Kenzaburō Ōe - Stolz der Toten

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    Ein Romanistikstudent und eine Studentin der Anglistik nehmen für einen Tag einen etwas anderen Nebenjob an: sie lagern für die Medizinische Fakultät Leichen von einem Konservierungsbad in ein frisches um. Begleitet werden sie dabei von dem Verwalter der Pathologie.


    Nachdem ich das Buch gelesen habe, brauchte ich erst eine Weile um es nachwirken zu lassen. Ich habe eindeutig mehr Zeit damit verbracht über das Buch nachzudenken als es zu lesen, und sicherlich wird es mich auch noch einige Zeit begleiten. Erstaunlich, wieviel Inhalt Ōe auf die wenigen Seiten der Erzählung bringt!


    Es passiert zwar wenig, aber indem man den Gedanken des Studenten folgt und an Gesprächen teilnimmt, bringt Ōe den Leser selbst zum Nachdenken. Der Student sieht die Leichen erst als entseelte Gegenstände, setzt sich gedanklich aber immer mehr mit ihnen auseinander und gelangt an einem Punkt sogar zu der Frage, ob die Toten nicht eventuell die angenehmeren Zeitgenossen seien.


    Durch Ōes klare Sprache erscheinen die Gedanken nie philosophisch-abgehoben. Darüber hinaus beschreibt er mit wenigen Worten z. B. das Licht der Räumlichkeiten und deren besonderen Geruch und schafft dadurch eine sehr dichte Atmosphäre.


    Eine zwar düstere, aber wirklich beeindruckende Leseerfahrung!


    5ratten


    Viele Grüße
    Breña

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges

    Einmal editiert, zuletzt von Breña ()

  • Ein kurzes Leseerlebnis.



    Darüber hinaus beschreibt er mit wenigen Worten z. B. das Licht der Räumlichkeiten und deren besonderen Geruch und schafft dadurch eine sehr dichte Atmosphäre.


    Das auf jeden Fall. Darüber hinaus fand ich es allerdings nicht so übermäßig bemerkenswert. Die Studentin mit ihren Sorgen kann ich zwar ansatzweise verstehen, aber eine Schwangerschaft ist vermeidbar (auch schon 1958, dem Erscheinungsjahr der Erzählung), daher hält sich mein Mitleid in Grenzen. Der Professor, der den Studenten herunterputzt, weil er mit diesem Job Geld für sein Studium verdienen will, steht ja wohl auch neben der Realität. Oder warum sollte es verwerflicher sein, mit einer Umlagerung sein Geld zu verdienen als als Pathologe? Der Umgang mit den Leichen, wenn auch im Verlaufe des Tages zunehmend mechanischer, findet aber immerhin in „gesitteter“ Umgebung statt. Wahrscheinlich hat es mich insgesamt nicht schockiert, weil ich von Berichten der International Crisis Group über Kriegsgebiete ganz andere Darstellungen gewöhnt bin. Unabhängig davon: Ich würde einen solchen Job nicht machen wollen, aber das steht auf einem ganz anderen Blatt ...


    3ratten


    Schönen Gruß,
    Aldawen


  • Wahrscheinlich hat es mich insgesamt nicht schockiert, weil ich von Berichten der International Crisis Group über Kriegsgebiete ganz andere Darstellungen gewöhnt bin.


    Schockierend fand ich die Lektüre auch nicht, aber durchaus bedrückend und nachdenklich machend. Im Hinterkopf hatte ich verschiedene Gespräche, die ich mit Freunden geführt habe, die sich im Krankenhaus oder Rettungsdienst ähnliche Gedanken gemacht haben. Das macht das Ganze sehr viel greifbarer, Berichte aus Kriegsgebieten hingegen bleiben für mich irgendwie abstrakt.
    Die Probleme der Studentin und besonders der stänkernde Professor waren für mich eher Beiwerk um eine Geschichte zu erzählen, deine Meinung zu den beiden teile ich aber durchaus.


    Viele Grüße
    Breña

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges

  • Der Darstellung, Einschätzung und Bewertung von Breña kann ich mir nur anschließen. Eine gut geschriebene und gut übersetzte Geschichte, über die man länger nachdenken kann. Ich habe sie in dem Fischertaschenbuch "Japan erzählt" von 1990 gelesen, übersetzt von Margarete Donath und Itsuko Gelbrich, knappe 37 Seiten lang. Ist das 78-seitige Buch jetzt nur eine neue Ausgabe oder eine Neuübersetzung?



    Die Studentin mit ihren Sorgen kann ich zwar ansatzweise verstehen, aber eine Schwangerschaft ist vermeidbar (auch schon 1958, dem Erscheinungsjahr der Erzählung), daher hält sich mein Mitleid in Grenzen.


