Textliche Bereinigung von Ki/JuLi - verständliche Anpassung oder reine Zensur?

Es gibt 24 Antworten in diesem Thema, welches 6.956 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von sandhofer.

  • Hallo zusammen,


    einen recht interessanten Artikel von Thomas Kielinger gab es vor ein paar Wochen in der Welt.
    Es wird gemeldet, dass der englische Verlag die bekannte "Fünf Freunde" Reihe nun zum zweiten Mal sprachlich und wohl auch inhaltlich "zeitgemäßer" gemacht hat, indem rassistische oder sexistische Wörter und Handlungen aus dem Text getilgt wurden. Außerdem wurden offenbar auch Namen von Figuren verändert, die in irgendeiner Weise Anstoß erregen könnten.


    Ich finde den Artikel ziemlich polemisch, dabei aber im Kern nicht uninteressant, denn es ist bei Kinder- und Jugendliteratur doch ein ziemlich schwieriges Problem, vor dem die Herausgeber älterer Bücher stehen: Auf der einen Seite steht natürlich auch bei Ki/JuLi die Integrität des Textes, den zu verändern einen Eingriff in die künstlerische Freiheit und auch in die Sphäre des Autors darstellt; auf der anderen SEite steht aber das berechtigte Interesse, dass Kinder nicht in unkommentierter Weise mit rassistischem, sexistischem oder militaristischem Gedankengut konfrontiert werden.


    Wie geht man damit um? Gewinnt auch bei Ki/JuLi die Unantastbarkeit des Textes letzter Hand? Oder ist Ki/JuLi stärker als Erwachsenenliteratur "überwachungsbedürftig", weil sie (auch) erzieherische Funktion erfüllt? Wahrscheinlich kommen wir so auch wieder einmal zu der Frage, ob es sinnvoll ist, Kinder-und Jugendliteratur von Erwachsenenliteratur zu trennen.


    Ich freue mich auf Eure Meinungen.


    Herzlich, B.

  • Das ist eine sehr interessante Frage. Ich halte die künstlerische Freiheit und die Unantastbarkeit von Texten für ein Gut, dass es mit Zähnen und Klauen zu verteidigen gilt. Zumindest ist das im Erwachsenenbereich so. Im Kinder- und Jugendlichenbereich sieht das möglicherweise anders aus. Natürlich kann man nicht wollen, dass junge Menschen mit rassistischem oder sexistischem Gedankengut konfrontiert werden. Aber wo zieht man da die Grenze und wo fängt die Zensur an? Wenn ich daran denke, wie in manchen US-Bundesstaaten z.B. mit Shakespeare im Schulunterricht umgegangen wird, wo man den Text ja bespricht und der Lehrer solche Themen in den Unterricht einbringen kann, gruselt es mich.


    Wenn Du sagst, dass Kinder- und Jugendliteratur nicht von Erwachsenenliteratur getrennt werden sollte, meinst Du damit, dass auch im Kinder/Jugendbereich eine Korrektur der Texte nach political correctness nicht vorgenommen werden sollte? Was heute politisch korrekt ist, kann doch morgen schon wieder überholt sein und nicht immer bedeutet "politisch korrekt" auch etwas Gutes. Zwischen 1933 und 1945 gab es auch jede Menge politisch korrekter Bücher.


    Da fällt mir spontan Gerhard Polts politisch korrektes "Sinti-Schnitzel" ein.


    Ich habe immer ein ungutes Gefühl, wenn es Büchern so "an den Kragen geht".

  • Hallo qantaqa,


    Zitat von "qantaqa"

    Ich halte die künstlerische Freiheit und die Unantastbarkeit von Texten für ein Gut, dass es mit Zähnen und Klauen zu verteidigen gilt. Zumindest ist das im Erwachsenenbereich so.


    So weit, so gut, da sind wir völlig einer Meinung. Schwierig wird's eben bei Ki/JuLi, wenn man davon ausgeht, dass sie immer auch einen pädagogischen Aspekt hat.


