Joseph Conrad: Das Ende vom Lied

Es gibt 3 Antworten in diesem Thema, welches 5.074 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Breña.

  • Hallo,


    Im Rahmen meiner Leseweltreise war ich an der Küste Malaysias unterwegs:
    Joseph Conrad: Das Ende vom Lied

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    Zum Inhalt:


    Die Novelle erschien 1902 und spielt im malaischen Inselarchipel mit nicht genau verifizierbaren Ortsangaben irgendwo an der Malakkastraße. Der alt gewordene und durch einen Bankenzusammenbruch - wie aktuell ;) – verarmte Kapitän Whalley muss noch einmal ein Kommando auf einem alten Küstendampfer annehmen, um sein ebenfalls verarmte Tochter in Australien unterstützen zu können. Die „Sofala“ gehört dem verbitterten Maschinisten Massy, der sie sich von einem Losgewinn kaufen konnte, aber durch seine weiter anhaltende Spielsucht auf keinen grünen Zweig kommt und deshalb gezwungen ist, Whalley durch eine kleine Teilhaberschaft an Bord zu dulden. Der misanthrophe Massy beschuldigt alle Menschen außer sich selbst, an seiner finanziellen Misere schuld zu sein, besonders natürlich sein Schiffspersonal, das ihm nichts recht machen kann.



    Meine Meinung:


    Eine typisches Conrad-Werk! Wunderbare, geradezu magische Natur- und Stimmungsbeschreibungen, Menschen im Konfliktfeld unterschiedlicher Ehr- und Egoismusforderungen, eine Portion überhöhter Heroismus: So sehr ich das Erstere genieße, so fragwürdig kommt mir das Letztere manchmal vor, wobei ich Kapitän Whalley und die offensichtliche Liebe des Autors zu dieser Figur sehr viel besser akzeptieren kann als die problematische Schilderung des Kurtz in „Herz der Finsternis“. Die Atmosphäre der tropischen Küsten- und Flusslandschaft ist aber so unnachahmlich eingefangen, das ich auch weiterhin Conrads Prosa lesen werde, auch wenn mir die Figurenzeichnung nicht immer gefällt.



    HG
    finsbury

    Einmal editiert, zuletzt von finsbury ()

  • Kapitän Whalley, der durch einen Bankencrash sein Vermögen verloren hat, muss sein Schiff verkaufen, um seine Tochter in Australien unterstützen zu können. Um selbst über die Runden zu kommen, beteiligt er sich mit seinen letzten Mitteln an einem Dampfer, der einmal im Monat die Handelsroute flußaufwärt befährt, und übernimmt das Kommando. Der erste Maschinist Massy ist zugleich Eigner und ein außerordentlich streitsüchtiger Mensch, dem es niemand recht machen kann und der ständig andere für seine Schwierigkeiten verantwortlich macht. Hinzu kommt der erste Offizier Sterne, der mit seiner aalglatten Art nur seine eigenen Ziele verfolgt. Beide sind von ganz anderem Schlag als der in sich ruhende Kapitän, der auf eine erfolgreiche Karriere zurückblicken kann und sich durch die ein oder andere Entdeckung verdient gemacht hat. Doch seine Zeit ist gemeinsam mit der der Segelschifffahrt vorbei und er sticht zwischen all den zwielichtigen Gestalten, die in "Ostindien" ihr Glück suchen, deutlich heraus.


    Die Handlung umfasst etwa drei Jahre, ist aber immer wieder angereichert durch Rückblicke, um die Lebensgeschichte der Handelnden zu beleuchten. Das Erzähltempo ist ruhig, Conrad lässt der Geschichte Zeit, sich zu entfalten. Und vor allem lebt die Erzählung von den Personen, weniger von der Handlung. Conrad beherrscht es meisterhaft, seine Protagonisten zu charakterisieren und dem Leser einen Blick in ihr Inneres zu erlauben. Oft reichen ihm wenige Worte, um komplexe Hintergründe zu umreißen und Charakterzüge darzustellen. Die Handlungen der Protagonisten sind aus ihrer Charakterisierung heraus nachvollziehbar, ich hatte immer den Eindruck, dass die Person gar nicht anders gekonnt hätte als genau so zu handeln. Auch (moralisch) fragwürdige Handlungen bekommen so eine innere Notwendigkeit und tragen wiederum zur komplexen Darstellung bei.


    Ähnlich mühelos wie Personen beschreibt Conrad die Umgebung und lässt Atmosphäre entstehen, er wusste mit Sprache umzugehen. Die grundsätzliche Stimmung ist melancholisch und geprägt von persönlichen Konflikten, wird aber auch vom sprichwörtlichen Silberstreif am Horizont begleitet. Besonders deutlich wird das bei Kapitän Whalley, mit dem Conrad anscheinend den Seeleuten des alten Schlags ein Denkmal gesetzt hat: er bewahrt sich seinen Stolz, auch wenn die Zeit ihn zu überholen scheint, und gibt sich selbst Kraft und Hoffnung. Im Gegensatz dazu folgt auch der erste Offizier Sterne seiner Hoffnung auf einen Karrieresprung, auch wenn er sich dazu ganz anderer Moralvorstellungen bedient. Selbst der pessimistische Maschinist Massy erlebt hoffnungsvolle Momente.


    4ratten


    Übrigens finde ich es schade, dass im ersten Beitrag die gesamte Handlung bereits verraten wird. Auch wenn sich manches dem aufmerksamen Leser schon ankündigt, bevor es passiert, sollte man der von Conrad vorgesehenen Spannungskurve eine Chance geben. ;) Finsbury, vielleicht kannst Du nachträglich einen Teil der Inhaltsangabe verspoilern?


    Viele Grüße
    Breña


    P.s. Gelesen habe ich die Ausgabe aus der Fischer Klassik-Reihe in der Übersetzung von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. Eine kurze Anmerkung zur ebenfalls enthaltenen Erzählung Jugend gibt es im Monatsrundenthread.


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    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges

    Einmal editiert, zuletzt von Breña ()

  • Hallo Breña,


    habe deinem Wunsch entsprochen (erst jetzt, weil ich in diesem Forum nicht so häufig unterwegs bin).
    Meist halte ich mich im Klassikerforum auf, und da sind die meisten der Meinung, dass man die Klassiker weniger wegen der inhaltlichen Spannung, als wegen des Gehalts und der Gestaltung liest sowie oft den Inhalt schon aus der Sekundärliteratur kennt.
    Aber ich will mich natürlich gerne den Lesegewohnheiten dieses Forums fügen.


    finsbury

  • Vielen Dank, finsbury!


    Ich finde es schade, wenn man Klassiker "nur" auf Sprache oder Gehalt reduziert. Die Handlung ist ein unerlässlicher Teil der Komposition, den ich genauso entdecken möchte wie Stil oder Charaktere. Im speziellen Fall von Das Ende vom Lied tritt die Handlung gegenüber den Protagonisten zwar in den Hintergrund, aber Conrad verschiebt die Gewichtung gegen Ende - und hat sich damit bestimmt einen Effekt beim Leser erhofft.


    Zwar gehöre ich zu den Lesern, die vor der Lektüre Sekundärliteratur zu einem Werk meiden, um nicht gespoilert zu werden, aber ich kann mit Spoilern leben. Allerdings weiß ich, dass es hier manche Nutzer gibt, die sehr viel empfindlicher auf Spoiler reagieren als ich. Und denen hast Du garantiert einen Gefallen getan.


    Viele Grüße
    Breña

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