Uwe Johnson - Mutmassungen über Jakob

Es gibt 14 Antworten in diesem Thema, welches 5.960 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von HoldenCaulfield.

  • "Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen."
    So lautet der erste Satz und von nun an wird der Leser aufgefordert, eigene Vermutungen anzustellen, wieso Jakob schlussendlich ums Leben kam. Dabei wird dem Leser einige Konzentration abverlangt, denn die Wochen vor Jakobs Tod werden gröβtenteils aus den Gedanken der Protagonisten umrissen. Kleine Fetzen, die von verschiedenen Personen aus Jakobs Umkreis erdacht werden. Wer genau das Wort ergreift und worüber gerade erzählt wird, muss selbst herausgefunden werden – anhand des Sprachstils oder der Umstände des Einzelnen. Ein Schema wird zusammengesetzt, ein anderes wieder verworfen, da der Erzähler vielleicht falsch gemutmasst hat oder weil ein zusätzliches Detail in die Runde geworfen wurde. Doch worum geht es in dieser Geschichte?


    Jakob lebt in mecklenburgischen Jerichow als Rangierer der Reichsbahn. Seine Mutter flüchtet nach Westdeutschland und als seine Freundin Gesine im Westen für die NATO arbeitet, könnte von nun an Jakob für die Stasi von Interesse sein. Die Stasi taucht in der Gestalt von Rolfhs auf, der, um die Sache zu erschweren, mit mehreren Namen auftaucht. Rolfhs setzt sich in Jerichow ab, um Jakob zu beobachten und verfolgt ihn, lässt ihn jedoch an der langen Leine. Selbst als Jakob für kurze Zeit nach Westdeutschland reist, lässt Rolfhs ihn gewähren. Als Jakob enttäuscht von dort zurückkommt, wird er vom Zug überrollt.


    Interessant ist die Distanz des Autors zu seinen Figuren. Seine Protagonisten führen ein Eigenleben, sie handeln und denken selbständig, ohne ersichtliches Eingreifen des Autors – was zur Folge hat, dass weder beschönigt, noch verurteilt wird und findet womöglich Verständnis für deren Taten.


    Punkte werde ich jedoch nicht verteilen, da für mich noch einige Rätsel ungelöst geblieben sind und somit ein zweites Lesen erforderlich macht. Wer sich darauf einlässt, findet Gefallen an der anspruchsvollen Spurensuche.


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    Einmal editiert, zuletzt von dumbler ()

  • Hallo dumbler,


    Vielen Dank für Deine Würdigung eines der schwärzesten Löcher meiner Lektürevergangenheit. "Mutmaßungen über Jakob" habe ich vor ungefähr 20 Jahren mal bis fast zu Ende gelesen. Ex gehört zu den Büchern, die ich an einer Hand abzählen kann, die ich kurz vor Schluss noch abgebrochen habe, weil ich einfach überhaupt nicht verstanden habe, worum es geht. Wenn ich Deine Zusammenfassung lese, dann wundert mich das nicht mehr, denn ein Buch, in dem mit Perspektiven gespielt wird, in dem nicht klar wird, wer spricht, ein Buch voller Mutmaßungen eben, das war für mich im zarten Alter von 15 oder 16, in dem ich noch Hesse mit Begeisterung gelesen habe, einfach eine klare Überforderung.


    Danke, dass Du es mir wieder in Erinnerung gerufen hast, vielleicht nehme ich es ja in den nächsten SUB-Listenwettbewerb, 20 Jahre SUB, das ist doch nicht schlecht :breitgrins:!


    Übrigens: Weiß jemand in welcher Beziehung das Buch zu den "Jahrestagen" steht? "Gesine" ist doch Gesine Cresspahl? Ist es Vorgeschichte oder Fortsetzung oder ganz was anderes?


    Herzlich, B.

  • Hallo Barlebooth,


    Danke schön!
    Es ist hilfreich zu wissen, daß in fast jedem Absatz eine andere Person spricht. Ausserdem brauchte ich zum Einsteigen eine Inhaltsangabe, um mehr oder weniger zu verstehen, worauf die Personen und Umstände sich bezogen.
    Anstrengend, aber lohnenswert.


    Ist "Jahrestage" denn einfacher zu lesen? 200 Seiten in dem Stil sind ja noch in Ordnung, doch knappe 2000 wäre für mich doch ein wenig zu anstrengend.


    LG,
    dumbler

  • Und ich dachte, ich sei zu dumm für dieses Buch :rollen:


    Ich hatte große Probleme festzustellen, wer denn nun gerade spricht. Manchmal ehrlich gesagt auch mit dem, was gerade gesagt wird, weil dieser Dialekt mir nicht geläufig ist. Damit der Handlung zu folgen, war alles andere als einfach. Deshalb wird mir leider einiges entgangen sein. Trotzdem hatte das Buch etwas, was mich immer weiter lesen lies. Vielleicht nur die Frage, warum Jakob über die Gleise lief? Ich weiß es nicht, aber trotz aller Verständnisschwierigkeiten hat es mir gefallen und ich habe mir fest vorgenommen, es noch einmal zu lesen. Vielleicht verstehe ich im zweiten Anlauf mehr.

  • So nun habe ich es mal geschafft den Roman auch zu Ende zu lesen, hat ja auch lange genug gedauert...


    Meine Meinung:
    Ich gebe zu ich habe mich einfach nur noch durch das Buch gequält. Die meiste Zeit hab ich nicht mal versteanden was genau gerade passiert oder was zwischen den einzelnen Figuren besprochen wird.


    Wenn ich durch Jahrestage und diverse Inhaltsangaben nicht gewusst hätte was mit Jakob passiert ist und wie, hätte ich den Rahmen der Handlung wohl ganz aus den Augen verloren.