    Zitat

    Wenn Du sagst, dass Kinder- und Jugendliteratur nicht von Erwachsenenliteratur getrennt werden sollte [...]


    Das sage ich ja nicht. Ich sage, wir kommen wahrscheinlich wieder einmal zu der Frage, ob diese Trennung sinnvoll ist. Diese Frage haben wir hier schon häufiger diskutiert und ich erinnere mich an sehr vehemente Kritiker/innen dieser Trennnung (zB Capesider). Ich selbst bin in dieser Frage unschlüssig.


    Zitat

    Zwischen 1933 und 1945 gab es auch jede Menge politisch korrekter Bücher.


    Da musst du vorsichtig sein. "Political correctness" ist ein Konzept der 60er Jahre, das nicht mit "politisch erwünscht" zu verwechseln oder gar gleichzusetzen ist. Die Reichschrifttumskammer war nicht "politisch korrekt", wenn sie zensierte.
    Es gibt eine heiße Debatte um diesen Begriff, er ist seit einiger Zeit zur Zielscheibe der Ultrarechten geworden, wie man beim IDGR nachlesen kann.


    Herzlich, B.

    Einmal editiert, zuletzt von Bartlebooth ()

  • Zitat

    Zitat
    Zwischen 1933 und 1945 gab es auch jede Menge politisch korrekter Bücher.


    Zitat

    Da musst du vorsichtig sein. "Political corectness" ist ein Konzept der 60er Jahre, das nicht mit "politisch erwünscht" zu verwechseln oder gar gleichzusetzen ist. Die Reichschrifttumskammer war nicht "politisch korrekt", wenn sie zensierte.
    Es gibt eine heiße Debatte um diesen Begriff, er ist seit einiger Zeit zur Zielscheibe der Ultrarechten geworden, wie man beim IDGR nachlesen kann.


    Der Unterschied war mir nicht bekannt. Dann habe ich mich falsch ausgedrückt und ersetze "korrekt" durch "erwünscht". "Politisch erwünscht" ist mMn die Vorgabe, die eine Gesellschaftsordnung macht. So ist es im Bush-Amerika korrektes Verhalten, für einen Oscargewinn neben Vater, Mutter und wem auch immer auch Gott zu danken. Aus Sicht der Nazi-Ideologen waren solche Machwerke wie "Hitlerjunge Quex" erwünscht und dienten der Erziehung der Jugend in ihrem Sinne. Die Schriften der Aufklärung wurden in einem absolutistischen Staat bekämpft, weil nicht regimekonform. Für uns heute sind sie die Wegbereiter einer freiheitlichen und toleranten Gesellschaft. So hatte ich das gemeint.


    Ich bin aber wie Du unschlüssig, ob mit Kinderbüchern so verfahren werden sollte wie mit Erwachsenenbüchern, eben weil hier der pädagogische Aspekt eine Rolle spielt. Man sollte auch erwähnen, dass der schädigende Einfluss bestimmter Fernsehprogramme ebenfalls besteht, vielleicht noch viel mehr, weil junge Menschen leider mehr fernsehen als lesen, dieser aber eher zögerlich reglementiert wird, obwohl das sicher nötig wäre, wenn ich an diese Fernsehshows denke, in denen Menschen zur Schau gestellt, vorgeführt und lächerlich gemacht werden.

  • Meist geht es doch nur darum, ein Wort durch ein anderes zu ersetzen.
    Zum Beispiel findet man in vielen sehr alten Büchern die Bezeichnung "Neger" für Afro-Amerikaner. Weil das leider für den entsprechenden Autor normal war, bzw. niemand in der Zeit, in der das Buch entstand, Afro-Amerikaner sagte. Allenfalls wurden sie noch Mohr genannt.
    Da finde ich es absolut keine Verletzung von künstlerischer Freiheit, wenn "Neger" durch "Farbiger" oder "Schwarzer" ersetzt wird.


