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Heinrich v. Kleist geht trotz seiner Bekanntheit stets ein wenig zwischen Schiller und Goethe unter, zu deren Zeit er lebte. Ich finde das etwas unverdient, denn Kleist, der 1811 durch Selbstmord aus dem Leben schied, macht nicht umsonst Schwierigkeiten bei seiner Einordnung in eine bestimmte Epoche. Gehört er schon zur Romantik oder doch noch zur Klassik? Während man bei Goethe Phasen einteilt, muss bei Kleist gesagt werden: Er steht tatsächlich irgendwie dazwischen und hat eine sehr charakteristische und individuelle Art zu erzählen. Ich empfinde das allein schon als Qualitätssiegel.
Eines seiner weniger bekannten Dramen behandelt den Stoff der Schlacht im Teutoburger Wald, in der "Hermann der Cherusker" die römischen Truppen unter Varus vernichtend schlug. Kleist schert sich dabei sehr wenig um historische Genauigkeit, sondern nutzt diesen Stoff zu einem sehr interessanten dramatischen Experiment. Die Hauptfiguren handeln moralisch extrem zweifelhaft. Während Hermann und seine Verbündeten vorgeben, das deutsche Vaterland schützen und von den Römern befreien zu wollen, vom "Latier", "Der keine andre Volksnatur/Verstehen kann und ehren, als nur seine" (I/3, 313f) und daher als Herrscher über ein weltumspannendes Reich laut Hermann nicht taugt, scheint es zu Beginn des Stückes durchaus noch möglich, dass Varus und die Seinen tatsächlich wortbrüchig sind und versuchen, die deutschen Fürsten um Roms Vorteil willen gegeneinander auszuspielen.
Doch Kleist dreht das Bild nach und nach. Ständig wird getuschelt, leise zu irgendjemandem gesprochen, den Zuschauern werden viele Informationen vorenthalten, die ihnen eine moralische Bewertung des Geschehens erlauben würden. Doch eins wird deutlich: Wenn Varus mit List arbeitet, so tut es Hermann nicht minder. Er schmiedet ein Komplott und verbirgt es so effektiv und mit einem solchen Geschick darin selbst sein nächstes Umfeld zu verwirren, dass man als Publikum nur staunen kann. Und so langsam will es einem auch scheinen, dass die Selbstsucht, die Grausamkeit und die Hinterhältigkeit des Germanenfürsten die aller anderen Figuren übersteigt und wir hier hinter der jovialen Fassade einen wirklichen Barbaren vor uns haben, dem nichts fremder ist als ein klassisches humanistisches Ideal. Der Hermann Kleists ist eine zwar einsame und mächtige, dabei aber keineswegs tragische Gestalt.
Ich habe die Hermannsschlacht mit wachsender Begeisterung gelesen und habe am Ende noch einmal an verschiedene Stellen zurückgeblättert, um mich zu vergewissern, dass Kleist tatsächlich vieles im Dunkeln lässt: Wer schrieb den verhängnisvollen Brief an Kaiserin Livia? Wer vergewaltigte die unschuldige Hally? Trotz aller Offenheit schlägt aber das Pendel der Zuschauergunst immer weiter in Richtung der Römer aus und man hat den Eindruck, dass egal wer diese Grausamkeiten verschuldet hat, das Verhalten der römischen Protagonisten auf jeden Fall ehrenhafter zu nennen ist als das der germanischen.
Kleist ist beeindruckend wie immer. Für Dramenliebhaber/innen ist dieses Lehrstück um Ehre und Menschlichkeit ein absoluter Lesetip!