Charles Lewinsky - Melnitz

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    Inhalt:
    «Melnitz» erzählt die Geschichte der Familie Meijer von 1871 bis 1937. Die Familie Meijer lebt in Endingen, Baden und Zürich, es wird gestritten, diskutiert, geheiratet, es kommen Kinder zur Welt - alles, wie in anderen Familien auch. Ausser dass die Meijers Juden sind. Und wer sich den Handlungszeitraum ansieht, kann sich vorstellen, dass insbesondere der letzte Teil des Buches kein besonders heiterer ist.


    Meine Meinung:
    Charles Lewinskys Roman fängt ganz harmlos an. Die Erzählung beginnt mit Irrungen und Wirrungen der Liebe, die in einer Doppelhochzeit enden - alles in einer klaren, aber warmen Sprache erzählt, mit Protagonisten, die einem einfach ans Herz wachsen müssen, weil sie so herrlich menschlich sind. Diese beiden Dinge bleiben einem auch bis ans Ende des Buches erhalten. Was zunimmt, ist der Antisemitismus. Wenn der Viehhändler Salomon im ersten Teil des Buches von den Bauern noch gutmütig als «der Jud mit dem Schirm» verspottet wird, so werden seine Nachkommen schon härter angefasst: Bei einer eidgenössischen Volksabstimmung wird ein Schächtverbot wohl eher aus Judenfeindlichkeit als aus tierschützerischen Überlegungen angenommen (die Abstimmung fand im Jahr 1893 statt). Ein anderer Nachkomme Salomons lässt sich taufen, um geschäftliche Vorteile zu haben, nur um dann zu hören, dass auch ein getaufter Jude eben immer noch ein Jude sei. Und im Abschnitt «1937» kommt es dann schliesslich auch zu körperlicher Gewalt.
    Trotzdem: «Melnitz» klagt nicht an und zeigt auch nicht mit dem Finger auf die Antisemiten. Und auch die Protagonisten im Buch versuchen zumindest, die Rückschläge nicht allzu schwer zu nehmen und weiter ihr Leben zu leben. Und auch Felix Grün, der dem Konzentrationslager entkommen und ein gebrochener Mann ist, will sich nicht allzu sehr bedauern lassen. Und dann gibt es da auch immer wieder kleine Lichtblicke, wenn die beiden Schulkameraden Rosenthal und Böhni, der eine Jude, der andere Anhänger einer rechten Organisation, gemeinsam in Schwierigkeiten geraten und dann jeder die Schuld auf sich nimmt, um den anderen zu schützen und das erst noch unabhängig voneinander.
    Abstriche gibt es praktisch keine, einzig die recht verzweigten Familienverhältnisse sind manchmal schwer durchschaubar. Um den Überblick zu wahren, gibt es einen kleinen Stammbaum hinten im Buch. Der Nachteil davon ist, dass man daraus entnehmen kann, wer wen heiratet und wie viele Kinder hat, was so manche schöne Überraschung beim Lesen zerstört.


    Fazit: «Melnitz» ist eines von diesen schönen Büchern, in die man richtig versinken kann. Und schon nach wenigen Seiten kennt man die Protagonisten so gut, dass es jedesmal wie ein Treffen mit alten Freunden ist, wenn man das Buch aufschlägt und einige Kapitel weiterliest.


    Dafür gibt es


    4ratten und :marypipeshalbeprivatmaus:

    Wer anderen folgt, wird nie zuerst ankommen.

  • Ich habe Melnitz vor ein paar Monaten auch gelesen und kann Alfa Romeas Ausführungen nur bestätigen.
    Das einzige was mich immer wieder etwas irritiert hat, ist der Namensgeber des Buches, Onkel Melnitz, zur Zeit der Handlung bereits verstorben, der sich immer wieder aus dem "Off" in das Familengeschehen einmischt.

    Liebe Grüße

    SheRaven

  • Ich beschäftige mich auch beruflich mit der jüdischen Geschichte und habe deswegen schon sehr viele Bücher von und über Juden gelesen. Für mich war es das "jüdischste" Buch, das ich je in Händen hatte. Außerdem erfrischend frei von Anklagen, Selbstmitleid (so angebracht all dies häufig ist!!), frei von Exotik und erhobenem Zeigefinger. Sondern einfach die Geschichte einer Familie, die eben jüdisch ist.


    Das einzige was mich immer wieder etwas irritiert hat, ist der Namensgeber des Buches, Onkel Melnitz, zur Zeit der Handlung bereits verstorben, der sich immer wieder aus dem "Off" in das Familengeschehen einmischt.


    Damit hatte ich mich auch ein wenig geplagt. Doch mir scheint, Melnitz ist so etwas wie ein Gewissen, gepaart mit "altem Wissen" (der ewige Jude), der, der den anderen zuflüstert: die Geschichte zeigts, es wird anders sein, als Du glaubst....!
    Grüße, Hittl

    Die Ironie ist die Kaktuspflanze, die über dem Grab unserer toten Illusionen wuchert.