  • Man sollte auch erwähnen, dass der schädigende Einfluss bestimmter Fernsehprogramme ebenfalls besteht, vielleicht noch viel mehr, weil junge Menschen leider mehr fernsehen als lesen, dieser aber eher zögerlich reglementiert wird, obwohl das sicher nötig wäre, wenn ich an diese Fernsehshows denke, in denen Menschen zur Schau gestellt, vorgeführt und lächerlich gemacht werden.


    Das hat auch einen Grund, keine Regierung will es sich z.B. mit der Familie Mohn verscherzen. Natürlich wären Auflagen für Privatsender wünschenswert, aber s. oben...


  • Meist geht es doch nur darum, ein Wort durch ein anderes zu ersetzen.
    Zum Beispiel findet man in vielen sehr alten Büchern die Bezeichnung "Neger" für Afro-Amerikaner. Weil das leider für den entsprechenden Autor normal war, bzw. niemand in der Zeit, in der das Buch entstand, Afro-Amerikaner sagte. Allenfalls wurden sie noch Mohr genannt.
    Da finde ich es absolut keine Verletzung von künstlerischer Freiheit, wenn "Neger" durch "Farbiger" oder "Schwarzer" ersetzt wird.


    Da muss ich energisch protestieren! Gerade bei einem Buch wie Mark Twains "Huckleberry Finn" wäre die Ersetzung des sehr häufig verwendeten Wortes "Nigger" durch "Schwarzer" eine große sprachliche Verhunzung und außerdem eine Verfälschung des Textes. Zu Zeit der Sklaverei wurden die Sklaven eben nicht als "Schwarze" bezeichnet. Eine Änderung dahingehend würde m. E. eine Verharmlosung der Sklaverei bedeuten, und das kann ja wohl auch nicht der Sinn der Sache sein. Verschiedene Bezeichnungen für ein und dasselbe Phänomen sind eben nicht ohne weiteres austauschbar, sondern führen auch eine Menge von Assoziationen mit sich, die die Beurteilung des Phänomens beeinflussen.
    Drücke ich mich gerade verständlich aus? Vermutlich nicht, also ein simples Beispiel: Es macht einen großen Unterschied, ob ich sage "Dies ist mein Gatte", oder "Dies ist mein Mann". Obwohl der Sachverhalt gleich ist, werdet ihr einen ganz unterschiedlichen Eindruck von mir und meinem "Angetrauten" (= 3. Version) bekommen. Ein Wort durch ein Synonym zu ersetzen ist also nicht ganz so harmlos, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Mir gefällt die Idee der Textanpassung auf Anhieb nicht besonders. Warum kann man Ohrfeigen nicht als solche stehen lassen und (falls man glaubt, es sei unbedingt nötig) lieber durch Fußnoten ansprechen, dass diese Praxis "vor vielen Jahren leider gang und gebe war"? Auch zur Zeit der Ohrfeigen gab es ganz normale Strafarbeiten und eine Lehrerin, die mit der Hand regiert, kommt auf eine ganz andere Art beim Leser an als eine, die einfach "nur" eine kleine Strafarbeit erteilt oder "nur" schimpft.
    Und was nutzt die Streichung eines Namens "Dick" im Buch, wenn Dick oder Dickie gleichzeitig ein gängiger Spitzname im Alltag ist? Wieviele Bücher wollen sich die Korrektoren denn vorknöpfen, bei all den Kinder- und Jugendbüchern, die bis heute geschrieben worden sind und die oft noch von den Eltern weitergegeben werden - sei es als Lesetipp für den eigenen Nachwuchs, sei es als Original aus dem eigenen Schrank?


    Und ich stelle die Frage, ob man Kinder für blöder hält als sie es wirklich sind. Mir fallen auf Anhieb zwei Thesen ein, die ich im Zusammenhang mit "Mädchenliteratur" und "Märchen" im Kopf habe:


    Bei Mädchenliteratur hieß es mal, dass die Leserinnen nicht unbedingt das Frauenbild automatisch akzeptieren, geschweige denn annehmen, nur weil es im Kinder- oder Jugendbuch so steht. Vielmehr Einfluss habe es, was das Umfeld der Kinder vermittle.


