Dimitré Dinev - Engelszungen

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    Klappentext:
    "Engelszungen" ist ein Roman, der von der Kühnheit der Genialität lebt. Wer würde wagen, eine Geschichte zu erzählen, in der zwei Einwanderer aus Bulgarien und ein Ex-Jugoslawe, der, nebenbei bemerkt, bereits verstorben ist, die Hauptrolle spielen?
    Wobei freilich auch noch zu erwähnen ist, dass Miro, unser toter Serbe, als Engel der Einwanderer vom Wiener Zentralfriedhof aus amtiert, während Svetljo und Iskren in ihrem Leben nichts ausgelassen haben, was in die falsche Richtung führt. Nun ist ein Engel, an den sie beim besten Willen nicht einmal selbst so richtig glauben können, ihre letzte Hoffnung. Auf der Suche nach einem besseren Leben, so stellt sich heraus, reden wir in unserer Verzweiflung gerne auch mit einem toten Serben - und Engel, die auf Gräbern hocken und mit Handys agieren, erscheinen ab irgendeinem Punkt völlig normal.
    Man merkt Dimitré Dinev an, dass er die großen russischen Meister der Erzählkunst genau studiert hat: mit einem Federstrich entwirft er ein Universum.


    Autor:
    Dimitré Dinev, geboren 1968 in Bulgarien, besuchte das Bertolt Brecht-Gymnasium in Plovdiv, ab 1986 erste Veröffentlichungen in bulgarischer, russischer und deutscher Sprache. 1987/89 Armeedienst, 1990 Flucht nach Österreich. Seit 1991 Studium der Philosophie und russischen Philologie in Wien, seit 1992 Drehbücher, Übersetzungen, Theaterstücke und Prosa in deutscher Sprache, zahlreiche Auszeichnungen und Literaturpreise.
    Dimitré Dinev lebt als freier Schriftsteller in Wien.


    Meine Meinung:
    Der Klappentext erzählt eigentlich nur den Beginn des Romans - nämlich wie sich die beiden "Illegalen" Iskren und Svetljo, von denen jeder in ziemlichen Schwierigkeiten steckt, am Grab des Serben Miro begegnen.
    Nun werden in Rückblenden die Familiengeschichten der beiden Bulgaren erzählt - anfangs als zwei völlig getrennt laufende Handlungsstränge, aber der Leser erkennt bald, dass die beiden Familien seit Generationen schicksalshaft miteinander verknüpft sind und es nur eine Frage der Zeit war, bis sich die beiden jüngsten Sprösslinge Aug in Auge gegenüberstehen. Man verfolgt die Geschichte der Familien Mladenov und Apostolov praktisch durch das gesamte 20. Jahrhundert und bekommt quasi nebenbei viel über das kommunistische Bulgarien mit. Und dabei kommt der Erzähler bei aller Ernsthaftigkeit und Nachdenklichkeit immer mit einem Augenzwinkern und einem kleinen Schmunzeln daher.
    Warum ich oben einige Eckdaten aus dem Leben des Autors angegeben habe, hat einen besonderen Grund. Viele der Jahreszahlen, die in dem Buch auftauchen, decken sich mit seiner eigenen Biographie: das Geburtsjahr Svetljos, sein Armeedienst, seine Flucht nach Österreich - sogar die Studienrichtung (Russische Philologie), die Svetljo inskribiert, um nicht so schnell abgeschoben zu werden. Man darf also davon ausgehen, dass die Geschichte allerhand autobiographische Züge enthält - und bei diesem Gedanken muss man angesichts der Tragödien der Familien Mladenov und Apostolov, die sich hinter all dem Humor verbergen, schon schlucken.


    Es gibt in dem Buch viele Stellen, die mir wegen ihrer Poesie und Metaphorik im Gedächtnis geblieben sind, andere wegen ihrer Heiterkeit und Ironie, wieder andere aufgrund ihrer Eindringlichkeit und Schonungslosigkeit. Eine von den letzteren bezieht sich auf die Situation der Flüchtlinge nach dem Fall des Kommunismus:


