Imre Kertész - Roman eines Schicksallosen

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    Ich kann jetzt nicht genau beurteilen, ob das Buch bei den "Klassikern" seinen richtigen Platz hat. Es ist 1975 erstmals erschienen, zählt aber für mich aufgrund seiner Bedeutung durchaus schon als "Klassiker".


    Inhalt:


    Budapest, 1943/44. Gyurka, ein 14-jähriger jüdischer Schüler - seine Eltern sind geschieden, er lebt bei seinem Vater und seiner Stiefmutter - bekommt heute schulfrei, denn sein Vater wird ins Arbeitslager einberufen. Die Familie kommt noch einmal zusammen, es wird Abschied genommen.
    Kurz darauf wird Gyurka, auf dem Weg zum Arbeitsdienst in die Waffenfabrik zusammen mit anderen Jugendlichen und Erwachsenen aus den Autobus geholt und im Zug nach Auschwitz transportiert. Nach kurzem Aufenthalt dort geht es weiter nach Birkenau und nach Zeitz. Es folgt die Schilderung der unbeschreiblichen Missstände und Zustände in den Konzentrationslagern. Aufgrund einer schweren Beinverletzung kommt er zurück nach Birkenau, was letztendlich auch seine Rettung bedeutet.


    Imre Kertész (Quellen: Klappentext, wikipedia):


    Geb. am 9. November 1929 in Budapest.


    Wegen seiner jüdischen Abstammung wurde Kertész 1944 über Auschwitz in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Seine Erfahrungen dort beschrieb er in dem autobiografischen Buch "Roman eines Schicksallosen", im ungarischen Original "Sorstalanság". Der Roman wurde 2005 vom ungarischen Regisseur Lajos Koltai verfilmt.


    Nach Kriegsende folgte eine journalistische Tätigkeit bei der Tageszeitung "Világosság", die bald umbenannt und zum Parteiorgan der Kommunisten wurde. Nach seiner Entlassung bestritt Kertész seinen Lebensunterhalt als freier Schriftsteller und schrieb Musicals und Unterhaltungsstücke für das Theater, um die Entstehung seines autobiografischen "Roman eines Schicksallosen" zu finanzieren.


    Für sein schriftstellerisches Werk, das die zerbrechliche Erfahrung des Einzelnen gegenüber der barbarischen Willkür der Geschichte behauptet, wurde Imre Kertész 2002 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.


    Werke: (Auszug)


    Mensch ohne Schicksal 1990, ISBN 3352003416 (später: Roman eines Schicksallosen,[/i] 1996)
    Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, 1990
    Galeerentagebuch, 1993
    Eine Geschichte. Zwei Geschichten, 1994
    Ich - ein anderer, 1998
    Die englische Flagge. Erzählungen, 1999
    Eine Gedankenlänge Stille, während das Erschießungskommando neu lädt. Essays, 1999
    Fiasko, 2000


    Meine Meinung
    Es fällt mir sehr schwer, für dieses Buch eine Rezension zu erstellen, die dem Buch angemessenist.


    Das Erschütternde an diesem Buch ist für mich der Stil. Aus der Sicht eines 15-jährigen mitsamt seiner Naivität, seinem unermesslichen Optimismus und seinem absoluten Urvertrauen, das ihn letztendlich am Leben erhält, werden die Zustände im Konzentrationslager auf fast, "unbeschwerte" Weise, beschrieben.
    Für den Jungen ist die lange Zugfahrt nach Auschwitz der Anfang eines großen Abenteuers. Er versucht für alles und für jeden eine rationale Erklärung zu finden, rechtfertigt sämtliche Vorkommnisse und redet sich ein, dies alles sei "normal". Und gerade die Tatsache, dass man als Leser sozusagen einen "Vorsprung" hat, genau weiß, was mit ihm passiert und wohin dies alles führt, macht das Buch so unfassbar. Ein bisschen hat es mich - zu Beginn an den Film "Das Leben ist schön" von Roberto Benigni erinnert. Imre Kertész selbst nimmt in einem Interview zu seinem Roman diesen Film zur Diskussion.


    Gyurka wundert sich bei der Ankunft im KZ über die vielen Häftlinge, von denen sie empfangen wurden.

    Zitat

    Jetzt zum erstenmal - vielleicht, weil ich zum erstenmal dafür Zeit hatte - begannen sie mich etwas mehr zu interessieren, und ich hätte gerne ihre Vergehen gekannt.


    Schritt für Schritt werden die Zustände unfassbarer, unvorstellbarer, der Leser verliert den Boden unter den Füßen. Schritt für Schritt verfallen Körper und Psyche der Gefangenen.
    Besonders erschütternd war für mich seine Rückkehr in seine Heimat, wo er begreift, dass niemand etwas begriffen hat.


    Zitat

    Nichts ist so unmöglich, daß man es nicht auf ganz natürliche Weise durchleben würde, und auf meinem Weg, das weiß ich schon jetzt, lauert, wie eine unvermeidliche Falle, das Glück auf mich. Denn sogar dort, bei den Schornsteinen, gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, daß dem Glück ähnlich war. Alle fragen mich immer nur nach Übeln, den "Greueln": obgleich für mich vielleicht gerade diese Erfahrung die denkwürdigste ist. Ja, davon, vom Glück der Konzentrationslager, müßte ich ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen. Wenn sie überhaupt fragen. Und wenn ich es nicht selbst vergesse."


    Absolut lesenswert!!
    Man muss auch betonen und erwähnen, dass das Buch absolut wertfrei geschrieben ist und keinerlei Schuldzuweisungen o.ä. enthält!