    Bei Märchen gibt es diese Diskussion ja auch seit Jahren, was man Kindern zumuten kann und irgendwann kamen Stimmen dazu, die bemerkten, dass die Interpretation, die die Erwachsenen in die Texte legten, bei den Kindern gar nicht so ankäme. Wenn eine böse Königin in glühenden Schuhen tanzen muss, bis sie tot ist, stellten sich kein Kind die blutrünstigen Details vor, sondern läsen einfach raus, dass sich böse sein für die Königin nicht gelohnt habe.

    ☞Schreibtisch-Aufräumerin ☞Chief Blog Officer bei Bleisatz ☞Regenbogen-Finderin ☞immer auf dem #Lesesofa

  • Da muss ich energisch protestieren! Gerade bei einem Buch wie Mark Twains "Huckleberry Finn" wäre die Ersetzung des sehr häufig verwendeten Wortes "Nigger" durch "Schwarzer" eine große sprachliche Verhunzung und außerdem eine Verfälschung des Textes. Zu Zeit der Sklaverei wurden die Sklaven eben nicht als "Schwarze" bezeichnet. Eine Änderung dahingehend würde m. E. eine Verharmlosung der Sklaverei bedeuten, und das kann ja wohl auch nicht der Sinn der Sache sein. Verschiedene Bezeichnungen für ein und dasselbe Phänomen sind eben nicht ohne weiteres austauschbar, sondern führen auch eine Menge von Assoziationen mit sich, die die Beurteilung des Phänomens beeinflussen.


    Ich stimme Saltanah zu. Man kann vielleicht viele Wörter ersetzen, aber nicht bei diesem Beispiel. Nigger oder Neger waren und sind Schimpfwörter. Die Leute damals haben den Schwarzen ja auch abgesprochen eine Seele zu haben. Das sollte beim Lesen rüberkommen und das tut es nicht, wenn man die Sache verharmlost.


    Schwarzer und Farbige sind unsere Begriffe und vielleicht in 100 Jahren auch verpönt, genauso wie Neger oder Nigger heute. Gerade bei historischen Büchern sollte man alles so lassen wie es ist. Die Leute haben sich ja etwas gedacht dabei als sie es geschrieben haben.


    Bei den Märchen ist das alles Ansichtssache. Die Gebrüder Grimm haben ja keine Kindermärchen geschrieben, sondern für Erwachsene. Erst später sind sie zu Märchen für Kinder geworden.
    Ich finde Tom&Jerry auch sehr arg (heute). Mit zehn wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass ich das alles nachmache. Und das ist bei Märchen auch so.


    Kinder denken anders wie wir und das sollten wir immer bedenken, wenn wir über so etwas diskutieren.


    Katrin

  • Hi!


    Zuerst möchte ich Saltanahs Posting voll und ganz zustimmen.


    Bettinas Idee mit den Fussnoten hatte ich spontan auch. Man sollte die Texte im Original belassen und bei heiklen Wörtern/Passagen kurze Erklärungen dazuschreiben. Das hat zwei Vorteile: Man kann die Texte im Original lassen und die Kinder lernen auch noch gleich etwas dabei. Eine "textliche Bereinigung" kann nämlich auch als Zensur gesehen werden. Und da bin ich schwer dagegen...


    Liebe Grüsse


    Alfa Romea

    Wer anderen folgt, wird nie zuerst ankommen.

  • Alfa_Romeas Idee kann ich nur voll und ganz zustimmen. Die Kinder von heute vertragen mehr als man denkt und es ist ja wohl auch nichts schlimmes dabei sie mit einem Stück Wirklichkeit zu konfrontieren.