    “Kommt und seht, was wahre Freiheit und Demokratie ist“, hatte immer wieder der Westen den Osten umworben. Und als die Menschen des Ostens endlich kommen konnten, wurden sie schon an der Grenze aufgehalten und mit den Worten empfangen: „Kehrt alle um, da gibt’s nichts zu sehen.“ Und wieder standen sie vor uniformierten Leuten. Nun waren sie von beiden Seiten betrogen. Früher hatte die eine Seite für sie die Grenzen errichtet, jetzt die andere. Gab es denn noch etwas in dieser Welt, worauf sie vertrauen konnten? Ein Gesetz, ein System, ein Versprechen, eine Ideologie, eine Macht, ein Wort?
    Oder sollten sie so lange hinter den Stacheldrahtzäunen warten, bis ihnen Flügel wuchsen? Dort, wo die Logik versagt und keinen Halt mehr gibt, bleibt einem sowieso nichts anderes übrig, als auf ein Wunder zu hoffen. Ein großes hatten sie schon erlebt, warum nicht noch eines?


    5ratten

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    Einmal editiert, zuletzt von Alfa_Romea ()

  • Hallo Bluebell!


    Ich war gestern bei einer Autorenlesung von Dimitre Dinev. "Engelszungen" habe ich schon länger auf meiner Wunschliste, gestern las er aus seinem neuen Buch "Ein Licht über den Kopf", ein Band mit Erzählungen.


    Aufgrund der Themen, die er beschreibt, war ich auf einen eher traurigen, nachdenklichen Abend eingestellt. Dinev entpuppte sich aber als absolut lebensbejahender, humoriger, witziger, sarkastischer und ironischer Autor, wenn dem Leser bzw. Zuhörer auch oftmals das Lachen im Hals steckenblieb .....


    Dinev selber ist eine sehr unscheinbare, bescheidene, witzige, total optimistische und hoch intelligente Person, mit dem gewissen scharfen Blick auf die gesellschaftlichen Missstände, doch alles in allem liebt er die Menschen, stellt seine eigene Person in den Hintergrund und kommt recht sympathisch rüber.


    Ich werde mir bei der nächsten Gelegenheit "Engelszungen" zu Gemüte führen und bin schon sehr gespannt!

    :blume:&nbsp; Herzliche Grüße!&nbsp; :blume: <br />creative

  • Hallo creative!


    Endlich noch jemand, der Dimitré Dinev kennt und mag! Ich versteh gar nicht, warum er und seine Bücher nicht berühmter sind ...
    "Ein Licht über dem Kopf" steht noch auf meiner Wunschliste.
    Was du von der Lesung erzählst, klingt ja sehr interessant! Ich habe vor ein paar Wochen einen Bericht in "Heimat, fremde Heimat" über Dinev gesehen und mich gleich wieder ganz intensiv an "Engelszungen" erinnert. Bin schon sehr gespannt, wie es dir gefällt!


    LG, Bluebell

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  • Hallo Bluebell und Creative,


    das Buch subbt bei mir schon länger, dank eurer Begeisterung werde ich es bald lesen. :smile:
    liebe Grüsse
    dora

  • So, endlich gelesen - und sehr genossen!


    Die beiden aus Bulgarien stammenden Migranten Svetljo und Iskren treffen einander am Grab des Serben Miro am Wiener Zentralfriedhof. Beide sind finanziell am Ende, beide sind gestrandete Kreaturen und erhoffen sich vom mittlerweile toten „Engel der Einwanderer“, der mit seinem Handy begraben werden wollte, eine Lösung für ihre miserablen Lebenslage.


    Mit dieser zugegebenermaßen skurilen Ausgangsposition beginnt ein Familienepos der Sonderklasse mit dem Hintergrund des Bulgariens des 20. Jahrhunderts.


    Zitat

    Autor Dimitré Dinev in einem Interview auf www.buchkritik.at:

    Außerdem glaube ich, dass die schrecklichsten und grausamsten Geschichten nur durch Humor vermittelbar sind. Sie werden erträglich, ohne dabei an Wirkung und Ernst zu verlieren. Sie bleiben so auch länger im Bewusstsein haften, denn man erinnert sich viel lieber an das worüber man gelacht hat. Also habe ich mich für diesen Stil mehr oder weniger bewusst entschieden.