    5ratten

    :blume:&nbsp; Herzliche Grüße!&nbsp; :blume: <br />creative

    Einmal editiert, zuletzt von fairy ()

  • Breña und ich wollen diesen Roman jetzt gemeinsam lesen und uns hier unterwegs schon mal ein wenig dazu austauschen.



    Gelesen habe ich gerade die ersten beiden Kapitel, die noch ausgesprochen harmlos daherkommen. Der Vater ist zum Arbeitsdienst abkommandiert, aber die Besorgungen könnten auch einfach für einen längeren Urlaub oder eine Dienstreise vorgenommen werden. Weniger in diesen Blickwinkel paßt dabei natürlich das große Abschiedsessen mit der ganzen Familie, das die Besonderheit der Situation schon eher unterstreicht. Davon abgesehen wirkt das tägliche Leben aber noch furchtbar normal. Ob sich Herr Sütö dauerhaft als so integer erweist, wie er hier erscheint? Vielleicht erfahren wir es auch gar nicht, aber bislang macht er einen guten Eindruck.


    Was mich schon ein wenig irritiert: Das Ganze beginnt doch wohl im Frühjahr 1944, da im zweiten Kapitel, zwei Monate nach der Abreise des Vaters, Onkel Vili von der Landung der Alliierten spricht. Der Junge mit seinen 15 Jahren hat also bereits einige Zeit der Repressalien erlebt, noch nicht in der allerschärfsten Form, aber immerhin. Dafür kommt er mir sehr naiv rüber, denn dumm wird er als (Ex-)Gymnasiast ja nicht gerade sein. Wäre er zwei, drei Jahre jünger, dann würde ich ihm diese Schlichtheit abnehmen, aber dann könnte er nicht in der Fabrik arbeiten und würde wohl auch noch nicht mit der Nachbarstochter schäkern. Ich bin gespannt, wie sich das im weiteren Verlauf darstellen wird. Davon abgesehen fand ich den Einstieg jedenfalls sehr gelungen.

  • Dann werde auch ich meine Eindrücke aufschreiben, gelesen habe ich bisher die ersten drei Kapitel.


    Auch ich finde, dass Kertész den Leser recht gemächlich in die Handlung einführt - man lernt in aller Ruhe das Umfeld Gyurkas kennen und nimmt an den Vorbereitungen der Abreise teil, der Ernst der Lage wird aber nicht wirklich deutlich. Das ändert sich erst im oder besser am Ende des dritten Kapitels. Ich wurd schon fast ungeduldig, leider habe ich die ausgiebigen Personenbetrachtungen nicht wirklich würdigen können.
    Woran ich mich bisher noch nicht gewöhnt habe ist der Stil, besonders diese ständig zitierte direkte Rede der Erwachsenen. Falls Kertész den Beigeschmack eines Schulaufsatzes vermitteln wollte, ist ihm das meines Erachtens gelungen. Um so mehr stechen Passagen heraus, die sprachlich (und auch gedanklich) ausgefeilt sind: "So hingegen verfährt er seiner Überzeugung gemäß, und sein Handeln wird von der Richtigkeit einer Idee gelenkt, was nun aber - das sah ich ein - etwas ganz anderes sein mag, natürlich." (S.17).
    Und die größte aller Fragen bleibt für mich: Warum berichtet Gyurka von dem Erlebten? An wen richtet er sich, schreibt er das Erlebte auf oder erzählt er es jemandem?



    Was mich schon ein wenig irritiert: Das Ganze beginnt doch wohl im Frühjahr 1944, da im zweiten Kapitel, zwei Monate nach der Abreise des Vaters, Onkel Vili von der Landung der Alliierten spricht. Der Junge mit seinen 15 Jahren hat also bereits einige Zeit der Repressalien erlebt, noch nicht in der allerschärfsten Form, aber immerhin. Dafür kommt er mir sehr naiv rüber, denn dumm wird er als (Ex-)Gymnasiast ja nicht gerade sein. Wäre er zwei, drei Jahre jünger, dann würde ich ihm diese Schlichtheit abnehmen, aber dann könnte er nicht in der Fabrik arbeiten und würde wohl auch noch nicht mit der Nachbarstochter schäkern. Ich bin gespannt, wie sich das im weiteren Verlauf darstellen wird.


    Ich habe auch nochmal nachgeschlagen: Ungarn wurde ab Mitte März 1944 von den Deutschen besetzt, der Roman scheint unmittelbar darauf zu beginnen. Bis etwa zur Abreise des Vaters scheint das Leben weitestgehend normal verlaufen zu sein: der Junge ging zur Schule, der Vater führte den Holzhandel - so zumindest habe ich es verstanden, halte es aber nicht für realistisch. Unter der Prämisse ist er immerhin nicht ganz weltfremd. Hinzu kommt aber auch, dass er viel von dem, was die Erwachsenen besprechen bzw. von ihm verlangen nicht versteht, was ich einem fast Fünfzehnjährigen aber durchaus zutrauen würde.



    Ob sich Herr Sütö dauerhaft als so integer erweist, wie er hier erscheint? Vielleicht erfahren wir es auch gar nicht, aber bislang macht er einen guten Eindruck.


    Den Gedanken hatte ich erst auch, habe mich dann aber selbst ermahnt nicht immer so misstrauisch zu sein. :zwinker:


    Alles in allem für mich ein eher verhaltener Start des Buches, ich bin dennoch sehr gespannt auf den weiteren Verlauf.