  • Meist geht es doch nur darum, ein Wort durch ein anderes zu ersetzen.
    Zum Beispiel findet man in vielen sehr alten Büchern die Bezeichnung "Neger" für Afro-Amerikaner. Weil das leider für den entsprechenden Autor normal war, bzw. niemand in der Zeit, in der das Buch entstand, Afro-Amerikaner sagte. Allenfalls wurden sie noch Mohr genannt.
    Da finde ich es absolut keine Verletzung von künstlerischer Freiheit, wenn "Neger" durch "Farbiger" oder "Schwarzer" ersetzt wird.


    Bei Pipi Langstrumpf auf Taka-Tuka-Land wurde das Wort Neger beibehalten. Allerdings gibt es eine Fußnote, in der erklärt wird, dass man das Wort heute nicht mehr gebraucht. Das ist doch eine ganz gute Lösung, oder?


    Ansonsten bin ich schon der Meinung, dass man Texte nicht verändern sollte, weil man eben aus älteren Romanen/Texten lernen kann, was früher normal oder üblich war. Kinder können da natürlich weniger gut differenzieren. Da ist es aber Aufgabe der Eltern, gewisse Begriffe zu erklären. Ich würde aber auch nicht vehement für "Keine Korrektur" plädieren.


    Mein Senf
    Claudi

  • Hallo zusammen,


    Ich weiß nicht, ob Fußnoten tatsächlich eine so ideale Lösung sind. Ich finde, je weiter wir im Bereich der JuLi sind, desto möglicher wird eine solche Vorgehensweise. Aber wenn ich im Bereich von Kinderliteratur bin, bei Erstlesebüchern oder sogar Bilderbüchern, was mache ich dann? Fußnoten für Kinder, die gerade mal lesen gelernt haben? Und darin differenzierte historische Sachverhalte klären? Ich weiß nicht...


    Natürlich ist es verfälschend, in einem in den amerikanischen Südstaaten des 19. Jahrhunderts angesiedelten Roman, das Wort "nigger" durch "afro-american" zu ersetzen. Aber bei Kinderbüchern, die nicht in einem so klar definierten historischen Rahmen spielen? Oder gar bei Büchern, die in einem totalen Phantasieland spielen, in dem aber unterschwellig bestimmte rassistische Stereotype Pate standen?


    Auch die Märchen sind mit ihren holzschnittartigen Charakteren kein so gutes Beispiel, wie ich finde. "Böse sein" heißt hier ja meistens, jemandem nach dem Leben trachten, das ist irgendwie alles ziemlich klar und eindeutig. Aber wie steht es mit Büchern, in denen "böse sein" darin besteht, den Eltern nicht aufs Wort zu gehorchen? Wie ist es, wenn Frauen arbeiten gehen und deshalb dem Kind etwas zustößt? Das sind erstmal frei erfundene Beispiele, aber ich bin sicher, dass man solche Sachen in Kinderliteratur en masse finden könnte, wenn man nur suchte.


    Es mag schon sein, dass Lektüre einen geringeren Einfluss auf die Entwicklung der Kinder hat als das Umfeld; aber hat sie gar keinen? Und leben wir tatsächlich schon in einer Welt, in der unterschwellige Rassismen oder S.e.x.ismen weitestgehend auszuschließen sind? Das bezweifle ich sehr.


    Die Schwierigkeiten beginnen ja immer bei den Grenzfällen.


    meint: Bartlebooth.

    Einmal editiert, zuletzt von Bartlebooth ()

  • Hallo zusammen,


    ich plädiere für "nicht anpassen" und zwar zum einen aus dem Grund, der hier schon mehrfach genannt wurde: man sollte die Kinder nicht für dumm halten, zum anderen handelt es sich doch auch um Texte, die ein gewisses Bild nicht nur von der Zeit im Buch, sondern auch von der Zeit des Autors zeigen. Bei extremen Auswüchsen einzuschreiten, fände ich ok: dann wäre es aber konsequent, das gesamte Buch nicht mehr zu verlegen.


