Kathrin Schmidt, Koenigs Kinder

  • Der Rechtsanwalt Marl lebt mit seinem Freund Frieling im Berliner Osten. Sein Frieden wird jäh erschüttert, als er eines Tages ein seit einigen Tagen vermisstes Kind an einer Tankstelle findet - in der Presse und auch von Kathrin Schmidt durchgängig "die kleine Janina" genannt -, dem die Kehle durchtrennt und anschließend wieder zusammengenäht wurde, ohne allerdings die Luftröhre ernsthaft zu verletzen. Marl transportiert das Kind ins Krankenhaus und es beginnt sich in ihm Fürsorglichkeit zu regen. Sollte er als Retter des Kindes "die kleine Janina" nicht adoptieren und sich somit seinen lange gehegten Kinderwunsch erfüllen können?


    Das Drama der "kleinen Janina" wird auch von Walja Zeiger und deren Großmutter Ida Bergner, zwei Russlanddeutschen, verfolgt. Waljas Mann ist vor kurzem von einem Verwandtenbesuch aus Kasachstan zurückgekehrt und hat die der neugeborenen Nichte zugedachte Puppe aus zunächst unerfindlichen Gründen wieder mitgebracht. Diese wird nun von der arbeitslosen Walja wie ein Kind behütet und auf den Namen "die kleine Janina" getauft.
    Ida Bergner kämpft währenddessen mit ihrer Rente. Ein dunkles Geheimnis aus ihrer Vergangenheit hindert sie daran, ehrliche Auskunft über einige fehlende Jahre in ihrer Biographie zu geben. Was ist in der unmittelbaren Nachkriegszeit geschehen, als Ida Bergner als Gefängniswärterin in der sowjetischen Besatzungszone beschäftigt war?


    Auch Lioba Zeplin scheint ein Geheimnis zu haben. Immerhin findet die alleinstehende Lehrerin seit kurzem rätselhafte Zettel in ihrer Wohnung, die die Geschichte eines Kindes erzählen, das Lioba ganz eigenartig an sie selbst erinnert. Gesichert ist: Die Zettel werden von der retardierten Frau Koenig deponiert, die seit einigen Wochen Lioba Zeplin beim Putzen zur Hand geht. Welche Rolle spielt bei dieser ganzen Angelegenheit aber der ältere Herr, der sich als Frau Koenigs Vater bezeichnet, aber so gar keine äußerliche Ähnlichkeit mit ihr hat? Möchte er Lioba Zeplin, über die er so gut Bescheid zu wissen scheint, erpressen?


    Kathrin Schmidt hat sich eine ganz feine Geschichte ausgedacht, die diese unterschiedlichen Figuren miteinander verbindet, und die leider zu einem Teil auf dem Klappentext verraten wird (liebe Liebhaber/innen weißer Zitatkästen: dreht das Buch auf keinen Fall um, bevor ihr seine letzte Seite gelesen habt!). Was in "Koenigs Kinder" überaus scharfsinnig thematisiert wird, sind Fragen nach Liebe - zu Kindern, aber auch zu den Nächsten - nach Elternschaft und nach dem Zusammenhang von Liebe und Elternschaft: Wie entsteht Liebe zu einem Kind? Wohin gehört ein Kind? Braucht es Liebe, um ein Kind zu zeugen? Was sind Eltern? Kathrin Schmidt stürmt auf angenehm unaufgeregte Weise die Bilder unseres kaum einmal hinterfragten kulturellen Hintergrunds, seien es die der heteroS.e.x.uellen Liebesbeziehung oder die der christlichen Eltern- und Kindesliebe.


    Etwas bedauerlich ist, dass der Roman sich sehr, sehr viel Zeit nimmt, um erst einmal die Situationen der Protagonisten zu entwickeln, und dass ich nicht den Eindruck hatte, dieses Detailwissen sei immer zwingend notwendig für die Anlage und den Fortgang der Geschichte. Ein/e gute/r Lektor/in hätte hier versuchen sollen zu entschlacken (hat sie/er vielleicht, das klappt ja nicht immer), vor allem da Schmidts Sprache zwar wunderschön, aber alles andere als leicht lesbar ist. Der 350 Seiten dicke Roman kommt (fast) ganz ohne wörtliche Rede aus, und die Sätze sind oft so kunstvoll gedrechselt und ineinander verschachtelt, dass man sie nur in sehr gedrosseltem Tempo genießen kann.


    Es ist nicht verwunderlich, dass Schmidt mit dem Förderpreis der Heimito-von-Doderer-Gesellschaft ausgezeichnet worden ist. Die distanzierte und dabei gleichzeitig auf genaues Beobachten angelegte auktoriale Erzählinstanz, ist der Doderers aus den Wiener Romanen nicht ganz unähnlich - wenn dieser auch die indirekte Rede nicht so päppelt, wie Schmidt es tut.


    Ich bin gespannt auf die Entwicklung dieser nicht mehr ganz jungen Autorin (Jg. 1958). Potenzial ist hier auf jeder Ebene vorhanden.


    Kaufen* bei

    Amazon
    Bücher.de
    Buch24.de

    * Werbe/Affiliate-Links

    Einmal editiert, zuletzt von Bartlebooth ()