David Foster Wallace - Kleines Mädchen mit komischen Haaren

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  • Hallo,


    David Foster Wallace: Kleines Mädchen mit komischen Haaren


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    Durch den niedlichen Titel „Kleines Mädchen mit komischen Haaren“ solle man sich lieber nicht aufs Glatteis führen lassen, eher vergesse man, was man bisher gelesen hat und taucht ohne Ballast in diese stories ein. Es lohnt sich, denn hier begegnen wir etwas völlig Neues, was wir in der Literatur vielleicht nirgendwoanders gelesen haben. Man könnte auch sagen, wir erleben eine neue Literaturtaufe. David Foster Wallace gehort zu den Literaten der Postmoderne (was auch immer das so genau bedeuten soll, denn eine Definition dieses Begriffes ist schwierig).


    Ein spezieller sprachlicher Stil lässt sich nicht ausmachen. Wallace scheint in diesen frühen stories experimentiert zu haben. In jeder Geschichte entwirft der Autor einen neuen Stil, der zum Personal und zum Geschehen passt.


    Die Geschichte, die dem Erzählband seinen Namen gibt, spielt in der Pukerszene. Ein Anwalt, der sich unter Punkern wohl fühlt, aber wegen seiner Herkunft sich keinen Irokesenschnitt oder ähnliches antuen will, wird hier Sick Puppy genannt, denn unter Punkern legt man sich einen neuen Namen zu. So zieht er mit Gimlet, Big und Mr. Wonderful in die Irvine Cocert Hall, um ein Konzert mit Keith Jarret zu hören. Sick Puppy, der das nötige Geld für die Karten besorgt, leidet, seitdem sein Vater mit einem Feuerzeug ihm seinen Penis versengt hat, weil er mit acht Jahren seine Schwester verspielt zum Geschlechtsverkehr führte, an pyromanischen Ideen, Körperteile anderen Menschen zu versengen. Die komischen Haare eines kleinen Mädchens, die in eine der vorderen Reihen sitz, locken seine Fantasien hervor. Bisher ist nur Gimlet bereit, sich von Sick Puppy versengen zu lassen. Wo Punks sind, ist LSD nicht weit, so ist die Geschichte auch eine Geschichte über psychodelische Halluzinationen, und weil die Sprache so herrlich im Punkersound melodiert, war es ein Lesegenuss.


    Wallace schreibt über die Zeit unserer Tage, genauer die um1990 herum, als der Storyband erstmals in Amerika erschien, d.h. über eine Welt, die (zumindest in den USA) täglich sechs Stunden vor dem Fernseher verbringt und sich mit Werbung vollgedröhnen lässt. Auch in der Geschichte des kleinen Mädchens hellt der Einfluss von Fernsehwerbung für einen kurzen Moment auf. Und es ist wirklich so, das Sehen an sich wird in den stories oftgenug thematisiert, dabei formt sich das Gesehene nie so wie es uns erscheint. Da gibt es die (ausnahmsweise) sehr linear konventionell erzählte story von einer Schauspielerin, die in die Late Night Show von David Lettermann zum Interview eingeladen wird. Schon in den ersten Sätzen spielt der Autor anhand von einer Schauspielerin damit, wie sie sich selber sieht, und wie sie von der Gesellschaft wahrgenommen wird:


    Zitat

    Ich bin eine Frau, die am 27. März 1989 in der Late Night Show von David Lettermann aufgetreten ist.
    Oder wie mein Mann Rudy sagt: Ich bin eine Frau, die zwar der überwiegenden Mehrheit der statistisch erfassbaren amerikanischen Bevölkerung bekannt ist, einfach weil ihr Name in aller Munde und ihr Gesicht schon so häufig auf den Titelseiten der Zeitschriften und den Bildschirmen der Leute draußen im Lande zu sehen war, deren tiefstes Inneres aber unerreichbar im Verborgenen liegt. Weswegen mein Mann Rudy auch der Meinung war, der Auftritt könne mir letztlich nichts anhaben.


    Rudy will seiner Frau während des Interviews über ein geheimes Mikrofon Anweisungen geben, damit alles glatt über die Bühne geht. „Keinen interessiert, ob du wirklich schlagfertig oder locker bist, es muss nur so aussehen.“ Um Differenzen zwischen Schein und Sein geht es.


    Sehr beeindruckend ist „Tiere sehen dich an“. Eine Frau gewinnt über 700 Mal in einem Fernsehratespiel, eine Sensation, so etwas ist noch nie vorgekommen. Die Einschaltquoten sprudeln in die Höhe. Warum Julie Smith aber so ein einzigartiges Wissen hat, hat einen tragischen Hintergrund, der verständlicher Weise hier nicht vorab verraten werden soll. Nur soviel, Julie spendet ihren Gewinn für einen guten Zweck, die Fernsehleute wollen diese Sache „PR-mäßig ausschlachten.“


    Die Story „John Billy“ ist sehr mysteriös, gleitet teilweise ins Surreale und ist in einem einzigartigem Slang gschrieben. Das ist auch der Grund, warum ich sie erst beim zweiten Durchgang genießen konnte. Es geht um den ungewöhnlichen „Chuck Nunn – der Mann, der alles kann“. Schon bei seiner Geburt hatte er


    Zitat

    ..ich sag mal kolossale Übergröße, die hat Momma Moma May innerlich so zerrissen, dass sie bis heute ohne Heizdecke und Opernmusik, laute Opernmusik, gar nicht mehr einschlafen kann, deshalb ist sie ja auch in dieser Anstalt.


    Auf die abgedrehte Idee muss man erst einmal kommen, wie nämlich Chuck Nunn eine Ölquelle entdeckte. Ein Twister riss seine Fernsehantenne vom Dach und flog wie ein Speer hinfort, bohrte sich irgendwo in das


    Zitat

    Nunn Land...wie beim Messerwerfen und es sage und schreibe aus diesem von Chuck Nunn Junior ex officio ererbten und TV-gesprießten Grund und Boden plötzlich zu sprudeln anfing, nämlich Rohöl, schwartes Gold, Texas Tea.


    Auf diese Weise wird Chuck Nunn reich. Wieder ist das Fernsehen an allem Schuld und Chuck Nunns Reichtum führt zu einer erbitterten Auseinandersetzung mit dem Schafmogul T.Rex Minogue, der „diverse Anstrengungen unternahm, Chuck Nunn Junior seine Schafzucht abzukaufen beziehungsweise mit Gewalt sich feindlich einzuverleiben...“ Kurios, bei einem Unfall fallen Chuck beide Augen heraus, die an zwei Nervenenden herumbaumeln. Auch künftig fallen die Augen in verschiedenen Gelegenheiten heraus , wenn er niesen muss oder ihm jemand auf die Schulter klopft. Da bekommt man schon recht Furcht, was mit dem Sehorgan alles passieren kann.


    Der Band enthält fünf stories, die aufgeschlossenen Lesern sehr bereichern und zum Nachdenken bringen können.


    4ratten


    Liebe Grüße
    mombour

  • Danke für die sehr ausführliche Rezi, das Buch hört sich auf jeden Fall interessant an, ich schiebe es gleich mal ganz weit nach oben auf meiner Wunschliste.

    ~~better to be hated for who you are, than loved for who you&WCF_AMPERSAND're not~~<br /><br />www.literaturschaf.de