    Viele Grüße
    Breña

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges


  • Woran ich mich bisher noch nicht gewöhnt habe ist der Stil, besonders diese ständig zitierte direkte Rede der Erwachsenen. Falls Kertész den Beigeschmack eines Schulaufsatzes vermitteln wollte, ist ihm das meines Erachtens gelungen.


    Stimmt, daran erinnert es ein bißchen. Und selbst bis zum Ende des vierten Kapitels habe ich mich daran noch nicht recht gewöhnt. Vielleicht liegt das auch daran, daß ich nach Kertész Detektivgeschichte einfach etwas anderes erwartet hatte.




    der Ernst der Lage wird aber nicht wirklich deutlich. Das ändert sich erst im oder besser am Ende des dritten Kapitels.


    Selbst im vierten Kapitel, in dem die Vorbereitungen und der Transport stattfinden, ist es mir immer noch zu naiv, selbst für einen 15jährigen. Du liebe Güte, es herrscht seit fünf Jahren Krieg, auch mit ungarischen Einheiten, er wird doch wohl mal irgendwo Radio gehört haben! Und selbst wenn ich den Jungen noch ein gewisses Desinteresse zugestehen kann: Zumindest die Erwachsenen, von denen sich in der Ziegelei ja auch genug tummeln, sollten doch zu diesem Zeitpunkt schon mal was von deutschen Lagern gehört haben. Und irgendetwas von entsprechenden Gesprächen müßte doch dann auch der Erzähler dort mitbekommen haben. Das macht auf mich alles den Eindruck, als fände das in einem abgeschlossenen Raum oder auf einer Insel der Seeligen statt, wo jetzt plötzlich und unerwartet die Judenverfolgung einbricht. Es ist natürlich immer einfacher, rückblickend mit der Kenntnis dessen, was da geschieht und noch geschehen wird, Dinge einzuordnen – möglicherweise ist das aber auch genau der falsche Leseansatz für diesen Roman :gruebel:



    Und die größte aller Fragen bleibt für mich: Warum berichtet Gyurka von dem Erlebten? An wen richtet er sich, schreibt er das Erlebte auf oder erzählt er es jemandem?


    Gute Frage, die mich auch beschäftigt.

  • Gerade habe ich noch das fünfte Kapitel gelesen, weil ich wissen wollte, ob, und wenn ja: wie, sich der Tonfall mit dem Leben im Lager ändert und/oder ob die Wirkung sich ändert, wenn ich davon ausgehe, daß Kertész vielleicht gar keinen Roman schreiben wollte/geschrieben hat, der die besonderen Schrecken der Lager thematisiert, sondern eine Geisteshaltung präsentiert, die das (Über-)Leben unter solchen Umständen vielleicht erst möglich macht, zumindest aber vereinfacht.


    Tatsächlich hatte ich den Eindruck, daß dieser Schüleraufsatzduktus sich unter dem Eindruck der Umstände in Auschwitz etwas verflüchtigt. Natürlich hat Gyurka auch nicht viel Gelegenheit, sich zu erschrecken, weil er nur wenige Tage dort ist und zwischen den weiteren Transporten auch kaum zur Ruhe kommt. Immerhin nimmt er aber genug Informationen mit, um die Unterschiede zu den folgenden Lagern zu bemerken. Im direkten Kontrast von jeweils drei Tagen muß das dramatisch wirken.


    Auf der anderen Seite ist er dadurch bislang auch noch keinem permanenten Lagerdrill unterworfen, sondern langweilt sich vor allem. Noch vermittelt er den Eindruck, das ganze ein bißchen wie einen Abenteuerurlaub anzusehen – obwohl ihm sicher klar ist, daß es das nicht ist, schon die Sträflingskleidung sorgt ja dafür. Ich nehme aber doch an, daß sich das nun mit dem Arbeitszwang noch anders darstellen wird. Das werde ich aber erst morgen versuchen festzustellen.

  • Inzwischen habe ich aufgeholt und ebenfalls Kapitel vier und fünf gelesen. Stimmung und Stil haben sich deutlich verändert, sprachlich wurde es angenehmer, die Stimmung hingegen bedrückender.


    Es ist eindeutig eine neue Erfahrung den Bericht eines KZ-Insassen in eher neutralem oder auch freudigem Tonfall zu lesen. Es ist absurd von der Vorfreude der Jungen bzw. ihrem Stolz bei der Musterung zu lesen und umso bedrückender, weil man als Leser weiß, wo die Reise hingeht und welche Zukunft den Jungen bevorsteht. In dem Zusammenhang erscheint die Bewunderung für die deutschen Soldaten, die Gyurka empfindet, fast einleuchtend.
    Die erschreckenden Einzelheiten, die Gyurka nach und nach erfährt, schildert er distanziert und ungläubig, und dadurch für mich sehr viel glaubhafter und eindringlicher. Seine Erfahrungen wollen sich anfangs gar nicht mit dem Gehörten decken, und es ist erschreckend, dass er seine Inhaftierung gar nicht so recht realisiert. Kein Wunder, dass das ganze für einen "Studentenstreich" hält, wenn ihm gesagt wird, "der Ort, wo sie vergast wurden, sei sehr hübsch gelegen". An anderer Stelle zeigt er hingegen (rückblickend?) eine tiefe Erkenntnis, wenn er zum Beispiel darüber schreibt, was der Direktor am ersten Tag des Gymnasiums gesagt habe. "Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir" sei eine Lüge gewesen, da er die ganze Zeit für Auschwitz gelernt habe. Doch all die Allgemeinbildung helfe ihm jetzt nichts mehr, denn er müsse sich nun erneut belehren lassen (S.127f).