    Ohne überhaupt das geringste darüber zu wissen, wer die Studentin ist, wie sie zu dem Kind kam und was überhaupt los ist, stellt sich mir die Frage nach Mitleid höchstens aufgrund hineininterpretierter Umstände oder eigener Voreinstellungen. Ôe schreibt statt über diese Umstände vielmehr, dass die Studentin nach dem Tag mit den Toten ihre Meinung ändert:


    Zitat

    "Jetzt bin ich fast soweit, daß ich das Kind zur Welt bringen möchte. Als ich nämlich die Leute in der Wanne sah, kam mir die Überzeugung, daß ein Kind, selbst wenn es zum Sterben bestimmt ist, erst einmal geboren werden und eine richtige Haut bekommen sollte. Sonst bleibt alles in der Schwebe."


    Da ahnte der damals 23-jährige Ôe wahrscheinlich noch nicht, dass er sich 5 Jahre später, als sein behinderter Sohn geboren wurde, in ähnlicher Weise Fragen nach Leben und Tod stellen würde.



    Der Professor, der den Studenten herunterputzt, weil er mit diesem Job Geld für sein Studium verdienen will, steht ja wohl auch neben der Realität. Oder warum sollte es verwerflicher sein, mit einer Umlagerung sein Geld zu verdienen als als Pathologe?


    Ob das Geldverdienen der Grund dafür ist, dass der Professor ihn herunterputzt, oder ob mehr hinter den Vorwürfen des Professors "Genieren Sie sich nicht, solche Arbeiten zu tun? Hat eure Generation denn gar keinen Stolz?", steckt, sei mal dahingestellt. Komisch finde ich auch, dass ausgerechnet ein Mediziner das sagt, der möglicherweise früher selber diesen Job gemacht hat. Aber vielleicht ist das Aufbrausen des Professors nur ein - vom Plot her nicht unbedingt ganz schlüssiger - Anlass für Ôe, um über die Schwierigkeiten eines 23-Jährigen mit dem Erwachsenwerden schreiben zu können:



    Selbst der Verwalter, den er vorher noch irgendwie bewundert hatte, starrt ihn mit Verachtung an:


    Zitat

    Der Verwalter nahm die Stange, die er eben abgestellt hatte, wieder auf und wog sie in beiden Händen, während er nach der Wanne sah. Er wirkte selbstsicher und erfahren wie ein Techniker, mußte ich staunend zugeben. Anscheinend war er stolz auf seine Arbeit. Wir Menschen sind Geschöpfe, die auf die seltsamsten Dinge stolz sein können.


    Das sind übrigens die beiden Stellen in der Erzählung, wo von "Stolz" die Rede ist - neben dem Titel. Darüber muss ich zwar noch nachdenken, aber volle Punktzahl verdient die Erzählung allemal ...


  • Ich habe sie in dem Fischertaschenbuch "Japan erzählt" von 1990 gelesen, übersetzt von Margarete Donath und Itsuko Gelbrich, knappe 37 Seiten lang. Ist das 78-seitige Buch jetzt nur eine neue Ausgabe oder eine Neuübersetzung?


    Da ich das Buch leider nicht mehr hier habe, kann ich nicht nachprüfen ob es eine Neuübersetzung ist. Es ist aber mal wieder interessant zu sehen, wie stark man die Seitenzahl allein durch den Satz beeinflussen kann.



    Das sind übrigens die beiden Stellen in der Erzählung, wo von "Stolz" die Rede ist - neben dem Titel. Darüber muss ich zwar noch nachdenken, aber volle Punktzahl verdient die Erzählung allemal ...


    Und beide Male geht es nicht um den titelgebenden Stolz der Toten, der nie direkt angesprochen sondern durch Handlungen und Gedanken greifbar gemacht wird. Ein Kniff, der mir sehr gut gefällt und zur Stimmung der Erzählung passt.


    Viele Grüße
    Breña

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges

  • In der FAZ vom 24.12.2008 stand auf Seite N3 passend zu Christi Geburt unter der Überschrift "Pure Paare" eine Betrachtung eines gewissen Lorenz Jäger über das Thema Abtreibung im Roman Zeit der Reife von Jean-Paul Sartre (1945) und in dem "feministischen Klassiker" Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau seiner Lebensgefährtin Simone de Beauvoir (1949). In letzterem widme sich ein Kapitel dem Thema der Mutterschaft, und Jäger schreibt:


    Zitat

    In diesem Zusammenhang fallen die berüchtigten Sätze über den Fötus als Parasiten und später als "Polypen": "Aber die Schwangerschaft ist vor allem ein Drama, das sich bei der Frau zwischen ihren beiden Ich abspielt. Sie empfindet sie gleichzeitig als eine Bereicherung und als eine Verstümmelung. Der Fötus ist ein Teil ihres Körpers und auch wieder ein Parasit, der auf ihre Kosten lebt. Sie besitzt ihn und wird doch wieder von ihm besessen."


    Vielleicht kannte Ôe Kenzaburô, der ja seine Studienabschlussarbeit über Sartre schrieb, Das andere Geschlecht, das immerhin 1955 beim Verlag Shinchôsha auf Japanisch erschienen war, und lässt deshalb 1958 im Stolz der Toten die Studentin sagen:


    Zitat

    "Außerdem erinnert mich der Klumpen aus Knorpel und Fleisch in meinem Bauch an die Leichen hier in der Wanne."