  • Hallo zusammen!


    Ich habe die ersten so rund 50 Seiten gelesen. Und dann ein bisschen herumgeblättert. Wenn Hittl sagt:


    Für mich war es das "jüdischste" Buch, das ich je in Händen hatte. Außerdem erfrischend frei von Anklagen, Selbstmitleid (so angebracht all dies häufig ist!!), frei von Exotik und erhobenem Zeigefinger. Sondern einfach die Geschichte einer Familie, die eben jüdisch ist.


    so könnte ich wohl vielem zustimmen. Das "jüdischste" Buch - ja; allerdings in meinen Augen gerade zu Beginn keineswegs frei von Exotik. Im Gegenteil: Der Autor bewirft uns hier mit allen, aber wirklich allen möglichen jüdischen Bräuchen und jiddischen Ausdrücken, um das Leben der Endinger Juden so exotisch wie möglich darzustellen.


    Ich kenne die Gegend, in der diese Geschichte handelt, relativ gut. Und eigentlich lese ich solche "Heimatromane" nicht ungern. Hier allerdings finde ich den Draht zum Text nicht. Lewinskys Sprache ist mir eine Spur zu "normal". Zu sehr der bemühte Sekundarlehrer, der in seiner Freizeit ein Buch über seine Familie schreibt ...


    Zum Glück ist das Buch nur ausgeliehen. Jetzt muss ich noch einen Karton suchen gehen ...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Ausgangspunkt ist eine kleine Schweizer Stadt im Jahre 1871. Der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich geht dem Ende entgegen, und die kleine jüdische Familie Meijer lebt davon weitgehend unberührt ihr beschauliches Leben im Städtchen, geprägt von den Traditionen ihres Glaubens und den gegensätzlichen Mädchen im Haushalt, der modebewussten, eleganten Miriam, Mimi genannt, und der eher praktisch veranlagten Hanna, die überall nur als Chanele bekannt ist.


    Eines Abends taucht jedoch ein junger Mann auf, einen blutigen Verband um den Kopf, und stellt sich als Janki Meijer vor, einen entfernten Verwandten, der auf französischer Seite gekämpft und sich nun in die Schweiz durchgeschlagen hat. Freundlich, aber auch ein wenig skeptisch wird er von der Familie aufgenommen und beschließt, auf Basis seiner Erfahrungen als Assistent eines berühmten Pariser Schneiders ein Modegeschäft zu eröffnen ...


    Dies ist der Beginn einer breit angelegten Familiengeschichte, in der man Kitsch und Schmalz zum Glück vergeblich sucht, ein detailreiches und farbenprächtiges Gemälde. Mit Herz und Humor beschreibt Charles Lewinsky das Leben einer jüdischen Familie zwischen 1871 und 1945, Liebe und Leid, Intrigen und Zusammenhalt, Integration und Anfeindungen, Geschäftsleben und religiöses Brauchtum, Tragisches und Komisches.


    Zahlreiche jiddische und auch einige schweizerische Ausdrücke tragen zur Authentizität bei, die jiddischen Wörter und Redewendungen sind in einem umfangreichen und interessanten Glossar erläutert.


    Die vielen Meijers, die man im Laufe des Buches kennenlernt, sind Menschen wie du und ich, mitten aus dem Leben gegriffene Figuren, sehr lebendig und glaubwürdig, als könnten sie einem auf der Straße begegnen, wenn man eine Zeitreise unternähme.


    Ein rundum gelungener Wälzer, der die Ereignisse der Zeitgeschichte wunderbar mit der Chronik der Familie Meijer verwebt. Selbst die Sprache ist ein Genuss, wort- und bildreich und oft mit einem kleinen ironischen Augenzwinkern.


    4ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Ausgangspunkt ist eine kleine Schweizer Stadt im Jahre 1871.


    Wenn mich meine Erinnerung an das Buch nicht täuscht, spielt tatsächlich ein Teil der Geschichte in Baden, ja. Vieles von dem, was Du erwähnst spielt sich allerdings in Endigen ab. Das ist ein kleines Dorf und liegt gar nicht so weit weg - ist aber insofern bedeutsam, als dass es eines der wenigen sog. "Judendörfer" war, die in der Schweiz existierten. Sprich: Dort waren die Juden nicht nur geduldet, sondern auch lange praktisch nur unter sich. Erst im 20. Jahrhundert begannen die Christen das Dorf im grossen Stil zu infiltrieren. Jetzt sind sie in der riesigen Überzahl, aber noch heute gibt es dort eine aktiv bespielte Synagoge, ein jüdisches Altersheim und einen jüdischen Friedhof.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Interessant, danke!


    Als Nicht-Schweizerin habe ich mir Endingen als Städtchen vorgestellt. So kann man sich irren ;)

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen