Milan Kundera - Die Unsterblichkeit

Es gibt 14 Antworten in diesem Thema, welches 7.261 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Breña.

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    Der Klappentext sagt:
    In einem Fitness-Club über den Dächern von Paris sitzt Milan Kundera, Autor und Figur der 'Unsterblichkeit', und beobachtet, wie eine etwa sechzigjährige Frau Schwimmstunden nimmt. Zum Abschied winkt sie dem Schwimmlehrer noch einmal zu und macht dabei eine so graziöse Handbewegung, dass der Betrachter beschließt, diese Geste, die die ganze unerträgliche Leichtigkeit des Seins zu enthalten scheint, der Heldin seines Romans, Agnes, zum Geschenk zu machen.
    Als würden auch wir auf diese Weise in den Roman gewunken: zu Agnes, der scheinbar Ätherischen, die ein erotisches Doppelleben führt; zu Laura, ihrer ein bisschen sentimentalen Schwester, die mit dem Journalisten Bernard nicht glücklich werden darf, weil dessen Geschwätz im Radio den Autor jeden Morgen zum Wahnsinn treibt; und zu Paul, der - auf seine Weise - bei den Schwestern seine Spuren hinterlässt. Darüber unterhalten sich auf höherer Ebene, im Jenseits: Goethe (in Pantoffeln, mit einer Sonnenblende am Stirnband) und Hemingway.


    Da sich außer Breña und mir leider niemand für die Leserunde angemeldet hat, eröffne ich hier mal ein Thema und poste lesebegleitend einige Eindrücke. Breña, ich hoffe, du findest hierher und hast auch noch Lust und Zeit mitzulesen. :winken:


    Den ersten Teil (etwa 60 von 400 Seiten) habe ich gerade beendet und fand ihn interessant, aber nicht ganz unanstrengend. Die Idee, eine Geste zum Ausgangspunkt eines Romans zu machen, gefällt mir, der Philosophie des Erzählers, Gesten seien individueller als Menschen, mag ich allerdings nicht folgen. Überhaupt scheint Individualität bisher das Hauptthema zu sein - das des Erzählers und das seiner Figur Agnes. Agnes' Vater vertritt eine seltsame Form des Deismus: Der Schöpfer hat ein Programm eingelegt, das jetzt unaufhaltsam abläuft; er hat den 'Prototyp' des Menschen entworfen, spezielle Eigenheiten sind dabei nicht vorgesehen. Die Menschen müssen ihre Identität konstruieren - oft mit recht plumpen Mitteln, wie die Beispiele der Menschen, denen Agnes begegnet, zeigen. Zwei Motive sind mit diesem Thema eng verknüpft: das Gesicht, das die Menschen fälschlich für den Ausdruck ihres Ich, ihrer Individualität halten, und das Beobachtetwerden, z. B. durch ein Kameraobjektiv.


    Wie nicht anders zu erwarten, ist es schwierig, mit einer Figur warmzuwerden, die dieses Selbst- und Menschenbild verficht. Vermutlich ist das auch nicht beabsichtigt. Agnes wird ja deutlich als Konstrukt des Erzählers vorgestellt (ihn so restlos mit Kundera identifizieren, wie das der Klappentext tut, möchte ich dann doch nicht) und wirkt vielleicht als eine Art alter ego oder ein 'Möglichkeitsentwurf' von ihm. Selbst die Radiomeldung, die der Erzähler eingangs zwischen Schlafen und Wachen hört - eine sehr schöne Beschreibung übrigens - wird in Agnes' Person weiterverarbeitet und in ihr Weltbild eingearbeitet.


    Goethe, der für mich der Anlass war, dieses Buch lesen zu wollen, taucht im ersten Teil durch sein Gedicht "Ein Gleiches" auf, das Agnes und ihr Vater immer wieder gemeinsam zitieren und das die beiden miteinander verbindet. (Ein wunderschönes Gedicht, wie ich finde, aber inzwischen muss ich dabei immer an dieses irrwitzig komische Zitat in Kehlmanns "Vermessung der Welt" denken. :rollen:)


  • Breña, ich hoffe, du findest hierher und hast auch noch Lust und Zeit mitzulesen. :winken:


    Natürlich habe ich den Weg hierher gefunden, und natürlich lese ich gerne mit. :zwinker:
    Leider habe ich noch nicht genug Leseeindrücke für einen sinnvollen Eintrag, also später mehr von mir.


    Viele Grüße
    Breña

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges

  • Hallo ink-heart,
    endlich habe ich Zeit um meine ersten Eindrücke zu posten. Ich hatte vermutet, dass Du inzwischen deutlich weiter bist, also vielen Dank falls Du Dich zurückhälst! :zwinker:


    Gelesen habe ich bisher ebenfalls den mit Das Gesicht überschriebenen ersten Teil und durfte feststellen, dass Kundera von seinen Leser ungeteilte Aufmerksamkeit einfordert. (Übrigens bin ich nicht vorbelastet, Die Unsterblichkeit ist mein erstes Buch von ihm.) Das gefällt mir, macht dieses Buch aber nicht zur "Überall-Lektüre" oder wie Du sagtest: unanstrengend. Teilweise hatte ich das Gefühl, Kundera verarbeitet Ideen für Essays zu dem Oberthema Individualität.



    Die Idee, eine Geste zum Ausgangspunkt eines Romans zu machen, gefällt mir, der Philosophie des Erzählers, Gesten seien individueller als Menschen, mag ich allerdings nicht folgen.


    Da geht es mir anders, ich kann dieser Theorie nämlich sehr viel abgewinnen. Natürlich gibt es Gesten, die untrennbar mit einer bestimmten Person verbunden sind und mit viel Individualität ausgeführt werden. Im Ganzen lassen sich diese Gesten aber immer wieder auf eine Geste zurückverfolgen. So gesehen nutzt eine Person also eine allgemeingültige Geste und individalisiert sie. Das Zurückgreifen auf eine Ursprungsgeste fällt nicht so stark auf, wenn diese Geste wie die im Buch benutzte Handbewegung sehr viel seltener zu beobachten ist als z.B. ein Kopfschütteln, konsequent zurückverfolgt bleibt aber auch dort "nur" die Geste des Winkens. Der Mensch ist also nie Schöpfer der Geste sondern nur Vermittler (nach Kundera "Träger" oder "Verkörperung").



    Agnes' Vater vertritt eine seltsame Form des Deismus: Der Schöpfer hat ein Programm eingelegt, das jetzt unaufhaltsam abläuft; er hat den 'Prototyp' des Menschen entworfen, spezielle Eigenheiten sind dabei nicht vorgesehen. Die Menschen müssen ihre Identität konstruieren - oft mit recht plumpen Mitteln, wie die Beispiele der Menschen, denen Agnes begegnet, zeigen.


    Diesen Ansatz des "Computers des Schöpfers" finde ich recht pfiffig, Agnes Vater zieht sich elegant aus der Affäre. Er steht nicht vor der Problematik einen Beweis erbringen zu müssen, ob Gott tatsächlich existiert oder nicht, und dennoch erklärt er die auf der Welt herrschende Ungerechtigkeit und Gewalt durch die selbstständige Weiterentwicklung des Programms/ Prototyps.


    Interessant fand ich auch die Passage, in der Agnes Überlegungen zum Beobachtetwerden anstellt. Das allsehende Auge Gottes, das auch ihre Mutter noch als Erziehungsmethode benutzte, wurde ersetzt durch die Objektive der Kameras, die von der öffentlichen Neugier gesteuert werden. Eine deutliche Kritik an der heutigen Medienlandschaft, die verflochten wird mit der Fragestellung, wie individuell das Gesicht eines Menschen tatsächlich ist.
    Neben all diesen Beobachtungen zur Individualität wird besonders eins deutlich: Agnes mag die Menschen nicht. Egal ob in der Sauna oder auf der Straße, die Welt ist ihr zu voll, zu schnell und vor allem zu laut. Sogar durch ihren Mann und ihre Tochter fühlt sie sich bedrängt und träumt von einem einsamen Leben in der Schweiz. Ihre Freude am Alleinsein führt sie zu der Frage, ob die Liebe zu ihrem Mann echt sei oder nur durch pure Willenskraft besteht.
    Ja, alles in allem ist Agnes keine Protagonistin, mit der ich warm werden kann, auch da stimme ich Dir zu. Sie ist in erster Linie Trägerin der Weltanschauung, die der Erzähler (auch ich halte ihn nicht für Kundera selbst) transportieren möchte.



    Goethe, der für mich der Anlass war, dieses Buch lesen zu wollen, taucht im ersten Teil durch sein Gedicht "Ein Gleiches" auf, das Agnes und ihr Vater immer wieder gemeinsam zitieren und das die beiden miteinander verbindet.


    Hierbei hat mich vor allem erstaunt, wie naiv Agnes das Gedicht jahrelang verstanden hat...


    Viele Grüße
    Breña

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges

  • Hallo Breña! :smile:



    Ich hatte vermutet, dass Du inzwischen deutlich weiter bist, also vielen Dank falls Du Dich zurückhälst! :zwinker:


    Nur ein bisschen und aus reinem Selbstzweck - Monologe sind so langweilig. :zwinker:



    Teilweise hatte ich das Gefühl, Kundera verarbeitet Ideen für Essays zu dem Oberthema Individualität.


    Das sehe ich genauso. Wie berechtigt es ist, dieses Buch als Roman zu bezeichnen (was auf dem Umschlag geschieht), darüber könnte man sicherlich streiten. Eine echte Fiktion wird gar nicht aufgebaut, allenfalls eine Fiktion der Fiktion, und auf allen Erzählebenen geht es in erster Linie um die philosophischen Themen, vor allem eben die Individualität. Einerseits finde ich diesen Stil ganz faszinierend, wenn auch so anspruchsvoll, dass ich froh bin, im Moment noch ein wenig Muße zum Lesen zu haben, sonst hätte ich das Buch womöglich irgendwann frustriert weggelegt. Andererseits muss wohl auch die polemische Frage erlaubt sein, ob Kundera nicht in der Lage ist, seine Anliegen etwas weniger sachbuchmäßig und in eine 'echte' Erzählung integriert zu transportieren.



    Da geht es mir anders, ich kann dieser Theorie nämlich sehr viel abgewinnen. Natürlich gibt es Gesten, die untrennbar mit einer bestimmten Person verbunden sind und mit viel Individualität ausgeführt werden. Im Ganzen lassen sich diese Gesten aber immer wieder auf eine Geste zurückverfolgen. So gesehen nutzt eine Person also eine allgemeingültige Geste und individalisiert sie. Das Zurückgreifen auf eine Ursprungsgeste fällt nicht so stark auf, wenn diese Geste wie die im Buch benutzte Handbewegung sehr viel seltener zu beobachten ist als z.B. ein Kopfschütteln, konsequent zurückverfolgt bleibt aber auch dort "nur" die Geste des Winkens. Der Mensch ist also nie Schöpfer der Geste sondern nur Vermittler (nach Kundera "Träger" oder "Verkörperung").


    Na ja, so ganz logisch betrachtet muss ja wohl irgendein Mensch oder die Menschheit insgesamt diese Gesten 'geschaffen' oder erfunden haben. Klar gibt es ein begrenztes Repertoire (obwohl es genau wie das sprachliche immer größer wird, je differenzierter man es betrachtet), aber das macht diese Gesten ja nicht zu 'Individuen'. Wirklich individuell kann in meinen Augen nur etwas sein, das lebt und ein Bewusstsein hat. Wie du sagst: der Mensch individualisiert die Geste, d. h. er macht sie durch seine eigene Individualität zu etwas Besonderem, nicht umgekehrt (was der Erzähler allerdings behauptet).



    Hierbei hat mich vor allem erstaunt, wie naiv Agnes das Gedicht jahrelang verstanden hat...