    Die Geschichte ist sehr verwirrend geschrieben. Anfangs wusste ich wenigstens ungefair wer gerade von wem erzählt, irgendwann war mir oft nichteinmal mehr das klar. Von den Figuren und vorallem von Jakob habe ich deshalb eher wenig bis gar nichts mitbekommen. Die Idee selbst ist eigentlich gut, Freunde, Bekannte, Verwandte und auch eher flüchtige Bekanntschaften unterhalten sich über eine Person die gestorben ist. Mal durch Erinnerungen an bestimmte Ereignisse, mal werden Rückblenden eingeworfen, mal Gedankenfragmente, wenn ich das richtig verstanden habe auch von dem toten Jakob.


    "Mutmaßungen über Jakob" scheint ein Roman zu sein den man nicht ohne Lektürenhilfe lesen sollte, weil man ihn sonst nicht verstehen kann - mir ging es jedenfalls so. Vorerst werde ich wohl auf ein Reread mit solch einer Erläuterung dankend verzichten...


    Weitere Meinungen würden mich natürlich brennend da ich es spannend fände zu wissen wie andere das Buch empfunden haben. Eine Empfehlung für eine gute Erläuterung/Lektürenschlüssel wäre natürlich auch nicht zu verachten^^

  • *hüstel* Wie bin ich nur auf die Idee gekommen ausgerechnet diesen Roman für mein Seminar über Romane der Zeitgeschichte als Quelle aus zu suchen? Gut ich liebe "Jahrestage" von Uwe Johnson... ich hätt einfach diesen vorschlagen sollen :lachen: (da hätt ich dann aber auch schon viel früher anfangen müssen *g*) Aber gut ich bin gespannt was ich finden werde, mich reizt der verschobene Blickwinkel als Historiker. Ich lese ja hier vor allem um Dinge heraus zu lesen die etwas über die Zeit der Entstehung aussagen.

  • Erinnerung und wie wird Erinnerung vermittelt. Ein Roman als Quelle. Schon Johnson selbst sieht sich als eine Art Chronist seiner Zeit. Er schreibt über Menschen seiner selbst erlebten Zeitgeschichte, als Zeitzeuge über Zeitzeugen die er zwar erfindet, denen er aber eigene Erfahrungen und Beobachtungen zuweist und sie damit lebendig werden lässt. Mentalitäts und Kulturgeschichtlich ist gerade dieses Zusammenspiel von selbst Zeitzeuge sein und gleichzeitig eine Quelle auch für Historiker zu erschaffen wahnsinnig spannend.

  • Ohne ein Seminar zur Erzähltheorie (oder sowas) hätte ich diesen Roman vielleicht nie gelesen. Es war keine angenehme Lektüre, eher eine sehr anstrengende. Es ist wirklich schwierig, der Handlung zu folgen, es wird nicht gesagt, wer gerade erzählt, wer spricht und so weiter. Der arbeitsintensive Teil bestand darin, herauszufinden, was vor sich geht. Davon abgesehen, hat mir der Roman hingegen sehr gut gefallen, es gibt immer wieder Passagen von berückender sprachlicher Schönheit, kühl und poetisch, und diese haben mich am meisten für das Weiterlesen motiviert. Auch die Konstruktion des Ganzen ist beeindruckend, wenngleich nicht gerade leserfreundlich. Kurzum, manchmal ist Arbeit nötig, um Zugang zu einem wunderbaren Buch zu finden, in dieser Hinsicht bin ich Kummer und Freude gewöhnt. Hier jedenfalls bin ich reich belohnt worden und habe mir schon mehrmals überlegt, vielleicht auch noch die "Jahrestage" zu lesen, aber auf so vielen Seiten wäre mir Johnsons Stil dann vielleicht doch zu anstrengend. Vielleicht werde ich mich irgendwann im Leben langweilen, was bisher nicht vorkommt, und für diese Zeit wäre es ein schönes Projekt...
    Einstweilen aber vergebe ich:
    5ratten

    Tell all of my friends, I don&#039;t have too many: just some rain-coated lovers&#039; puny brothers. Dallow, Spicer, Pinkie, Cubitt - rush to danger, wind up nowhere.<br />Patric Doonan - raised to wait. I&#039;m tired again, I&#039;ve tried again...<br />and now my heart is full. Now my heart is full and I just can&#039;t explain, so I won&#039;t even try to.<br />(Morrissey)

  • Rydal
    Wenn Du Die Mutmaßungen geschafft hast sind die Jahrestage viel einfacher. Nach meinem Gefühl ist dieser Roman anders geschrieben und weniger kompliziert in der Erzählweise. Dadurch auch flüssiger zu lesen. Weil eben diese Erzählperspektive dort nicht so schwer zu deuten ist. Obwohl er trotzdem genauso großartig ist. Zu dem wirst Du Gesine wieder treffen - diese Verbindung mag ich sehr. :)


  • Rydal
    Wenn Du Die Mutmaßungen geschafft hast sind die Jahrestage viel einfacher. Nach meinem Gefühl ist dieser Roman anders geschrieben und weniger kompliziert in der Erzählweise. Dadurch auch flüssiger zu lesen. Weil eben diese Erzählperspektive dort nicht so schwer zu deuten ist. Obwohl er trotzdem genauso großartig ist. Zu dem wirst Du Gesine wieder treffen - diese Verbindung mag ich sehr. :)


    Danke für den Hinweis. Im Juli erscheint ja eine Neuausgabe der "Jahrestage"...
    http://www.suhrkamp.de/buecher…e_-uwe_johnson_46455.html

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