    Mal am Beispiel von "Nesthäkchen": ein Mädchen, das diese Bücher toll findet, ist sicher trotzdem nicht bereit, ein Hausmütterchen und "dem Manne untertan" zu werden. An den Nesthäkchenbüchern wurde ja nun wirklich geändert: zum einen wurden bestimmte sprachliche Formulierungen, die den Neuverlegern wohl antiquiert vorkamen, "neutralisiert" - das finde ich sehr schade, aus dem oben genannten Grund. Zum anderen wird das Buch "Nesthäkchen im Weltkrieg", das wohl sehr fremdenfeindlich war, nicht mehr verlegt - das finde ich konsequent und richtig.


    Ich mag Nesthäkchen übrigens trotz allem sehr und würde es sicher meinen Kindern vorlesen - und erklären, dass die Welt heute nicht mehr so ist.


    Liebe Grüße
    Manjula

  • Hallo Manjula,


    sehr interessant, dass diese "Textanpassungen" doch offenbar verbreiteter sind als ich bisher angenommen habe!


    Das Argument, Kinder seien nicht dumm, überzeugt mich übrigens immer noch nicht, denn es geht hier ja nicht um eine Frage des intellektuellen Verstehens, sondern um eine der Prägung. Ich kann zwar hoffen, dass Kinder aus ihrem sozialen Umfeld heraus genug Vorbilder haben, um zB ein antiquiertes Frauenbild à la "Nesthäkchen" in Frage zu stellen, aber gesichert ist das ja keinesfalls. Es geht also im Kern schon darum, ob Kinderliteratur einen pädagogischen Auftrag hat.


    Etwas gar nicht mehr zu verlegen ist übrigens auch (Selbst-)Zensur. Dieses Vorgehen ist nur insofern "besser", als es die Integrität des Textes nicht antastet. Aber ist das besser? Oder wäre es nicht zu dulden einzelne Vokabeln und/oder Situationen (wenn sie nicht essentiell für die Handlung sind) zu tauschen, um einen vielleicht gut geschriebenen Plot zu retten?


    Herzlich, B.

  • Hallo bartlebooth,


    tja, gesichert ist das natürlich nicht. Das Beispiel Nesthäkchen ist in diesem Zusammenhang vielleicht auch nicht ganz passend, weil dieses Frauenbild ganz erkennbar antiquiert ist. Bei "moderneren" Romanen, die unterschwellig ein zweifelhaftes Menschenbild vermitteln, ist es wohl schwieriger für die Kinder, das als reine Fiktion und nicht vorbildhaft einordnen zu können. Schwierig. Optimal wäre wohl, wenn die Eltern eine gewisse Vorauswahl treffen und das (Vor-)gelesene mit den Kindern besprechen. Aber das konsequent durchzuziehen ist wahrscheinlich illusorisch.


    Ich stimme Dir zu, dass das Nichtverlegen auch Zensur ist. Wenn ein Text aber derart vermurkst ist, ist mir das lieber stückwerkhafte Korrekturen. Und wer kann entscheiden, welche Situationen wichtig sind für einen Roman? Ich ärgere mich immer über gekürzte Bücher; auch wenn die gekürzten Szenen nicht unbedingt essentiell waren - sie gehören doch dazu.


    Liebe Grüße
    Manjula

  • In Sachen Fußnoten möchte ich hinterherschieben, dass ich keineswegs an lange Betrachtungen gedacht habe, sondern an kurze Bemerkungen - und das auch nur, wenn es wirklich sinnvoll ist. Kindern längere und viele Fußnoten unterzujubeln wäre in der Tat blödsinnig.
    Wobei ich die Lesefähigkeit einer Enid Blyton-Leserin eigentlich so gut einschätze, dass sie einen zusätzlichen Satz am Seitenende schon lesen und einordnen kann, ohne dass das ihre Geschichte stört. Oder liege ich da so verkehrt?


    Das Argument, Kinder seien nicht dumm, überzeugt mich übrigens immer noch nicht, denn es geht hier ja nicht um eine Frage des intellektuellen Verstehens, sondern um eine der Prägung. Ich kann zwar hoffen, dass Kinder aus ihrem sozialen Umfeld heraus genug Vorbilder haben, um zB ein antiquiertes Frauenbild à la "Nesthäkchen" in Frage zu stellen, aber gesichert ist das ja keinesfalls. Es geht also im Kern schon darum, ob Kinderliteratur einen pädagogischen Auftrag hat.