    Der Stil ist wie gesagt angenehmer geworden, es schimmert durch, dass Gyurka rückblickend erzählt. Vielleicht sollte durch den an einen Schulaufsatz erinnernden Stil am Anfang seine Naivität der unbeschwerten Kindheit noch unterstrichen werden, denn dieser Tonfall scheint im Verlauf der Zugfahrt in den teils ernsthafteren und reflektierenden des Lagers überzugehen.



    Selbst im vierten Kapitel, in dem die Vorbereitungen und der Transport stattfinden, ist es mir immer noch zu naiv, selbst für einen 15jährigen. Du liebe Güte, es herrscht seit fünf Jahren Krieg, auch mit ungarischen Einheiten, er wird doch wohl mal irgendwo Radio gehört haben!


    Ich glaube, es ist irgendwann nicht mehr unbedingt Naivität sondern seine Art des Selbstschutzes und auch in gewisser Weise die Gruppendynamik der Jugendlichen, die sich gegenseitig pushen. Er erwähnt zum Beispiel mehrfach den besorgten Pechvogel, dessen Sorgen er zwar wiedergibt, allerdings gänzlich zu ignorieren scheint. Abgesehen von einem kurzen Gedanken am Ende des dritten Kapitels verschwendet er weder einen Gedanken an seine Stiefmutter noch an seinen Vater, der schließlich ähnliches erlebt hat und dem er vielleicht sogar begegnen könnte, noch an sonst einen Zurückgebliebenen. Und das, obwohl er während der langen Wartezeiten genug Gelegenheiten dazu hätte. Außerdem gibt es genug Punkte, an denen ich solche Erinnerungen fast erwartet hätte, wenn etwa von der Liebelei des "Halbseidenen" gesprochen wird verschwendet Gyurka keinen Gedanken an seine eigene erste Romanze.


    Die genauen Beobachtungen der Menschen und Örtlichkeiten deckt sich für mich einfach nicht mit dieser Naivität. Er weigert sich ja regelrecht über das Beobachtete und Gehörte nachzudenken, so kann er es weder realisieren noch verarbeiten. Der Großteil läuft dabei im Kopf des Lesers ab, wir schließen seine Lücken mit unserem Wissen und empfinden quasi den Schrecken, den er empfinden sollte.

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges


  • Es ist eindeutig eine neue Erfahrung den Bericht eines KZ-Insassen in eher neutralem oder auch freudigem Tonfall zu lesen. Es ist absurd von der Vorfreude der Jungen bzw. ihrem Stolz bei der Musterung zu lesen und umso bedrückender, weil man als Leser weiß, wo die Reise hingeht und welche Zukunft den Jungen bevorsteht.


    Ja, das stimmt. Aus dieser Diskrepanz entsteht ein gerüttelt Maß an Beklemmung auf seiten des Lesers. Die Wahrnehmung Gyurkas paßt einfach nicht zu dem, was man selbst an Bildern dazu im Kopf hat.



    An anderer Stelle zeigt er hingegen (rückblickend?) eine tiefe Erkenntnis,


    Rückblickend sicher, aber ich habe die Vermutung, daß es nicht so viel Zeit dabei zu überbrücken gibt. Ich kann nicht sagen, woran sich dieser Eindruck festmacht, aber irgendwie habe ich das Gefühl.




    Ich glaube, es ist irgendwann nicht mehr unbedingt Naivität sondern seine Art des Selbstschutzes und auch in gewisser Weise die Gruppendynamik der Jugendlichen, die sich gegenseitig pushen.


    Was den Selbstschutz angeht, da würde ich nach dem fünften Kapitel zustimmen, bis dahin war das für mich nicht klar. Was die Gruppendynamik angeht: Das mag auch eine Rolle spielen, aber schließlich wird die Gruppe in Auschwitz doch auch auseinandergerissen. Verdrängt sich das wirklich so leicht? Daß man es vermutlich muß, und damit sind wir dann wieder beim Selbstschutz, ist naheliegend. Aber was für eine seelische und geistige Disposition muß man mitbringen, um das im hier notwendigen Maße zu können?



    Abgesehen von einem kurzen Gedanken am Ende des dritten Kapitels verschwendet er weder einen Gedanken an seine Stiefmutter noch an seinen Vater, der schließlich ähnliches erlebt hat und dem er vielleicht sogar begegnen könnte, noch an sonst einen Zurückgebliebenen.


    Und das ist auch etwas, das mich ziemlich irritiert, zumindest im Hinblick auf den Vater. Daß er nicht viel an seine Stiefmutter denkt, mit der ihn ja wohl auch nicht besonders viel verbindet – geschenkt. Aber überhaupt nicht an den Vater? So distanziert schien mir das Verhältnis aus dem ersten Kapitel eigentlich nicht. Im Hinblick auf Annamaria kann ich es schon wieder leichter nachvollziehen. Aus den Augen, aus dem Sinn, so tiefschürfende Gefühle haben wohl noch nicht dahintergestanden.




    Die genauen Beobachtungen der Menschen und Örtlichkeiten deckt sich für mich einfach nicht mit dieser Naivität. Er weigert sich ja regelrecht über das Beobachtete und Gehörte nachzudenken, so kann er es weder realisieren noch verarbeiten. Der Großteil läuft dabei im Kopf des Lesers ab, wir schließen seine Lücken mit unserem Wissen und empfinden quasi den Schrecken, den er empfinden sollte.


    Das hast Du perfekt formuliert :daumen:

  • Noch ein Buch für meine Wunschliste - schön beschrieben creative - danke.

