherweise zur Verwirrung des Lesers einkalkuliert ist, aber vermutlich nicht der Hauptintention des Romans entspricht, wie ich überhaupt finde, daß Religion gleich welcher Ausprägung eine bemerkenswerte Rolle des Kaum-Vorhandenseins einnimmt –, dann ist auch die Herkunft Changez' eigentlich nur noch von untergeordneter Bedeutung, und das ganze wird eher eine Kritik an einem die Menschen ignoriereden Finanz-Kapitalismus. Ich will nicht sagen, daß Changez' auch aus jedem beliebigen anderen Land hätte kommen können, das nicht, weil dann weder die Verbindung mit der politischen Ebene noch das Einfließenlassen der sich auf ihn auswirkenden Veränderung der Wahrnehmung der Menschen so möglich gewesen wäre. Aber das diente für mich mehr der Verstärkung sowie der Möglichkeit, eine bestimmte Art der Loslösung darzustellen – ganz abgesehen davon, daß es sicher auch von den Erfahrungen des Autors selbst beeinflußt und daher eine naheliegende Wahl war.


    4ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:


    Schönen Gruß,
    Aldawen

  • Sorry, der Thread, obwohl von mir eröffnet, ist völlig versackt gewesen, weil ich ihn nicht gespeichert hatte. :redface:


    Freut mich, dass dir das Buch so gut gefällt, Vulkan. Der deutsche Buchtitel ist zwar recht gut, aber es gehen doch Verknüpfungen verloren, die im Buch erkennbar sind. Über das Unwillige („der keiner sein wollte“) hinaus ist Changez (schwächer gefasst) zurückhaltend und (stärker gefasst) widerwillig. Und seine Entwicklung begreife ich als eine zwischen der Zurückhaltung und dem Widerwillen. Aldawens Anmerkungen zu den Fundamentals und Changez’ Rückkehr nach Lahore ergänzen hier gut.


    Der Fundamentalismus ist ja nicht nur religiös oder umfassender weltanschaulich. Der Rückbezug auf kulturelle, politische und ökonomische Wurzeln sowie die radikale, intolerante Durchsetzung sind meines Erachtens von viel größerer Bedeutung. Dies erklärt für mich auch den relativ großen Raum, den manche Erzählungsbestandteile einnehmen. So ist sehr markant die Geschichte über die Bewertung des kleinen chilenischen Buchverlages, der Aufeinanderprall zweier Denkmodelle, die Orientierung auf betriebswirtschaftliche Größen und die Verankerung des Verlags in einem komplexeren Feld. Hier fungiert Changez folgerichtig als Mittler zwischen den beiden Ansätzen (Kulturen), was der alte Buchhändler schnell erkennt.


    Insofern denke ich, dass dein Argument der weiteren Fassung des Fundamentalismus-Begriffes stimmig ist.


    Zu deinem zweiten „Einwand“: Ich glaube, dass der Autor den 11. September in zweifacher Weise betrachtet, als Ziel (eine sehr verbreitete westliche Sicht) und als Symptom (die Sicht Changez’). Ähnlich lässt sich über das Symptom vielleicht die internationale Finanzkrise erklären, die politischen Maßnahmen, die vielleicht nur vordergründig Instrumente sind, eingeschlossen.


    Liebe Grüße,
    mohan :winken:

  • Ein in vielerlei Hinsicht beeindruckendes Buch.
    Nicht nur das Spiel mit Begriff des Fundamentalismus, bei dem der religiöse Aspekt eher ausgeklammert wird, wie Aldawen schon anmerkte. Besonders bemerkenswert finde ich, wie viel Hamid zwischen den Zeilen und in Nebensätzen sagt, wie geschickt er seine Worte wählt (und ebenso der Übersetzer). Das ergibt eine eindrucksvolle Kombination aus erzählerischer Leichtigkeit und bedeutsamer Tiefe. Zu guter Letzt gefiel mir, wie er Details aus dem pakistanischen Alltag und der Mentalität der Menschen dort einstreut, obwohl das Buch zum Großteil woanders spielt, und wie diese Kultur auf die amerikanische stößt, die er für den Leser nicht näher erläutern muss.