    Einen Auftrag will ich Kinderbüchern gar nicht absprechen. Aber kann ein Kinderbuch das prägende Umfeld in seiner Wirkung knacken oder kann es eher dessen Wirkung unterstützen? Ich kann es nicht endgültig beurteilen, vermute aber dass ein Kind mit einem vorgelebten Nesthäkchen-Frauenbild anfälliger dafür ist, das auch zu leben, als ein Kind, das Nesthäkchen liest, aber ein gegenteiliges Umfeld hat.?.?

    ☞Schreibtisch-Aufräumerin ☞Chief Blog Officer bei Bleisatz ☞Regenbogen-Finderin ☞immer auf dem #Lesesofa

  • Wenn man der Meinung ist, dass ein bestimmtes Buch nicht (mehr) kindgerecht ist, dann muss man es eben zu "Erwachsenenliteratur" umdefinieren und es nicht mehr für die mentale Aufzucht der Schrazen verweden - wenn man es schon nicht hinbekommt, mit seinen Blagen über einen Text zu sprechen. Das wäre jedenfalls besser, als alles auszumerzen, was man derzeit für schlecht hält.


  • Wenn man der Meinung ist, dass ein bestimmtes Buch nicht (mehr) kindgerecht ist, dann muss man es eben zu "Erwachsenenliteratur" umdefinieren und es nicht mehr für die mentale Aufzucht der Schrazen verweden - wenn man es schon nicht hinbekommt, mit seinen Blagen über einen Text zu sprechen. Das wäre jedenfalls besser, als alles auszumerzen, was man derzeit für schlecht hält.


    Hallo Kringel,


    das Problem ist, dass sich Dein "man" auf zwei verschiedene Referenten bezieht: Zum einen auf die Herausgeber der Bücher, zum anderen auf die Eltern. Ich kann Bücher solange ich will "zu Erwachsenenliteratur umdefinieren" (wobei da natürlich bei vielen Büchern auch inhaltliche und formale Gründe im Wege stehen, aber das nur nebenbei); wenn die Eltern es ihren Kindern dennoch zum Lesen geben weil sie es früher doch auch gern gelesen haben, dann ergibt sich daraus ein Problem, das so leicht nicht zu lösen ist, wie Du es hier suggerierst, auch wenn ich den Anteil Ironie abziehe ;-).


    Herzlich, B.

  • Ich gehe jetzt mal von mir aus:
    Meine Mutter hat die Bücher die ich gelesen habe, immer gesehen, weil sie in der Bücherei dabei war als ich sie mir ausgeborgt habe. Sie kannte sicherlich nicht immer den Inhalt des ganzen. Aber wenn ich was nicht verstanden habe, dann bin ich gekommen und habe sie gefragt.


    Was das Thema Nesthäckchen angeht. Ich habe sie auch gelesen und habe sicher nicht so eine Lebensweise. Aber Kinder, die diese Bücher nicht lesen und in so einem Umfeld aufwachsen, werden das beibehalten, weil es ihnen vorgelebt wird. Ich denke, dass diese Diskussion derzeit die Wirkung von Büchern überschätzt.


    Ich habe als Kind gerne Fantasie Bücher gelesen und denke doch nicht dass am Mond grüne Männchen wohnen. Ich habe Raumschiff Enterprise gesehen und bei einer Ausstellung über die Mondlandung von Armstrong bin ich auch nicht Mr. Spock suchen gegangen.


    Ich bin nach wie vor überzeugt, dass das Vorleben der Eltern viel mehr Gewicht hat als irgendein Buch. Und wenn die Eltern Neger sagen, dann werden das auch die Kinder so lernen, auch wenn es in keinem Buch der Welt mehr zu finden sein wird.


    Katrin