    Liebe Grüße JaneEyre

    Bücher haben Ehrgefühl. Wenn man sie verleiht, kommen sie nicht zurück.

    Theodor Fontane

  • Heute habe ich die Kapitel 6 und 7 gelesen, und ich muß sagen: Nach diesen nicht mal 60 Seiten verzeihe ich Kertész alles, was mir vorher als Schwäche erschienen ist. Der Zeitraum muß ungefähr ein halbes Jahr umfassen, und welche Entwicklung Gyurka in dieser Zeit durchmacht, das ist einmal mehr beklemmend.


    Alles fängt noch recht harmlos an. Er stellt fest, daß es einen Alltag des Gefangensein gibt und nicht nur er, sondern eigentlich alle glauben, daß es reicht, ein „guter Häftling“ zu sein, um es nicht zum Schlimmsten kommen zu lassen. So nimmt er auch alle Hinweise für das Überleben in so einem Lager schnell auf und richtet sich darin ein. Damit kommt er, bei allen Beschränkungen, auch recht gut zurande. Er entwickelt auch Eskapismusmethoden, die ihn die Arbeit überstehen lassen. Manchmal trennen sich Geist und Körper dabei zwar so weit voneinander, daß sein mangelnder „Arbeitseifer“ auffällt, aber im großen und ganzen funktioniert auch das. Dies wäre also ein Weg, die Zeit zu überstehen, immer noch auf eine Zukunft gerichtet, die über das Lager hinausweist.


    Die Umstände der Gefangenschaft und des Lagerlebens zwingen Gyurka auch zu einer Reflexion über dieselben, die er anfänglich verweigert hatte. Jetzt haben auch die Eltern wieder einen Platz in seinen Gedanken. Wunderbar beschrieben, welche Kleinigkeiten, die zuvor und in Freiheit ein Quell des Mißmutes waren, ob nun ungeliebte Schulfächer oder das falsche Mittagessen, sich unter den neuen Bedingungen zu einer gern nachgelebten Erinnerung wandeln – jedenfalls solange, wie die physische Konstitution dergleichen überhaupt noch zuläßt.


    Aber wie dann geradezu zwangsläufig die (körperliche) Schwäche zunimmt, die Fähigkeiten zur Zukunftswahrnehmung sich nur noch auf den nächsten Tag beziehen, der sich vom aktuellen und allen vorangegangen nicht unterscheidet, wie dies zum Zusammenbruch der zuvor noch eingehaltenen Mindeststandards, wie der täglichen Körperwäsche, führt, das hat Kertész so prägnant und dabei so ohne klagenden Ton eingefangen, daß es mich gegruselt hat. Da half dann auch die vergleichsweise erholsame Zeit im Hospital nichts.

  • Inzwischen habe ich auch die beiden letzten Kapitel 8 und 9 gelesen.


    Noch weiß ich nicht so recht, was ich von dieser Vorzugsbehandlung im Hospital halten soll, die Gyurka da widerfährt. Wie ist er in diesen Genuß gekommen? Er weiß es selbst nicht, kann es deshalb auch dem Leser nicht verraten, und daß er sich nicht besonders für die Hintergründe interessiert, sondern es einfach als Glücksfall hinnimmt, will ich ihm auch keinesfalls vorwerfen. Aber interessieren würde es mich schon. Es ist die gegenläufige Entwicklung zu dem, was vorher passierte: die Umkehr der Entmenschlichung. Ich finde es erstaunlich, wie wenig es letztlich braucht und wie schnell Gyurka sich wieder in bestimmte Gepflogenheiten einfindet. Kann man das wirklich so schnell?


    Sehr gut fand ich, daß der Roman nicht mit der Befreiung aus Buchenwald endete. Zwischen Guyrkas Jahr im KZ und dem Leben in Budapest klaffen natürlich Welten. Es klaffen aber mindestens genauso weite Gräben zwischen seiner Wahrnehmung und seinem Erleben des KZ und deren Außenwahrnehmung bei den Zurückgebliebenen. Die Problematik, wie er sein Empfinden und Erleben angesichts des Unverständnisses um ihn herum vermitteln kann oder soll, wird sehr deutlich. Eigentlich finde ich seine Erklärung gut nachvollziehbar, aber ich nehme sie natürlich auch mit einer anderen Ausgangslage auf als seine Gegenüber. Für einen Außenstehenden sagt es sich leicht, man müsse das Erlebte vergessen. Man kann seine Erinnerung nun mal nicht steuern, deshalb ist das ein alberner Rat. Und daher ist es natürlich völlig richtig, daß er kein neues Leben anfangen kann, sondern nur das begonnene fortsetzen – so gut es geht und dabei zu versuchen, das Geschehene nicht völlig sinnlos werden zu lassen. Es ist bemerkenswert, daß aus Gyurka tatsächlich keine Rachegefühle sprechen, obwohl man sie ihm ja nicht einmal übel nehmen könnte. Das ist eine Form von Charakterstärke, die ihn deutlich auszeichnet.

  • In der Kurzbeschreibung zum Buch heißt es auf einer der vordersten Seiten:


    Was macht diesen Roman über Auschwitz und Buchenwald so anstößig? Ist es der unschuldige und optimistische Ton des jüdischen Jungen, der seine Deportation als Aufbruch ins Unbekannte und die Ankunft in Auschwitz als groteskes Spektakel erzählt? Liegt die Blasphemie darin, daß er so bereitwillig die Logik der Lager erprobt – ein gelehriger Schüler, der seine Sache möglichst gut machen will? Oder sind es die schockierenden Antworten auf die Fragen eines wohlmeinenden Journalisten, den er auf der Straße in Budapest trifft, kaum daß er aus Buchenwald zurückgekehrt ist?


    Ich bin nicht sicher, ob „anstößig“ das Adjektiv ist, das ich hier verwenden würde, obwohl mir spontan kein besseres einfällt. Angesichts dessen wie auch ich durch Familie, Schule, Medien etc. im Hinblick auf den Holocaust geeicht wurde, konnte ich mich an manchen Stellen schon kaum des Gefühls erwehren, schockiert zu sein – schockiert gerade eben über die Harmlosigkeit oder, wie es oben heißt, Unschuld des Erzählers.


    Sicher bezieht der Roman seine Wirkung aus mindestens den drei in den Fragen genannten Aspekten. Die konsequente Beibehaltung der gewählten Perspektive, die eine gewisse Naivität ausstrahlt, entmystifiziert (wie es auf der Buchrückseite heißt) nicht nur, sondern wandelt den Schrecken, der es für viele bzw. die meisten Insassen sicher war, fast in eine Groteske, an der man eben nur selber als Darsteller beteiligt ist. Ich bezweifle ein wenig, daß jemand, der ein KZ als älterer Mensch oder über eine längere Zeit als der Erzähler erlebt hat, diese Wahrnehmungen so teilen kann. Bemerkenswert ist aber trotzdem, daß Kertész sich in Lage fühlte, einen Roman über dieses Thema zu schreiben ohne eine klagende Opferperspektive einzunehmen. Der Wirkung tat dies, jedenfalls bei mir, keinen Abbruch – eher im Gegenteil. Den minimalen Abzug gibt es für den Beginn, bei dem ich immer noch das Gefühl habe, daß Stil und Reflexionsgrad nicht ganz mit dem Alter des Erzählers zusammenpassen.


    4ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:


    Schönen Gruß,
    Aldawen

  • In den letzten Tagen konnte ich zwar immer mal wieder Zeit für das Buch herausschlagen, für Beiträge hier hat es dann leider nicht mehr gerecht. Gestern Abend habe ich es beendet und stehe dementsprechend noch im Bann der letzten Sätze.


    Der Stil hat mir immer besser gefallen, abgesehen von einem kurzen Einbruch gegen Ende, in dem es wieder von indirekter Rede wimmelt. Ansonsten findet Kertész die richtige Sprache um das Grauen oder eben auch die guten Seiten der Konzentrationslager zu beschreiben. Die Zweischneidigkeit, dass Gyurka sich trotz der Hoffnungslosigkeit in einer guten Lage wähnt, vermittelt er gekonnt.


    Gyurka selbst macht im Laufe des Buches eine ungeheure Entwicklung durch, nach der Eingewöhnung und Erkenntniss, wie der Alltag des Lagerlebens aussieht, folgt gleichsam ein Absturz in die Unmenschlichkeit, Gyurka bringt gerade genug Kraft auf um sich in den nächsten Tag zu retten. So beklemmend ich es auch fand, von seiner naiven Vorfreude zu lesen, dieser Abstieg ist um vieles intensiver. Wie er erzählt sich in Tagträumen in die Vergangenheit zu versetzen zeigt, dass ihm andererseits die Realität deutlich bewusst wird. Als er an dem Punkt angelangt, dass er sich soweit aufgibt und schließlich den schattenhaften Gestalten ähnelt, die ihn anfangs so ängstigten, habe ich mich tatsächlich gefragt, wie der Ausweg aussehen wird. Und prompt wird der Freund, der ihn fast aufgegeben hätte, zu seinem Retter.


    Der folgende Aufenthalt im Hospital hat mich sehr irritiert. Dass ein Arbeitslager, im Gegensatz zu einem Vernichtungslager, eine Krankenstation hat ist einleuchtend. Aber auch dort hätte ich nicht vermutet, dass ein Insasse verlegt und über mehrere Monate gepflegt wird, ganz zu schweigen von der Vorzugsbehandlung, die Gyurka erhält. Dazu hätte ich gerne mehr gelesen, so bleibt es mir etwas zu schwammig. Grandios finde ich hingegen, wie Gyurka mittels der Lautsprecherdurchsagen und anderer Geräusche die Befreiung Buchenwalds erlebt, die er bis zur Abendessen-Meldung nicht so recht gut heißen kann.


    Die Ankunft in Budapest schließlich zeigt nochmal deutlich, dass Gyurka ein Jahr in einer gänzlich anderen Welt verbracht hat. Und hier projeziert Kertész meiner Meinung am eindeutigsten seine Gedanken auf seinen Protagonisten, denn auch nach der Entwicklung, die er durchgemacht hat, traue ich ihm diese Weisheit nicht zu. Kertész offenbart hier den Hintergedanken hinter dem Roman, vom "Glück der Konzentrationslager" zu erzählen, das wir als Außenstehende uns nicht vorstellen können.

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges

  • Das hast Du perfekt formuliert :daumen:


    Danke sehr! :smile:



    Es ist die gegenläufige Entwicklung zu dem, was vorher passierte: die Umkehr der Entmenschlichung. Ich finde es erstaunlich, wie wenig es letztlich braucht und wie schnell Gyurka sich wieder in bestimmte Gepflogenheiten einfindet. Kann man das wirklich so schnell?


    Ich glaube, das geht tatsächlich sehr viel schneller als der andere Weg. Wo Gyurka sich vorher in die besseren Zeiten flüchten musste, um den Abstieg zu verlangsamen, kann er nun rundum die Annehmlichkeiten genießen und wieder "Mensch werden". Er hat anfangs schon bewiesen, dass er gut darin ist die Grauen um sich herum zu ignorieren, im Hospital ist das, verbunden mit dem kleinen Luxus, sicher einfacher.



    Es klaffen aber mindestens genauso weite Gräben zwischen seiner Wahrnehmung und seinem Erleben des KZ und deren Außenwahrnehmung bei den Zurückgebliebenen. Die Problematik, wie er sein Empfinden und Erleben angesichts des Unverständnisses um ihn herum vermitteln kann oder soll, wird sehr deutlich. Eigentlich finde ich seine Erklärung gut nachvollziehbar, aber ich nehme sie natürlich auch mit einer anderen Ausgangslage auf als seine Gegenüber.


    Geht mir genauso, aber wenn ich überlege, dass ich nur oder zuerst das letzte Kapitel des Buches gelesen hätte, ginge es mir ähnlich wie den Zurückgebliebenen. Dieses von Gyurka beschriebene "Glück des Konzentrationslager" ist einfach schwer vorstellbar.



    Es ist bemerkenswert, daß aus Gyurka tatsächlich keine Rachegefühle sprechen, obwohl man sie ihm ja nicht einmal übel nehmen könnte. Das ist eine Form von Charakterstärke, die ihn deutlich auszeichnet.


    Aber er erwähnt dem Journalisten gegenüber an einer Stelle den Hass, den er empfindet, allen gegenüber (S.270). Das habe ich schon bem Lesen nicht recht verstanden und jetzt immer noch nicht, da es für mich nicht ins Bild passt sondern eher wie ein kurzer Ausbruch wirkt, um den Erwartungen des Gegenübers zu entsprechen.

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges


  • So beklemmend ich es auch fand, von seiner naiven Vorfreude zu lesen, dieser Abstieg ist um vieles intensiver.


    Anders beklemmend, zumindest ging es mir so. Denn während ich, heutiges Wissen hin oder her, seine Vorfreude als Leser nicht teilen konnte und es wohl auch in Realität selbst nicht gekonnt hätte, kann ich den Abstieg (bis zu einem gewissen Grad) verstandesmäßig nachvollziehen.



    Aber auch dort hätte ich nicht vermutet, dass ein Insasse verlegt und über mehrere Monate gepflegt wird, ganz zu schweigen von der Vorzugsbehandlung, die Gyurka erhält. Dazu hätte ich gerne mehr gelesen, so bleibt es mir etwas zu schwammig.


    Ja, das hatte ich ja auch schon „bemängelt“. Ich kann mir auch nicht erklären, warum er über Monate eine solch pflegliche Behandlung erfährt.



    Er hat anfangs schon bewiesen, dass er gut darin ist die Grauen um sich herum zu ignorieren, im Hospital ist das, verbunden mit dem kleinen Luxus, sicher einfacher.


    Das ist vermutlich ein entscheidender Punkt: er ist gut im Verdrängen dessen, was nicht gut ist, was belastend sein könnte. Die Konzentration auf sich selbst führt dann wohl zu einer schnellen „Regeneration“.




    Aber er erwähnt dem Journalisten gegenüber an einer Stelle den Hass, den er empfindet, allen gegenüber (S.270). Das habe ich schon bem Lesen nicht recht verstanden und jetzt immer noch nicht, da es für mich nicht ins Bild passt sondern eher wie ein kurzer Ausbruch wirkt, um den Erwartungen des Gegenübers zu entsprechen.


    Ging mir ähnlich, ich konnte mir an dieser Stelle diesen Begriff auch nicht erklären. Und auch Gyurka kann ihn nicht wirklich erklären, was bei einem solchen Gefühl aber auch nicht ungewöhnlich wäre. Wenn er aber wirklich Haß empfände, dann passen sein Verhalten und seine Erklärungsversuche den beiden alten Männern gegenüber nicht ins Bild. Und auch sein ganzes Verhalten und seine Wahrnehmung während der Lagerzeit gibt wenig Veranlassung zu glauben, daß sich daraus irgendwie Haß hätte entwickeln können. Daher glaube ich auch nicht, daß diese Äußerung ernst zu nehmen ist, wahrscheinlich ist es wirklich eine Reaktion, von der er glaubt, daß sie von ihm erwartet wird.

  • Hallo,


    ihr habt viel gutes über den Roman gesagt, viel neues kann ich nicht mehr beisteuern. Weil ich diesen Roman für wichtig halte, er begleitet mich schon 10 Jahre lang, möchte ich meine Eindrücke hier zusammenfassend festhalten:


    "Roman eines Schicksallosen"


    Im Galeerentagebuch verrät uns Kertész über den „Roman eines Schicksallosen“:


    Zitat von "Imre Kertész"

    Das Autobiographischste in meiner Biographie ist, daß es in "Schicksalslosigkeit" nichts Autobiographisches gibt. Autobiographisch ist, wie ich darin um der großen Wahrhaftigkeit willen alles Autobiographische weggelassen habe.

    (Galeerentagebuch Seite 185, Rowohlt Berlin 1993), demzufolge ich den Roman als Roman zu lesen habe, auch wenn ich weiß, dass Imre Kertész in den Konzentrationslagern war.