    Das ging mir auch so. Vermutlich liegt es daran, dass sie dieses Gedicht in der Grundschule kennengelernt hat. Unglaublich! Dort kann man es wohl tatsächlich nicht anders vermitteln. Und wahrscheinlich hat derjenige, der die gloriose Idee hatte, dieses Gedicht dort auf den Lehrplan zu setzen, es auch nicht anders verstanden. :breitgrins:


    Der zweite Teil, Die Unsterblichkeit, setzt ein mit Bettina und Achim von Arnim, die bei den Goethes in Weimar zu Besuch sind. Der Streit zwischen den Frauen und die berühmte Ohrfeige, die Christiane der vermeintlichen Rivalin verpasst, werden geschildert. Für die fiese Bezeichnung, die Bettina hinterher für sie findet ("tollwütige dicke Blutwurst") und das folgende gesellschaftliche Gelächter wird erstmals der Begriff 'Unsterblichkeit' verwendet. Definiert wird Unsterblichkeit als Überdauern im Gedächtnis der Menschen - derer, die der Verstorbene gekannt hat ("kleine Unsterblichkeit"), oder derer, die ihn aufgrund seiner Berühmtheit aus zweiter Hand kennen ("große Unsterblichkeit"). Auch dabei geht es wieder um Selbstinszenierung und Konstruktion des Individuellen, die durch die Kamera oder andere Augenzeugen allerdings auch zerstört und ad absurdum geführt werden kann. Kundera findet dafür viele Beispiele, u. a. Goethes Begegnung mit Napoleon, mehrere Begegnungen zwischen ihm und Bettine und vor allem den berühmten Briefwechsel, in dem es nach Kunderas These nicht in erster Linie um Liebe, sondern eben um Unsterblichkeit ging.


    Das wenige, was ich bisher von und über Bettine gelesen habe, fand ich ganz erfrischend und bisher war sie mir immer eine eher sympathische Gestalt (wie viel auch immer solche Eindrücke mit der 'echten' Person zu tun haben mögen :zwinker:). Hier wirkt sie als berechnende oder zumindest von nicht völlig sympathischen Motiven getriebene Frau, die Goethes Unsterblichkeit gegen seinen Willen zu konstruieren versucht - und damit natürlich auch ihre eigene. Erst im Jenseits erringt Goethe seinen Sieg über sie, indem er sich durch seine absichtlich lächerliche Erscheinung selbst dekonstruiert und ihre Bemühungen so zunichte macht. - Ziemlich witzige Idee, finde ich.


    :winken:

  • Hallo ink-heart,


    endlich darf ich wieder pendeln und somit auch: in Ruhe lesen! :zwinker:


    Der zweite Teil behandelt also nun die titelgebende Unsterblichkeit, und zwar am Beispiel von Goethe und Bettina von Arnim. Nun ja. Ich hoffe, der große Mittelteil, der sich ja wieder verstärkt mit Agnes zu befassen scheint, wird mehr in Romanform geschrieben sein... Obwohl ich das Buch bisher nicht schlecht finde, fehlt mir etwas. Die Aneinanderreihung von Gedanken in den ersten beiden Teilen ist zwar interessant, aber nicht vollkommen rund.
    Die Art und Weise, wie Kundera den Begriff "Unsterblichkeit" einkreist und konkretisiert gefällt mir gut, auch dass er es am Beispiel der Beziehung von Goethe und Bettina durchspielt. Die fragmentarischen Stationen hätte ich mir aber etwas harmonischer verknüpft gewünscht, damit der Tonfall nicht ganz so trocken gerät. Sehr gut gefiel mir, dass auch hier Bezug auf das Kameraobjektiv als allgegenwärtige Öffentlichkeit genommen wird, dass es als "sein eigenes, nichtmaterialisiertes Wesen" (S. 70) schon immer existierte.
    Schade finde ich hingegen, dass Bettina hier so schlecht wegkommt. Andererseits gibt es für mich noch keine wirklich sympathische Figur im Buch, da ist es nur konsequent...



    Andererseits muss wohl auch die polemische Frage erlaubt sein, ob Kundera nicht in der Lage ist, seine Anliegen etwas weniger sachbuchmäßig und in eine 'echte' Erzählung integriert zu transportieren.


    :daumen:



    Na ja, so ganz logisch betrachtet muss ja wohl irgendein Mensch oder die Menschheit insgesamt diese Gesten 'geschaffen' oder erfunden haben. Klar gibt es ein begrenztes Repertoire (obwohl es genau wie das sprachliche immer größer wird, je differenzierter man es betrachtet), aber das macht diese Gesten ja nicht zu 'Individuen'. Wirklich individuell kann in meinen Augen nur etwas sein, das lebt und ein Bewusstsein hat. Wie du sagst: der Mensch individualisiert die Geste, d. h. er macht sie durch seine eigene Individualität zu etwas Besonderem, nicht umgekehrt (was der Erzähler allerdings behauptet).


    Das verknotet mir das Hirn um diese Zeit. :zwinker: Du hast Recht damit, dass jede Geste irgendwann von einem Menschen geschaffen worden ist, als dieser sie zum ersten Mal ausführte. Kundera gebe ich insofern Recht, dass sich die Geste danach verselbstständigte und nun in ihrer Ausführung durch die Menschen transportiert wird.


    Erstmal so viel von mir, vielleicht fällt mir morgen noch eine kluge Ergänzung ein. :zwinker:


    Viele Grüße
    Breña

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges

  • Huhu Breña!



    Ich hoffe, der große Mittelteil, der sich ja wieder verstärkt mit Agnes zu befassen scheint, wird mehr in Romanform geschrieben sein... Obwohl ich das Buch bisher nicht schlecht finde, fehlt mir etwas. Die Aneinanderreihung von Gedanken in den ersten beiden Teilen ist zwar interessant, aber nicht vollkommen rund.


    Das kann ich gut nachvollziehen, da ich aber schon ein wenig weiter gelesen habe, muss ich deine Romanhoffnungen leider zerstören. Zwar beschäftigen sich einige etwas längere Teile mit Agnes, aber nie ohne die allfälligen philosophischen Reflexionen und Durchbrechungen der Fiktion. Kundera verlangt eine Menge rationales Engagement von seinen Lesern und versagt ihnen sehr weitgehend das emotionale - da muss man sich erstmal dran gewöhnen. Ich bin wirklich froh darüber, mit dir gemeinsam zu lesen; das macht es mir bedeutend interessanter. :smile:



    Sehr gut gefiel mir, dass auch hier Bezug auf das Kameraobjektiv als allgegenwärtige Öffentlichkeit genommen wird, dass es als "sein eigenes, nichtmaterialisiertes Wesen" (S. 70) schon immer existierte.


    Jo; das ist eine von diesen Beobachtungen, die zwar nicht ganz neu sind, aber schön formuliert und wichtig genug, um immer nochmal drüber nachzudenken.



    Kundera gebe ich insofern Recht, dass sich die Geste danach verselbstständigte und nun in ihrer Ausführung durch die Menschen transportiert wird.