    Es ist wiederum der Stil und die Erzählweise, die dieses Buch so fesselnd machen. Den Haupterzählstrang dieses 600 Seiten umfassenden Buches machen die Kindheitsschilderungen der beiden Protagonisten aus, die in der Zeit der Diktatur unter Todor Schiwkows aufwachsen. Iskren ist der Sohn eines einflussreichen Parteiorgans, er besucht die deutsche Schule, ihm stehen die Türen offen. Svetljo stammt aus ärmeren Verhältnissen und lernt das Leben von der anderen Seite kennen. Beide haben es mit sehr autoritären Vaterfiguren zu tun, beide wachsen im selben Dorf auf, doch sie begegnen einander nie bewusst. Immer wieder – sei es durch Personen, durch Orte oder durch Ereignisse – werden die Schicksale der beiden Familien verwebt, eingeworfene Anekdoten, aberwitzige Ideen und köstliche Details machen das Buch zu einem Gesamtkunstwerk


    Nebenbei erfährt man von der Geschichte Bulgariens vom 2. Weltkrieg, über die Revolution 1990 bis zur heutigen Zeit, von den Ängsten und Hoffnungen der Emigranten, von den Problemen, mit denen sie im Westen zu kämpfen haben.


    Für mich ein absolutes Lesehighlight 2007, eine echte Empfehlung!


    5ratten

    :blume:&nbsp; Herzliche Grüße!&nbsp; :blume: <br />creative

  • Der erste Satz, Miro hatte ein Handy und zwei Flügel, stellt sofort eine Verbindung zum Titel und Coverbild her. Aber ein Engel mit Handy? Selbstverständlich! Wenn dieser Engel auf dem Wiener Zentralfriedhof steht und zu Miros Grab gehört. Denn Miro ist der Engel der Ausländer, der zu Lebzeiten mit seinem Handy allen Einwanderern Hilfe herbei rief. Und nun eben wird ihm nachgesagt, dass er dies immer noch täte, wenn man ihn darum bäte und ein paar Blumen brächte.


    Nacheinander lernt man zwei Bulgaren kennen, die sich, vom selben Mann inspiriert, auf den Weg zu Miro machen und sich dort begegnen. Svjetlo und Iskren. Was beide nicht wissen, ist dass ihre Lebenswege sich bereits mehrmals berührt haben. Denn die beiden Familien hatten am Tag von Svjetlos Geburtstag eine schicksalhafte Verknüpfung.


    Rückblickend wird nun jeweils die Geschichte der beiden Familien erzählt. Beginnend bei den Großeltern erzählt Dinev über drei Generationen nicht nur die Familiengeschichte, sondern die des Landes Bulgarien.


    Trotz der mit Namen betitelten Kapitel fiel es mir manchmal schwer mich wieder in die jeweilige Familie einzulesen. Das mag teils an den ungewohnten Namen liegen und an der Vielzahl der Personen. Glücklicherweise befinden sich hinten im Buch die Stammbäume der beiden Familien, so dass man immer mal schnell einen Blick darauf werfen konnte.
    Die direkten und indirekten Berührungspunkte der Familien machen einen interessanten Aspekt aus. Da wünschte ich mir oftmals die Stelle wiederzufinden, an der die Begegnung aus der Sicht der anderen stattfand. Man ist sich gar nicht bewußt, wie oft man immer wieder den gleichen Personen begegnet, direkt und indirekt. Man nimmt es erst wahr, wenn man die Person kennt und sie unmittelbar ins Blickfeld gerät.


    Engelszungen werden in Dinevs Roman mehreren Leuten zugesprochen. Nicht immer in gleicher Form. Der jüdische Gemüsehändler, der seine Waren mit Engleszungen anpreist, möchte sicher nicht in den gleichen Topf geworfen werden mit einem Funktionär, der eine neue Ideologie anpreist, geschweige denn mit einem Mann, der in einsamen Räumen seine Landleute um Informationen „bittet”.


    Dinev hat in seinem Roman unterhaltsam die Geschichte zweier Familien und ihres Landes verpackt. Mit einer kräftigen Portion trockenen Humors hilft er dem Leser über Passagen hinweg, die einem eigentlich die Haare sträuben oder Schlimmeres. Humor ist wenn man troztdem lacht, das passt hier ganz genau. Denn wenn man liest mit welchem Aufwand einer der Großväter die Zeitungen für die Toilette vor dem Zerschneiden liest, um nicht wieder eingesperrt zu werden, weil er sich mit dem falschen Text oder dem falschen Bild den Hintern abwischte, hilft der Galgenhumor beim Verarbeiten des Gelesenen.


    Vieles mag der Autor selbst erlebt haben, so wie die Zeit der Öffnung des Landes, die Situation der jungen Leute, die in den Westen flüchten um sich ein neues Leben aufzubauen. Wenn man die Biographie Dinevs betrachtet, findet man einiges das mit dem Buch übereinstimmt. Man kann am Besten über das Schreiben, was man kennt, heißt es. Das ist hier sicher gelungen.