    Zum zweiten war für mich nicht nachvollziehbar, warum bereits am 11. September der Erzähler diese Reaktion von ihm beschreibt. Das war für mich zu überraschend. Auch wenn er bereits die ersten Erfahrungen gemacht hatte, wie US-Amerikaner im Ausland wirken, fehlt meines Erachtens der Hintergrund, warum er bereits am 11. September sich emotional so weit von den USA entfernt hat.


    Changez steckt mitten in einer Identitätskrise, die am 11. September plötzlich mit dem Weltgeschehen verknüpft wird. Das macht es für mich nachvollziehbar, dass er sofort Partei ergreift und in der Folge durch die Reaktionen seines Umfelds darin bestärkt wird. Er pendelt die gesamte Erzählung über zwischen der westlichen und östlichen Sozialisation, bevor er zu seinen Wurzeln zurückkehren kann, ohne aber, wie er sagt, seine Liebe zu Amerika zu verlieren.


    4ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:


    Viele Grüße
    Breña

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges

  • Ich schwimme mal wieder gegen den Strom und kann mich den positiven Meinungen zu dem Buch so gar nicht anschließen.


    Diese Monologform hat mich zunächst nur irritiert, doch zum Schluss höre ich da soviel Hohn und Hinterhältigkeit heraus, dass ich nicht anders konnte als mich darüber zu ärgern.


    Auch von der Handlung her hat es mich nicht sonderlich umgehauen, trotz der Kürze des Buches ist es weitestgehend erstaunlich uninteressant.


    Und nun nach der letzten gelesenen Seite habe ich auch immernoch nicht kapiert, was der Autor hier eigentlich bezwecken will, denn der m.E. entscheidende Frage, woher den nun der Wandel von bloßer Antipathie gegen das übermächtige Amerika hin zur Gewalttätigkeit, bin ich nach diesem Buch noch keinen Schritt näher gekommen. Die alleinige Aufzählung einiger Amerika-Klischees sind für mich keine hinreichenden Erklärungen für die m.E. teilweise überspitzen Handlungen des Protagonisten.


    2ratten

    Ich hieß hier mal caithlin.<br /><br />&quot;If I had a dollar for every time i felt more emotion for a fictional character than people in real life, I could pay for the psychiatric help I obviously need.&quot;

    Einmal editiert, zuletzt von caithlin ()

  • Oberflächlich betrachtet passiert in diesem Roman nicht viel, ein junger Pakistani erzählt einem Fremden einen Teil seiner Lebensgeschichte, nämlich den Lebensabschnitt, den er in den USA bzw. als Angestellter eines US-Unternehmens verbracht hat. Dabei wirkt er zwischendurch immer wieder beruhigend auf seinen Gesprächspartner ein, wodurch die ganze Situation einen leicht bedrohlichen Charakter annimmt.


    Wendepunkt in seiner Karriere ist der 11.09.2001, er muss sich seinen inneren Unsicherheiten und Zweifeln stellen und kann nicht länger zwischen den Welten und Mentalitäten schwimmen. Ich kann Changez‘ Gefühle beim Fall der Twin Towers durchaus nachvollziehen. Wenn jemand so übermächtig ist/wirkt wie die USA, freut man sich, gerade wenn man selbst nicht unbedingt in einer Machtposition ist, über einen Sieg des „underdog“ gegen diese Macht. Dabei fühlt Changez durchaus mit den Menschen, die um Angehörige bangen und trauern, nur ist es für ihn kein Symbol SEINES Lebens; das da zerstört wurde. Hier wird seine innere Distanz zum American Way of Life, die ihm selbst gar nicht so deutlich war, offenbar.


    Der Autor (und hier geht auch ein Lob an den Übersetzer) geht unglaublich geschickt mit Sprache um, er lässt aus kleinen Andeutungen beim Leser ein ziemlich deutliches Bild entstehen. Ich muss zugeben, dass ich das Wortspiel um „Fundamentalist“ nicht wirklich durchschaut habe, im Nachhinein finde ich es aber genial. Genauso wenig habe ich mir zunächst Gedanken um Changez Namen gemacht, bei näherem Überlegen ist der Name durchaus Programm, es geht in dem Roman um Veränderungen und die verschiedenen Rollen, die er lebt und zwischen denen er wechselt.


    Ich bin mir fast sicher, dass man dem Buch bei wiederholter Lektüre noch ein paar Ebenen und Geheimnisse mehr abgewinnen könnte.


    4ratten