    Tsts. :zwinker: Wie kann sich denn etwas verselbstständigen, was gar nicht lebt? Das geht doch höchstens als witzige Metapher, wenn ich zum Beispiel behaupte, die Toastscheibe, die mir zum dritten Mal vom Teller fällt, habe sich verselbstständigt. Romanunabhängig betrachtet benutzen zwar viele Menschen die gleichen Gesten (nicht dieselben, wie ich finde), aber je nach Situation, Gegenüber, Benutzer etc. gibt es doch immer Bedeutungs- und Wirkungsunterschiede. Das, was Kundera erfindet (!) - eine Geste, die bei allen Frauen, die sie benutzen, genau dieselbe Wirkung hat - ist doch ziemlich unrealistisch.


    Der dritte Teil ist der längste dieses Buches und anders als in den anderen Teilen haben die Kapitel hier auch Titel statt der Nummern.


    Nett ist es, wie die einzelnen Elemente der Handlung miteinander verknüpft werden und wie durch kleine Anspielungen Fäden gesponnen werden. Alles, was der Erzähler morgens halbbewusst im Radio hört, scheint in der Agnes-Handlung Bedeutung zu gewinnen. So ist der Abgeordnete Bertrand Bertrand, dem die Radiosender fast einen kompletten Morgen widmen, der Vater des neuen Freundes von Laura, Agnes' Schwester. Der Freund selbst, Bernard Bertrand, ist Radiosprecher und dem Erzähler ebenfalls schon häufiger in den Morgenstunden 'begegnet'.


    Auch zur Goethe-Handlung gibt es (neben den ständigen Philosophien über Individualität und Unsterblichkeit natürlich) kleine Verbindungen: "Voilá un homme", sagt Napoleon, als er Goethe kennenlernt, und denkt Laura, als sie Paul, ihrem zukünftigen Schwager, vorgestellt wird, den sie von nun an heimlich liebt. Über den Journalismus gibt es einen Bezug zu Hemingway, der sich im Jenseits mit Goethe angefreundet hat.


    Wieder verbindet eine Geste die Figuren über die Jahrhunderte: Bettinas "Geste der Unsterblichkeit" fliegt wie aus dem Nichts Laura an und verrät ihren stärksten Antrieb. Schön übrigens die Formulierung über Laura: Sie litt unter geistiger Weitsichtigkeit: Die barmherzigen Werke, die ihr die Unsterblichkeit sichern sollen, haben eine weit entfernte afrikanische Bevölkerung zum Ziel, während sie das Elend vor ihrer Nase übersieht. Und auch Agnes' Bemerkung über die Selbstmordpläne ihrer Schwester ist erhellend: Wenn sie es täte, dann nicht, um zu verschwinden, sondern, um zu bleiben - im Gedächtnis der anderen.


    Die Ausführungen über die Abhängigkeit der Politiker von den Journalisten, der Journalisten von Werbefachleuten und Imagologen haben mich ein wenig gelangweilt - what's new? Ganz nett und treffend formuliert (wenn auch ebenfalls nicht neu) ist allenfalls das Bonmot des Grizzly: Nichts verlangt nämlich eine größere Anstrengung des Denkens als die Argumentation, die die Herrschaft des Nicht-Denkens rechtfertigt.


    Die Figuren sind nach wie vor allesamt schwer zu ertragen und dienen natürlich der Philosophie des Romans: Jede Beziehung, jedes Gefühl einem anderen gegenüber hat eine bestimmte (wenn auch nicht unbedingt bewusste) Zielrichtung: Es dient der Konstruktion des eigenen Ich. Nun ist das natürlich eine nicht völlig abwegige Deutung des Menschen und seiner Beziehungen, eine, die die Mehrzahl der gegenwärtigen Hirnforscher wahrscheinlich unterschreiben würde. Aber selbst vorausgesetzt, es wäre so (was ich nicht glaube): Wie hilfreich wäre diese Erkenntnis denn dann? Bei den Figuren des Romans, die zur Erkenntnis gelangen, führt das zur Scheu vor den Menschen, zur Flucht, zum Wunsch nach Alleinsein und Sich-Auflösen. Okay: Vielleicht stimmt es - aber ich will's nicht wissen; mir gefällt es anders besser. :zwinker:


    Liebe Grüße


    ink-heart

  • Hallo ink-heart,


    ich habe bisher die ersten fünf Unterkapitel des dritten Teils gelesen, also nicht ganz so viel wie Du, und beziehe mich deswegen nur auf Teile deines Postings.
    Zum Aufwärmen schon mal einen herzlichen Dank für die Zerstörung meiner Illusionen - ich hätte bestimmt noch die nächsten 100 Seiten gehoffe, dass Kundera uns irgendwann eine Romanhandlung gönnt. :zwinker: Heute musste ich feststellen, dass ich im Zug lieber aus dem Fenster starrte, weil ich seinen Überlegungen einfach nicht folgen konnte. Morgen lese ich wieder motivierter, versprochen! *hüstel*



    Ich bin wirklich froh darüber, mit dir gemeinsam zu lesen; das macht es mir bedeutend interessanter. :smile:


    Allein wäre ich wohl nicht auf die Idee gekommen dieses Buch zu lesen, ich bereue es nun aber ganz und gar nicht, allein dieser Diskussionen wegen. :breitgrins:



    Tsts. :zwinker: Wie kann sich denn etwas verselbstständigen, was gar nicht lebt? Das geht doch höchstens als witzige Metapher, wenn ich zum Beispiel behaupte, die Toastscheibe, die mir zum dritten Mal vom Teller fällt, habe sich verselbstständigt. Romanunabhängig betrachtet benutzen zwar viele Menschen die gleichen Gesten (nicht dieselben, wie ich finde), aber je nach Situation, Gegenüber, Benutzer etc. gibt es doch immer Bedeutungs- und Wirkungsunterschiede. Das, was Kundera erfindet (!) - eine Geste, die bei allen Frauen, die sie benutzen, genau dieselbe Wirkung hat - ist doch ziemlich unrealistisch.


