Jaan Kross - Der Verrückte des Zaren

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  • Im Rahmen der SUB-Wettbewerb 2006-Liste hier meine fünfte Rezension:


    Jaan Kross: Der Verrückte des Zaren
    ca. 400 Seiten, Carl Hanser, 1990


    Im wohl besten und bekanntesten Roman des national und international bedeutendsten estnischen Schriftstellers Jaan Kross, erzählt dieser die Geschichte des historisch belegten baltischen Adligen Timotheus (Timo) von Bock, einem Dissidenten gegen das Zarenregime. Angeblich habe von Bock dem Zaren Alexander I. versprechen müssen, ihm stets die Wahrheit zu sagen und dies auch getan. Die Folge ist, daß er bald in Ungnade fällt, für Jahre im Gefängnis verschwindet und schließlich nach neun Jahren als vermeintlich Geisteskranker entlassen wird. Ob Timo von Bock tatsächlich geisteskrank war, kann nicht geklärt werden und bleibt auch im Roman offen.


    Der Erzähler im Roman ist der von Jaan Kross erfundene Schwager von Bocks, Jakob Mättik, der als junger Mann Aufzeichnungen von Bocks findet, die nichts weniger als einen ersten provisorischen Entwurf einer Verfassung für Rußland enthalten.
    Zugleich schildert der Roman eine große Liebesgeschichte, die zwischen dem Adeligen Timo von Bock und seiner aus einem Bauerngeschlecht stammenden Frau Eeva spätere Katharina (Kitty) von Bock.


    Kross hat für diesen Roman Tagebuchaufzeichnungen, Briefe und andere Papiere verarbeitet. Um den Roman wirklich zu verstehen, muß man sich ein wenig mit der baltischen und russischen Geschichte auskennen und dafür interessieren. Es ist ein Roman, der einen Einblick gibt in einen Teil des ehemaligen Rußlands (der späteren Sowjetunion), der sonst in der Literatur nicht allzu viel abgedeckt wird. Zugleich ein Roman, der zum Verständnis des heutigen Baltikums beitragen kann.


    Am Ende des Buches befindet sich ein Nachwort von Jaan Kross, in dem er einiges zu den historisch belegten Hintergründen des Romans sagt, und das eigentlich besser als Vorwort im Buch stünde. Ein Ortsverzeichnis und Anmerkungen runden den Roman noch ab.


    Ich vergebe 3ratten


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    Einmal editiert, zuletzt von Seychella ()

  • Inhalt: Nach neun Jahren Haft wird der Adlige Timo von Bock als geistesgestört entlassen und kehrt auf sein Gut Woiseck zurück, das er allerdings nicht verlassen darf – eine komfortablere Version der Haft. Über die Gründe für die Einkerkerung wurde nach Timos Verhaftung ebenso spekuliert wie nach seiner Freilassung über seinen Geisteszustand. Ist er wirklich verrückt oder tut er nur so? Die Frage stellt sich vor allem in seinem Verhalten gegenüber dem Verwalter, der als Spitzel des Regimes dient. Und die Frage ist nicht neu, weil schon Timos Wahl seiner Ehefrau Eeva, einer Bauerntochter, für viel Kopfschütteln sorgte. Timo hatte Eeva wie auch ihrem Bruder Jakob eine Ausbildung angedeihen lassen, und beide nutzen diese, wenn auch sehr unterschiedlich. Während Eeva zusammen mit Timos jüngerem Bruder Georg alles versucht, um zunächst Informationen über Timos Aufenthaltsort und dann auch seine Freilassung zu erlangen, betrachtet Jakob alle Vorgänge mit einer gewissen Distanz, da er die Wandlung der Schwester zur Großgrundbesitzerin innerlich mißbilligt. Jakobs Mißtrauen gegen den Schwager steigert sich, als er durch Zufall ein Dokument von Timos Hand findet: Den Entwurf zu einer Verfassung für das Russische Reich. Eine groß angelegte und lange geplante Flucht aus Estland scheitert letztlich an Timos Weigerung. Nicht einmal die Aussicht darauf, daß sein Sohn Jüri in der Kadettenschule des Zaren entgegen den Idealen des Vaters erzogen werden wird, kann Timo dazu bewegen ...



    Meine Meinung: Kross wählt als Erzählform Jakobs Tagebuch. Dieser berichtet mal aus seiner Gegenwart, mal rückblickend, und diese unchronologische Erzählweise fand ich anfangs etwas irritierend, zumal ich auch die Personen einander noch nicht besonders gut zuordnen konnte. Mit fortschreitender Erzählung wurde der Rhythmus aber deutlicher und die Ereignisse ließen sich letztlich doch gut nachvollziehen, trotz aller anfänglichen Verwirrungen und Lücken.


    Die Perspektive von Schwager Jakob für den Blick auf Timo von Bock fand ich gut gewählt, denn er war nah genug an der Familie, um Einsichten zu haben, die einem Nicht-Familienmitglied verborgen geblieben wären, aber entfernt genug, um gerade Timo mit kritischer Distanz betrachten zu können. Das wird besonders deutlich, wenn Jakob über Timos Memorandum grübelt und dabei zwischen verschiedenen Loyalitäten und Sympathien hin- und hergerissen ist.


    Neben den hilfreichen Anmerkungen liefert vor allem das Nachwort von Kross selbst Informationen darüber, welche Dokumente und Fakten historisch belegt sind, und das sind verblüffend viele. Bemerkenswert fand ich in diesem Nachwort aber insbesondere die Begründung, warum er es selbst geschrieben habe. Kross sagt, daß dies sinnvollerweise Aufgabe eines Historikers gewesen wäre, aber dafür sei es zu spät gewesen, denn


    Zitat

    (...) das wissenschaftliche Verantwortungsgefühl der Historiker (verhält sich) gewöhnlich direkt proportional zur Langsamkeit ihres Arbeitstempos.


    Auf jeden Fall fand ich es einen interessanten Roman über ein mir bislang völlig unbekanntes Detail baltisch-russischer Geschichte.


    4ratten


    Schönen Gruß,
    Aldawen