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    Zwei junge bulgarische Männer, die in Wien leben und finanzielle Probleme haben, werden zu Miro geschickt, dem "Engel der Flüchtlinge". Dieser Miro ist allerdings schon tot und liegt am Wiener Zentralfriedhof begraben. Nach einer kurzen Einführung der recht ähnlichen aktuellen Situation der beiden, Iskren und Svetljo, springt das Buch zurück in der Zeit und erzählt die jeweilige Familiengeschichte in Bulgarien, die sich an ein paar Stellen berührt und überschneidet.


    Ich habe bisher 120 Seiten gelesen, also ein knappes Viertel des Buches und lese es ganz gerne. Ich mag die Sprache, die Geschichte ist bisher allerdings nichts besonderes. Es ist eine typische Familiengeschichte, die Leben der Großeltern-Generation werden eher kurz abgehandelt, die Eltern von Iskren und Svetljo nehmen dann schon etwas mehr Raum ein. Im Hintergrund spielt natürlich auch die Geschichte Bulgariens eine Rolle, von der ich aber zu wenig weiß, um das alles so genau zuordnen zu können.


    Ich bin schon gespannt auf das weitere Buch, hoffe aber, dass da noch etwas mehr kommt als eine ganz gut erzählte Familiengeschichte.

    ~~better to be hated for who you are, than loved for who you&WCF_AMPERSAND're not~~<br /><br />www.literaturschaf.de

  • Zwei junge bulgarische Männer haben in Österreich ihr Glück gesucht, aber nicht gefunden. Ihre letzte Rettung ist ein Wunder und der Serbe Miro, der auf dem Wiener Zentralfriedhof begraben liegt. An seinem Grab treffen sich Svetljo und Iskren zum ersten Mal, obwohl sich ihre Schicksale schon zuvor mehrmals gekreuzt haben.


    Dimitré Dinev hat in seinem Roman "Engelszungen" den Bogen gespannt über drei Generationen zweier Familien und fast ein ganzes Jahrhundert bulgarischer Geschichte. Angefangen bei den Großeltern von Svetljo und Iskren erzählt er die Geschichte ihrer Familien, die einerseits kaum unterschiedlicher sein könnten, in vielen Dingen aber sehr ähnlich verlaufen. Den besonderen Reiz machen die kleinen Parallelen und Überschneidungen aus, die es zwischen den beiden Erzählsträngen gibt. So erlebt man manche Szene aus zwei Perspektiven und trifft manche Figuren in beiden Geschichten. Um dies zu bemerken ist aber manchmal hohe Konzentration beim Leser gefragt, die Kapitel sind sehr lang und bevor man wieder zurück bei Svetljo landet, hat man sich oft so in Iskrens Geschichte vertieft, dass man Nebenschauplätze oder unwichtige Personen aus Svetljos Umfeld schon wieder vergessen hat.


    Damit komme ich auch schon zu meinem Hauptkritikpunkt: Die Geschichte ist sehr komplex, es gibt viele Personen, viele Schauplätze und lange Kapitel, die man beim Lesen schlecht unterbrechen kann. Die Familienstammbäume hinten im Buch helfen ein bisschen, aber Figuren außerhalb der Familien muss man sich trotzdem selbst merken. Außerdem hatte das Buch für mich einige Längen, erst als die Erzählung bei den beiden Hauptcharakteren ankam, hat es mich wirklich gefesselt. Schade fand ich, dass das Leben als Einwanderer in Österreich relativ kurz abgehandelt wurde, da ich davon ausgegangen bin, dass das der Schwerpunkt des Buches wäre.


    Stilistisch fand ich "Engelszungen" sehr angenehm zu lesen, die Sprache ist wunderbar poetisch. Bemerkenswert dabei ist, dass das Buch vom gebürtigen Bulgaren Dinev in deutscher Sprache verfasst wurde. Einige österreichische Begriffe haben sich eingeschlichen, was sehr gut zur Geschichte passt und ihr einen besonderen Charme verleiht.


    Insgesamt ist “Engelszungen” ein Familienroman, wie man ihn sicher in ähnlicher Form schon gelesen hat, durch den Schauplatz Bulgarien und die Verknüpfung zweier Schicksale wird das Buch zu etwas Besonderem. 4ratten

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