    Oha, du linguistische Pfennigfuchserin! :zunge: Ich bin schon der Meinung, dass es einen Gestenkanon gibt: Kopfnicken oder -schütteln, Winken, eine Faust ballen - in unserem Kulturkreis werden Gesten sofort mit ihren jeweiligen Bedeutungen verknüpft, auch wenn sie individuell ausgeführt werden. Natürlich gibt es wiederum Abstufungen, aber diese lernt man ebenso wie die Nuancen der Muttersprache. Ich mache mal einen kurzen Schlenker: ich studiere Kunstgeschichte, wobei mir zwangsweise sehr viele Gesten unterkommen. Leider fällt mir partout kein passendes Beispiel ein (wenn man's mal braucht...), aber Gesten ziehen sich durch verschiedene Regionen, Epochen und Kunstformen ohne sich in ihrer Bedeutung zu ändern. Darin liegt für mich die Individualität einer Geste und die Tatsache, dass die Menschen nur ihr Träger sind.
    Die von Kundera erdachte Geste wird zwar von verschiedenen Frauen übernommen, behält aber ihre Bedeutung bei: Unter'm Strich bleibt immer die Verabschiedung, und bei den Damen im richtigen Alter schwingt auch immer etwas Verheißung mit. Laura ist einfach noch zu jung um die subtileren Töne dieser Geste zu vermitteln, und die Dame im Schwimmbad ist wiederum zu alt und sorgt beim Bademeister eher für Belustigung. Es gibt also sehr wohl Unterschiede in der Wirkung, die daraus resultieren, dass Geste/ Bedeutung und Träger nicht immer zueinander passen. Ich hoffe, das ist einigermaßen verständlich formuliert...



    Nett ist es, wie die einzelnen Elemente der Handlung miteinander verknüpft werden und wie durch kleine Anspielungen Fäden gesponnen werden. Alles, was der Erzähler morgens halbbewusst im Radio hört, scheint in der Agnes-Handlung Bedeutung zu gewinnen. [...] Auch zur Goethe-Handlung gibt es (neben den ständigen Philosophien über Individualität und Unsterblichkeit natürlich) kleine Verbindungen


    Mir macht es auch Spaß diesen Verknüpfungen nachzupüren und macht für mich auch den größten Reiz aus. Denn genau das unterscheidet den Text von einer losen Essay-Sammlung. :zwinker:


    Viele Grüße
    Breña

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges


  • Oha, du linguistische Pfennigfuchserin! :zunge:


    :redface:
    Aber ich denke, es sind tatsächlich in der Hauptsache Definitionen, die uns da trennen. Ich mag Begriffe wie Individualität, Identität und manchmal sogar Selbstständigkeit sehr ungern auf Nicht-Menschliches anwenden. Einen Gestenkanon gibt es natürlich, aber der ist eben auch durch Menschen geschaffen und wie du sagst auch sehr kulturkreisabhängig. Und in der Art, wie jemand eine Geste, eine Redewendung oder ein Wort verwendet, lässt sich doch eine Menge über den individuellen Menschen erkennen - nicht über die 'individuelle' Geste, die es nämlich nur als gedachtes Ideal (oder als Prototypen :zwinker:) gibt.


    Ich bin inzwischen auch mit dem nächsten Kapitel fertig, warte aber lieber noch ein bisschen auf dich - da ich hier dick vergrippt und mit jeder Menge Watte im Kopf sitze, ist das bestimmt auch besser so ...


    Liebe Grüße


    ink-heart

  • :redface:
    Aber ich denke, es sind tatsächlich in der Hauptsache Definitionen, die uns da trennen. Ich mag Begriffe wie Individualität, Identität und manchmal sogar Selbstständigkeit sehr ungern auf Nicht-Menschliches anwenden. Einen Gestenkanon gibt es natürlich, aber der ist eben auch durch Menschen geschaffen und wie du sagst auch sehr kulturkreisabhängig. Und in der Art, wie jemand eine Geste, eine Redewendung oder ein Wort verwendet, lässt sich doch eine Menge über den individuellen Menschen erkennen - nicht über die 'individuelle' Geste, die es nämlich nur als gedachtes Ideal (oder als Prototypen :zwinker:) gibt.


    Jaaa... Definitionen. :rollen: Im Wesentlich bin ich auf Deiner Seite, allerdings halte ich es in diesem Fall wirklich am geeignetsten von der Individualität der Gesten zu sprechen. Ganz passend ist das auch nicht, aber andere Begriffe sind für mich noch viel unpassender, weil wichtige Aspekte ausgelassen werden. Natürlich ist jede Geste vom Menschen geschaffen, aber die Tatsache, dass manche Gesten "einfach da sind" kann man, finde ich, sehr schön dadurch ausdrücken, dass Menschen eben nur ihre Träger sind. Ich befürchte mit diesem Tanz um den heißen Brei bzw. die richtige Begrifflichkeit können wir Seiten füllen ohne zu einem Ergebnis zu gelangen...



    Ich bin inzwischen auch mit dem nächsten Kapitel fertig, warte aber lieber noch ein bisschen auf dich - da ich hier dick vergrippt und mit jeder Menge Watte im Kopf sitze, ist das bestimmt auch besser so ...


    Oje, dann werde bloß schnell wieder gesund!!
    Mich trennen noch ziemlich genau 22 Seiten vom Ende des Kapitels (und weitere 195 Seiten vom Ende des Buches, keine so schlechte Aussicht :zwinker:) und ich bin zuversichtlich, dass ich die heute noch schaffe. Allerdings ärgere ich mich gerade ganz arg über die werten Damen, besonders über Laura. Diese Art erst nicht über Dinge reden zu wollen und dann wilde Vermutungen anzustellen und damit todunglücklich zu sein ist absolut schrecklich! Und dann dieses Kokettieren mit Selbstmordgedanken, argh! :grmpf: Über ihre verkorkste Beziehung zu Bernard und die erotischen "Rettungsversuche" möchte ich auch nicht unbedingt mehr lesen... Dann doch lieber über Agnes und ihr eigenwilliges Weltbild. Kundera hat sowohl die beiden Schwestern als auch Bettina so unsympathisch dargestellt, dass ich nun neugierig bin, ob Frauen in seinen anderen Büchern auch so schlecht wegkommen.


    Immerhin wurde inzwischen klar, dass wir den Erzähler tatsächlich mit Kundera selbst gleichsetzten können, was die ganze Angelegenheit aber nicht unbedingt verbessert. Er scheint mit dem Niederschreiben dieser philosophischen Gedanken etwas für seine eigene Unsterblichkeit tun zu wollen, damit die Welt auch ja das richtige Bild von ihm in Erinnerung behält.