    Da sein Vater zum Arbeitsdienst einberufen werden soll, hat der fünfzehnjährige Gyurka Schulfrei bekommen. Der Roman wird aus der Sicht von Gyurka erzählt, der noch keinen Einblick in die Erwachsenenwelt hat, sich nicht darüber im klaren ist, dass er womöglich den letzten Tag mit seinem Vater verbringt. Von den Gefahren, denen Juden in dieser schrecklichen Zeit ausgesetzt sind, ist der Junge ahnungslos, vielleicht auch noch zu naiv, um zu begereifen , obwohl er den Judenhass eines Bäckers zu spüren bekommen hatte. Allerdings ist der Junge ziemlich aufgeweckt, weil er die Absurdität des Rassenhasses darlegen kann. Wenn wir den Roman allerdings weiterverfolgen, erscheint mir diese Aufgewecktheit allerdings unglaubwürdig. Denn obwohl Gyurkas Vater und Onkel Lajos die Gefahren des Nationalsozialismus erahnen oder wissen, bleibt der Junge ahnungslos und hinterfragt nicht. Natürlich habe ich mich gefragt, ob diese Ahnungslosigkeit nur aus heutiger Sicht naiv ist. Das Horthy-Regime war zwar antisemitisch und erließ diskriminierende Judengesetze, man ließ die Juden aber noch am Leben (siehe hier ). Erst als die Nazis 1944 Ungarn besetzten, in der Zeit, in der unser Roman spielt, wurden Hunderttausende in Konzentrationslager gebracht. Spätestens dann muss sich das in Ungarn herumgesprochen haben. Trotzdem, in seiner Unwissenheit ist Gyurka nicht allein. Gyurka, der „nicht einfach nur so dahinlebe, sondern in der Industrie kriegsgewichtige Arbeit leiste“, wird eines Tages auf dem Weg zur Arbeit aus dem Autobus geholt. Ein Polizist sammelt an diesem Morgen Juden aus den Autobussen heraus und bringt sie vorerst in ein Zollhaus. Für die Jungen, die sich von der Fabrik her kannten, war dieses Zusammentreffen belustigend, für die Erwachsenen, die auch im Zollhaus festgehalten wurden, war es eine Verunsicherung.


    Zitat von "Imre Kertész"

    ...alles Männer. Aber wie ich sah, haben sie den Polizisten schon mehr Mühe gemacht: sie verstanden die Sache nicht, schüttelten den Kopf, erklärten fortwährend etwas, holten immer wieder ihre Papiere hervor, belästigten ihn mit Fragen.


    Gyurkas Naivität erweist sich als treffendes Mittel, dem Leser die Grausamkeit der Lager näher zu bringen. Hierin verwirklicht sich offenbar Kertész Aussage


    Zitat von "Imre Kertész"

    Das Konzentrationslager ist ausschließlich als Literatur vorstellbar, als Realität nicht.

    (Galeerentagebuch, Seite 253).


    So assoziiert der Junge die Schornsteine von Auschwitz mit dem Schornstein einer Lederfabrik, den er mal gesehen hat, der auch Gestank verbreitet hatte. Auch die Bemerkung


    Zitat von "Imre Kertész"

    ...und der Ort, wo sie vergast wurden, sei sehr hübsch gelegen, zwischen Rasenplätzen, Wäldchen und Blumenbeeten: deshalb hatte ich schließlich den Eindruck, es sei eine Art Schabernack....


    schockiert, macht das Grauen erahnbar. Ich gebe gerne zu, mich selten so gegraut zu haben wie bei Kertész. Dagegen ist H.P. Lovecraft ein Klinkerlitzchen, der mich, weil sich andauernd Motive wiederholen, irgendwann dann auch gelangweilt hat. Nicht so bei Kertész. Naive Feststellungen, im KZ erfahren zu haben, dass Zigeuner Verbrecher seien, brennen sich in Gehirnwindungen. Durch Weglassungen bestimmte Wirkungen auf den Leser zu projezieren, ist eine große Kunst, und diese Kunst beherrscht Kertész. Der Leser ist der Wissende, Gyurka, was übrigens eine Verniedlichung von György ist, ist der Unwisende. Auch wenn Gyurka beim Anblick rauchender Schornsteine wie ein Wunder hinterfragt, "ob die Epidemie wohl solche Ausmaße habe, daß es so viele Tote gab.", bleibt Gyurka, der kleine Gyurika, der die Läuse beobachtet, die in seinem Fleisch saßen und sich von seiner Wunde nährten. Erschaudernd, wie er vom Ekel faulendendem Fleisches, von Krätze, erzählt, von scheußlichen Entdeckungen am eigenen Körper, sodass sich Gyurka nicht mehr waschen möchte. Und dann...


    Und dann musste ich grübeln, was György mit dem „Glück der Konzentrationslager“ meint. Glück an diesem Ort des Grauens? Wie absurd erscheint das, dabei ist das Überleben auch schon Glück, oder wenn man sich nach schinderischer Arbeit schlafen legen kann oder seine letzten Lebenskräfte aufspürt. Trotzdem erscheint es unglaublich, was der kleine Gyuri als Glück empfindet. Fesselnd und eindringlich sind die Erlebnisse in den Konzentrationslagern beschrieben


    Zitat von "Imre Kertész"

    „Mit einer solchen Last kann man kein neues Leben beginnen“, und da hatte er bis zu einem gewissen Grad recht, das mußte ich zugeben. Nur verstand ich nicht ganz, wie sie etwas verlangen konnten, was unmöglich ist,....


    Das "tagblatt" bringt einen Beitrag zum 80. Geburtstag des Autors Sie [url=http://www.tagblatt.de/Home/nachrichten/kultur/ueberregionale-kultur_artikel,-Literatur-Nobelpreistraeger-Imre-Kertesz-feiert-80-Geburtstag-_arid,83126.html]hier[/url].


    Liebe Grüße
    mombour :smile:

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