    Liebe Grüße
    Breña

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges


  • Allerdings ärgere ich mich gerade ganz arg über die werten Damen, besonders über Laura. Diese Art erst nicht über Dinge reden zu wollen und dann wilde Vermutungen anzustellen und damit todunglücklich zu sein ist absolut schrecklich! Und dann dieses Kokettieren mit Selbstmordgedanken, argh! :grmpf: Über ihre verkorkste Beziehung zu Bernard und die erotischen "Rettungsversuche" möchte ich auch nicht unbedingt mehr lesen... Dann doch lieber über Agnes und ihr eigenwilliges Weltbild. Kundera hat sowohl die beiden Schwestern als auch Bettina so unsympathisch dargestellt, dass ich nun neugierig bin, ob Frauen in seinen anderen Büchern auch so schlecht wegkommen.


    Ich finde bis auf wenige kurze Momente so ziemlich alle Charaktere ärgerlich und würde keinen von ihnen gerne im "real life" treffen - auch Paul und Bernard sind nicht gerade Sympathieträger. Aber das passt ja auch zu dem ziemlich negativen Menschenbild, das hier aufgebaut wird. Ausnahmen sind eigentlich nur Hemingway und vor allem Goethe - aber die sind ja auch jenseits von Gut und Böse. :zwinker:



    Immerhin wurde inzwischen klar, dass wir den Erzähler tatsächlich mit Kundera selbst gleichsetzten können, was die ganze Angelegenheit aber nicht unbedingt verbessert. Er scheint mit dem Niederschreiben dieser philosophischen Gedanken etwas für seine eigene Unsterblichkeit tun zu wollen, damit die Welt auch ja das richtige Bild von ihm in Erinnerung behält.


    Da würde ich dir insoweit folgen, als die Philosophie, die hier vermittelt wird, vermutlich tatsächlich Kunderas Überzeugungen entspricht - andernfalls würde der ganze Roman wenig Sinn machen. Erwähnt werden auch hin und wieder andere Werke Kunderas/des Erzählers oder (vage) Stationen seiner Biographie, die, soweit ich sehen kann, authentisch sind.


    Andererseits werden hier Fakten und Fiktionen auf allen Ebenen bunt und bis zur Unkenntlichkeit miteinander vermischt. Die Figuren und Vorfälle der "Geschichte" existieren ja auch "real" auf der Erzählerebene. Bernard Bertrand und sein Vater z. B. gehören beiden an. Und selbst wenn man das noch irgendwie erklären könnte: Was ist mit dem seltsamen Avenarius, einer Figur übrigens, über deren Funktion ich mir nicht so richtig im Klaren bin. Er ist ein Freund des Erzählers (wohl kaum Kunderas), hat aber auch eine Begegnung mit Laura, einer Figur der "Geschichte".


    Das vierte Kapitel heißt Der Homo sentimentalis. Goethe wird vor dem Ewigen Gericht mit den Aussagen dreier Zeugen - Rilkes, Rollands und Eluards - konfrontiert. Vor allem Rilkes Zitat aus dem Malte Laurids Brigge wird dafür verwendet nachzuweisen, dass die Liebe Bettines (ebenso wie die des 'homo sentimentalis', des zivilisierten Europäers im Allgemeinen) nicht auf ein bestimmtes Gegenüber gerichtet ist, sondern Liebe um der Liebe willen, ein Gefühl an sich und als solches von höchstem Wert ist. Etwas so Wertvolles muss im Prozess der Selbstkonstruktion natürlich auch nach außen demonstriert werden und verliert damit seine Unmittelbarkeit und Echtheit. Der 'homo sentimentalis' - so Kundera - ist ein Synonym für den 'homo hystericus'. Zwischen Laura und Bettine werden in diesem Zusammenhang immer mehr Parallelen erkennbar.


    Im hundertfünfundsechzigsten Jahr seines Todes scheint Goethe eine gewisse Altersweisheit erreicht zu haben. Er leugnet jetzt die Möglichkeit der Unsterblichkeit für Menschen und beschließt, den Zirkus nicht länger mitzumachen und sich ins Nichts zu begeben.


    :winken:

  • Hallo Breña,


    ich hoffe, du hast Kundera nicht inzwischen frustriert in die Ecke gepfeffert und lässt mich mit dem Schluss alleine. :zwinker:
    Ich mache einfach mal ein Stück weiter, damit ich den Faden nicht verliere.


    Das fünfte Kapitel heißt Der Zufall, und zwischendurch gibt es immer wieder ein paar Gedanken, die ich ganz erhellend und schön formuliert finde, z. B. die Straße als Entwertung des Raumes im Gegensatz zum Weg als Lob des Raumes.


    Kundera stellt in diesem Abschnitt einige poetologische Überlegungen an: Ein Roman darf sich nicht (nach)erzählen oder auf andere Art adaptieren lassen (na, das hat er geschafft), da bei einer solchen Umwandlung unweigerlich das Wesentliche auf der Strecke bliebe. Ironischerweise baut er gerade hier Spannung auf wie nirgends sonst im Roman (also relativ viel, verglichen mit Dan Brown & Co. aber ein Fliegenschiss), da er die Erzählung von Agnes' bereits angekündigtem Tod immer weiter hinauszögert.


    Gegruselt hat es mich bei der Erzählung vom Tod des Vaters, der in seinen letzten Augenblicken das Angesehenwerden verweigert und schon in den Jahren davor bemüht war, jede Spur, die er hinterlassen könnte, zu tilgen. In der Philosophie des Erzählers wirkt der Vater - der übrigens als relativ sympathische Figur gezeichnet ist - als jemand, der den Kampf um die Individualität durchschaut hat und verweigert; mir persönlich wird kalt, wenn ich mir so etwas vorstelle - so wie ja das ganze hier gezeichnete Universum letztlich kalt ist und Liebe immer nur als Illusion existiert.


    Liebe Grüße
    ink-heart

  • Im sechsten Kapitel, Das Zifferblatt, wird eine neue Figur eingeführt: Rubens, der allerdings bereits vom Erzähler angekündigt war: Ich freue mich schon riesig auf den sechsten Teil. Dort wird nämlich eine völlig neue Figur auftauchen. Und am Ende wieder so verschwinden, wie sie gekommen ist, ohne eine Spur zu hinterlassen. Sie ist die Ursache von nichts und hat keine Folgen. Und gerade das gefällt mir. Ruben (genannt Rubens) ist also das vergönnt, wonach Agnes und ihr Vater sich so sehr sehnen: folgenlose, spurlose Existenz.


    Ziemlich witzig fand ich die Stelle, als Ruben im Ehebett der Name seiner ehemaligen Geliebten entfährt und er versucht, die Situation zu entschärfen: Katrin! Elisabeth! Ja, du bist für mich alle Frauen! Die Frauen der ganzen Welt! Eva! Sandra! Julia! Du bist alle Frauen! Du bist die Frau in der Mehrzahl! Heidi, Hildegard, ... :lachen:


    Die Berührung der Brust, die zwischen Goethe und Bettine als erotischer Moment geschildert wird, taucht hier zwischen Ruben und einem jungen Mädchen in einem Nachtclub wieder auf. Er trifft diese Frau später wieder, und an deren Haltung (dem Himmel zugewandter Körper und der Erde zugewandter Kopf) kann man recht früh Agnes erkennen, wie auch an der Sonnenbrille. Das, was Agnes vermeiden wollte, ein Bild von sich zu hinterlassen (mit Willenskraft gelingt es ihr zu sterben, bevor Paul sie noch einmal sehen und ihr den ersehnten letzten Kuss geben kann), erweist sich hier als misslungen. Ruben bewahrt ein mentales erotisches Foto von ihr auf, in dem sie für alle Zeit gebannt ist. Auch schon bei ihren letzten Begegnungen sieht er in ihr eigentlich nur noch sein Bild von ihr und freut sich, dass sie ihm immer noch ähnlich ist.


    Der letzte Teil, Die Feier, bringt den Erzähler mit Avenarius und Paul im Schwimmbad zusammen, dem Ort der ersten, romanauslösenden Geste. Paul und Laura, die mitsamt der Geste ebenfalls erscheint, haben eine Tochter, Brigitte ist ebenfalls mit einer Tochter/Enkelin zu Paul zurückgekehrt, womit sich dieser trotz allem zur Schau getragenen Glücks deutlich überfordert fühlt.


    Im Rückblick - ich bin inzwischen schon eine Weile fertig mit dem Roman - bleibt mir am stärksten etwas in Erinnerung, was ich hier zwischendurch wohl gar nicht erwähnt habe: Gleich anfangs hört der Erzähler eine Radiomeldung: Eine junge Frau hat sich nachts auf die Landstraße gesetzt, mit dem Rücken zum Verkehr. Durch mehrere Ausweichmanöver gibt es Tote; die Frau verlässt den Platz unverletzt und unerkannt.


    Gegen Ende des Romans wird klar, dass Agnes eine der Toten ist, und auch die unbekannte Frau verfolgen wir ein Stück auf ihrem Weg, sehen ihre Verzweiflung und innere Leere, die in meinen Augen allerdings schwer 'nachvollziehbar' ist. Die Schicksalhaftigkeit und Unausweichlichkeit, die in diesem Ereignis liegt, hat mich trotzdem fasziniert und irgendwie getroffen.


    Im Schlussgespräch zwischen dem Erzähler und Avenarius (immer noch eine rätselhafte Figur für mich) wird deutlich: Weil nichts in der Welt wirklich wichtig ist, kann man nur mit ihr spielen - eine ziemlich postmoderne Auffassung. Wobei Kundera in meinen Augen kein "Spieler" ist: Spielerisch und im Austausch auf Augenhöhe mit dem Leser findet hier eigentlich nichts statt, wir werden eher belehrt, durchaus aber auch angeregt, noch einmal ganz andere Perspektiven von der Welt zu überdenken.

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  • So, dann versuche ich mal meine fragmentarischen Notizen und Erinnerungen zum Rest des Buches zu sammeln, bevor ich es komplett verdrängt habe. :zwinker: Du merkst, ich mochte das Buch nicht wirklich - unter angenehmer und anregender Lektüre stelle ich mir etwas anderes vor und ohne unsere kleine Diskussion hätte ich frühzeitig aufgegeben. Leider kann ich mit meinen "älteren" Notizen schon nicht mehr viel anfangen, weil ich sie meist nur schnell in mein Handy getickert habe (bzw. sie etwas wirr sind, ähem). :rollen: An vielen Stellen hätte ich das Buch fast wie eines für die Uni lesen wollen: mit Marker, Bleistift und Post-its. Im Endeffekt habe ich's aber doch nicht.


    S. 217: die Leidensfähigkeit der Tiere, die Paul angesichts einer Wiese auffächert, ist grandios und bedrückend beschrieben.
    S. 277: morbider Zufall - ist das der philosophische Ausdruck für "shit happens"?
    S. 283: "...hatte sie bei der überraschenden Feststellung [...], dass sie ihr ganzes Leben die gleiche Schwester haben würde, zum ersten Mal eine merkwürdige Müdigkeit verspürt. Sie konnte Freunde und Liebhaber wechseln, ...niemals aber würde sie die Schwester auswechseln können. Laura war eine Konstante ihres Lebens, was für Agnes um so ermüdender war, als ihre Beziehung von Kindheit an einem Wettlauf glich: Agnes lief vorn und die Schwester hinter ihr her." Ein neues Beispiel für die tiefschwarze Stimmung des Buches, aber auch ein ganz starker Moment meiner Ansicht nach.
    S. 289: Avenarius fragt den Autor, was dieser schreibe. Der Autor liefert keine Antwort, da ein gutes Buch nicht adaptierbar sein darf. An diese selbst aufgestellte Regel hat Kundera sich wunderbar gehalten...
    Die Sprünge zwischen den beiden Erzählsträngen um Avenarius und den Autor und dem des Selbstmordmädchens waren mal wieder nervig, die Beschreibung des Mädchens selbst mochte ich hingegen gern. Außerdem ist sie ein wunderbares Beispiel dafür, wie Kundera kleine Elemente wiederholt in die Erzählung einfließen läßt und, vor allem, wie diese Details von tragender Bedeutung werden können.
    Interessant fand ich außerdem Agnes' Gedanken dazu, dass Tote all ihre Menschenrecht verlieren, einschließlich des Rechts auf Persönlichkeit und Privatheit.
    S. 313: "Das, was am Leben unerträglich war, war nicht zu sein, sondern ein Ich zu sein."
    S. 410: Kundera schließt den Kreis und läßt Laura die Geste ausführen, die angeblich ausschlaggebend für die Entstehung des Romans war, von mehreren Frauen benutzt worden ist und grundlegend für seine Theorie zu Gesten ist. Fein.


    Insgesamt gefiel mir die negative Grundstimmung des Buches überhaupt nicht. Und auch die Mehrschichtigkeit des Textes, über die ich mir in anderen Büchern mit Vergnügen den Kopf zerbreche, hat mich eher kalt gelassen, weil ich zuviel Kraft darauf verwendet habe mich zu ärgern (oder zu langweilen). Dass die Figuren auf verschiedenen Eben miteinander agieren, neue Konstellationen entstehen, sich neue Blickwinkel auftun hat Kundera kunstvoll verwoben - aber ich kann es einfach nicht honorieren. Ich habe mich lediglich über jedes neue Puzzelteilchen gefreut, dass sich in die Figur von Agnes einfügte. Kannst du nachvollziehen, was ich meine? Ich glaube, ich war einfach übersättigt.



    Das fünfte Kapitel heißt Der Zufall, und zwischendurch gibt es immer wieder ein paar Gedanken, die ich ganz erhellend und schön formuliert finde, z. B. die Straße als Entwertung des Raumes im Gegensatz zum Weg als Lob des Raumes.


    Stimmt, das ist auch eine schöne Stelle. Leider habe ich das Gefühl, das Kundera lediglich Gelesenes/ Gehörtes zusammenträgt, was meine Bewunderung für ihn arg schmälert.



    Gegruselt hat es mich bei der Erzählung vom Tod des Vaters, der in seinen letzten Augenblicken das Angesehenwerden verweigert und schon in den Jahren davor bemüht war, jede Spur, die er hinterlassen könnte, zu tilgen. In der Philosophie des Erzählers wirkt der Vater - der übrigens als relativ sympathische Figur gezeichnet ist - als jemand, der den Kampf um die Individualität durchschaut hat und verweigert; mir persönlich wird kalt, wenn ich mir so etwas vorstelle - so wie ja das ganze hier gezeichnete Universum letztlich kalt ist und Liebe immer nur als Illusion existiert.


    Der Vater ist auch für mich Sympathieträger. Und wenn man sich vor Augen hält in welch einer Welt er gelebt hat, also speziell auf Kunderas Buch bezogen, ist sein Handeln durchaus schlüssig.



    Im sechsten Kapitel, Das Zifferblatt, wird eine neue Figur eingeführt: Rubens, der allerdings bereits vom Erzähler angekündigt war: Ich freue mich schon riesig auf den sechsten Teil. Dort wird nämlich eine völlig neue Figur auftauchen. Und am Ende wieder so verschwinden, wie sie gekommen ist, ohne eine Spur zu hinterlassen. Sie ist die Ursache von nichts und hat keine Folgen. Und gerade das gefällt mir. Ruben (genannt Rubens) ist also das vergönnt, wonach Agnes und ihr Vater sich so sehr sehnen: folgenlose, spurlose Existenz.


    Ach, diese Stelle hatte ich ganz vergessen. Allerdings bin ich anderer Meinung als Kundera: Ruben hinterlässt sehr wohl Spuren, indem er Agnes auf gewisse Art und Weise prägt. Kundera geht darauf nicht ein, damit seine These sich entfallten kann, dennoch habe ich das Gefühl, dass durch die anderen Einblicke in die Person der Agnes seine Spuren aufgezeigt werden.



    Ziemlich witzig fand ich die Stelle, als Ruben im Ehebett der Name seiner ehemaligen Geliebten entfährt und er versucht, die Situation zu entschärfen


    Den erotisch aufgeladenen Teil um Ruben fand ich problematisch, diese Geplänkel um Sex vermischt mit intelektuellen Ausführungen mochte ich gar nicht, da haben auch nicht die ständigen Erwähnungen irgendwelcher bildenden Künstler geholfen.


    Lieben Gruß
    Breña,
    die nun hundemüde ins Bett fällt

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges

  • Klasse, dass du es tatsächlich zuende gebracht hast. :klatschen:



    Insgesamt gefiel mir die negative Grundstimmung des Buches überhaupt nicht. Und auch die Mehrschichtigkeit des Textes, über die ich mir in anderen Büchern mit Vergnügen den Kopf zerbreche, hat mich eher kalt gelassen, weil ich zuviel Kraft darauf verwendet habe mich zu ärgern (oder zu langweilen). Dass die Figuren auf verschiedenen Eben miteinander agieren, neue Konstellationen entstehen, sich neue Blickwinkel auftun hat Kundera kunstvoll verwoben - aber ich kann es einfach nicht honorieren. Ich habe mich lediglich über jedes neue Puzzelteilchen gefreut, dass sich in die Figur von Agnes einfügte. Kannst du nachvollziehen, was ich meine? Ich glaube, ich war einfach übersättigt.


    So ähnlich ging es mir auch (bis auf Agnes, die mich nicht wirklich interessiert hat). Die pessimistische Grundhaltung hat mich zwischendurch ziemlich aufgeregt, weil sie vorgibt, ganz objektiv zu sein, obwohl sie doch genauso subjektiv ist wie alle Gefühle, die hier nur als Illusionen/Konstruktionen beschrieben werden. Was besonders anstrengend war, war der "Etikettenschwindel", finde ich. Kundera nennt das Buch zwar Roman, hat aber eher einen Romanentwurf in philosophische Essays (mit durchaus interessanten Ideen) verpackt. Vom Leser fordert das eine ganz andere Haltung, die ich mir aber wirklich hart erkämpfen musste. - Trotz aller Härten hat's aber Spaß gemacht, mit dir zu lesen. Das nächste wird leichtere Lektüre, okay? :zwinker:


  • Klasse, dass du es tatsächlich zuende gebracht hast. :klatschen:


    Ja, ich bin sehr stolz auf uns beide! :five:



    Trotz aller Härten hat's aber Spaß gemacht, mit dir zu lesen. Das nächste wird leichtere Lektüre, okay? :zwinker:


    Sehr gerne! Was nehmen wir uns vor? :breitgrins: (Etikettenschwindel trifft es übrigens perfekt! Demnächst also keine Mogelpackung.)

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges