Paul Anderson - Hungersbräute

Es gibt 30 Antworten in diesem Thema, welches 10.156 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Kirsten.

  • Auf ausdrücklichen Wunsch unserer allmächtigen Forenmama :winken: stell ich meine Rezi zu den "Hungersbräuten" hier rein. In Kürze: Dieses Epos hat gute Chancen auf mein "Buch des Jahres", es ist nicht immer einfach zu lesen und zu verstehen, aber es ist - vor allem, nachdem man es ein paar Tage hat sacken lassen - einfach nur grandios!


    1400 Seiten und 1495 Gramm geballte Geschichte, Theologie und Kultur erwarten den Leser, der sich auf dieses Buch einlässt - und einlassen muss man sich, die “Hungersbräute” sind kein Text, den man mal eben so wegschmökern kann.


    Inhalt:
    Hauptthema ist die Geschichte der historischen Gestalt Sor Juana Ines de la Cruz, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Neuspanien, dem heutigen Mexiko gelebt hat. Die Eroberung der Neuen Welt durch die Europäer ist noch lange nicht so gefestigt wie heute, die Ureinwohner, “mexicas” genannt, halten hartnäckig an ihrer Lebensweise, ihrer Religion und Kultur fest - etwas, was die katholische Kirche durch starke Präsenz und die Einschaltung der Inquisítion zu unterbinden sucht.


    Sor Juana Ines de la Cruz ist eine Kreolin, d.h. eine in Amerika geborene Weiße, die aufgrund ihrer ländlichen und dazu noch unehelichen Herkunft kaum weniger geachtet wird als die Indios. Ihre Mutter führt eine Farm, ihren Vater kennt sie nur von gelegentlichen Besuchen, ihre Hauptbezugspersonen ist ihr Großvater, der sie, nachdem sie sich selbst mit drei Jahren das Lesen beigebrachthat, mit Literatur, klassischer Philosophie und moderner Naturphilosophie (wie die beginnende Naturwissenschaft damals genannt wurde) bekannt macht. Großen Einfluss übt auch ihre indianische Amme aus, die sie in die Welt der Indio-Mythologie einführt, sie Nahuatl, die Sprache der Indios lehrt und deren gleichaltrige Tochter gemeinsam mit ihr aufwächst.


    Nach einer - mehr oder weniger - unbeschwerten Kindheit zwischen der Natur am Popocatépetl und der Bibliothek des Großvaters kommt Juana für einige Jahre an den prunkvollen Hof des spanischen Vizekönigs in Mexiko, wo sie sich als dichterisches und philosophisches Wunderkind einen Namen macht, allerdings auch fast unter den höfischen Intrigen zerbricht. Auf Anraten ihres Beichtvaters tritt sie schließlich mit Anfang 20 in ein Kloster ein, da dies der einzige Ort zu sein scheint, an dem sie ihren unersättlichen Wissensdurst und Bildungshunger stillen kann. Dort entwickelt sie sich zur wichtigsten spanisch-sprachigen Dichterin des ausgehenden “Goldenen Zeitalters” des Barock, anerkannt in der Alten ebenso wie in der Neuen Welt. Den Rest ihres Lebens verbringt sie im Kloster San Jéronimo, allerdings mit eher unüblichen Beschäftigungen: Nach wie vor ist sie als Dichterin sehr gefragt, und sie stellt ihr Können immer wieder mit Auftragsarbeiten für den Hof oder die Kirche unter Beweis.


    Dennoch wird sie vom Klerus argwöhnisch beobachtet; besonders ihre langjährige Freundschaft zum einem mexikanischen Geographen und Astronomen und ihre Beziehung zur Vizekönigin, die als ihre Fürsprecherin fungiert, erzeugt Misstrauen, ebenso wie die Veröffentlichung von Gedichten, in denen christliche Heilige mit Figuren aus der griechischen Mythologie in Verbindung gebracht werden. Um 1690 gerät sie endgültig ins Visier der Heiligen Inquisition, der auch ihr Beichtvater, der Jesuit Antonio Nunez angehört - eine zwiespältige Figur, die in der Folge erfolgreich versucht, Sor Juanas nach Freiheit und Wissen hungernden Geist zu brechen und sie endgültig in die Abgeschiedenheit des Klosters zu verbannen. Nachdem er einen ihrer glühendsten Verteidiger verurteilt und das Beichtgeheimnis gebrochen hat, um sie in Verruf zu bringen, beendet sie ihre dichterische Tätigkeit, stuft sich selbst im Konvent auf den Rang einer Novizin zurück und beginnt ein Leben, das der Kontemplation und Kasteiung gewidmet ist. Erst als in Mexiko die Pest ausbricht und auch das Kloster betroffen ist, taucht sie im weltlichen Leben wieder auf und widmet sich der Pflege der Kranken, nur um nach wenigen Wochen selbst im Alter von 46 Jahren an der Krankheit zu sterben.


    Der Titel des Buches verbindet den Juana-Handlungsstrang mit dem der kanadischen Studentin Beulah Limosneros - beide Frauen sind getrieben von einem Hunger nach Wissen, der sie letztendlich in den Untergang führt. Diese Beulah Limosneros, eine hochsensible, psychisch labile und hochintelligente junge Frau, die an ihrer Universität ebenso als “Wunderkind” bezeichnet wird wie Sor Juana 300 Jahre zuvor, stößt im Zuge ihres Studiums auf die Dichterin, beginnt über sie zu forschen und verfällt dem Reiz von deren Leben und Dichtung. Dabei verstrickt sie sich in eine verhängnisvolle Affäre mit dem Literaturprofessor Donald Gregory. Als dieser die Affäre beendet, flüchtet sie in einen esoterischen “Studienaufenthalt” nach Mexiko, beginnt dort eine weitere Affäre mit einem Mexikaner, kehrt zurück nach Kanada und begeht schließlich einen Selbstmordversuch, nach dem sie von Gregory gefunden wird - der daraufhin ihre Aufzeichnungen an sich nimmt und flieht.


    Der Autor:
    Paul Anderson ist ein kanadischer Kosmopolit, Jahrgang 1956, der mit Anfang 20 zunächst seine Heimat hinter sich ließ, um die Welt reiste und sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt. Nebenbei schrieb er einige Short Stories, machte aber ansonsten als Autor kaum von sich reden - bis er in Mexiko das erste Mal auf Sor Juana stieß und damit das Thema gefunden hatte, das ihn die nächsten 12 Jahre beschäftigen sollte. Unter anderem besuchte er alle Original-Schauplätze in Mexiko, die heute zum großen Teil auch noch zu besichtigen sind. Als er den ersten, 1000-seitigen Entwurf seines Romans einem Verlag vorlegte, wurde er zu seinem Erstaunen nicht zu Kürzungen verdonnert, sondern sollte ihn noch verlängern.


    Meinung:
    Jeder Versuch, dieses Buch in seiner ganzen Fülle an sprachlicher und inhaltlicher Vielfalt angemessen zu würdigen kann nicht mehr als unbeholfen ausfallen. Anderson tobt sich in seinem Erstling, für den er immerhin 12 Jahre gebraucht hat, nach Kräften aus. Schon allein die schillernde Figur der Sor Juana hätte Stoff genug für mehr als einen großen Roman geboten, aber seine Verknüpfung mit ihrem modernen Pendant, der Studentin Beulah, setzt dem ganzen die Krone auf. Die drei Perspektiven, die hier dargeboten werden - die durch Beulahs AUfzeichnungen erzählte Geschichte Juanas, die von Donald erzählte Geschichte Beulahs und Donalds eigene Darstellung der Geschehnisse - wird zusätzlich noch durch unterschiedlichste Textarten aufgebrochen. Da wird eine klassische Erzählerperspektive abgelöst von inneren Monologen, Tagebucheinträgen und Briefen, offiziellen (und historisch korrekten) Dokumenten der Inquisition, einer modernen Bearbeitung des Lebens Juanas als Drehbuch und - natürlich - immer wieder Gedichten und Dramenfragmenten der Dichterin selbst.


    Diese Vielfalt an Stilen fordert dem Leser zwar einiges an Anpassungsleistung ab, macht die Erzählung aber dafür umso lebendiger und glaubwürdiger. Dies ist umso bemerkenswerter, als der ganze Wälzer erstaunlich actionarm ist. Eigentlich passiert nicht viel, und von außen betrachtet hat Sor Juana ein ziemlich langweiliges Leben geführt. Das Hauptaugenmerk liegt auf ihrer intellektuellen Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt und mit den Kirchenoberen. In diesen Passagen kommt das ganze Spektrum ihrer universellen Bildung zum Tragen, das von Anderson in fiktiven Dialogen und Briefwechseln brillant wiedergegeben wird - und wo der Leser mit muss, auch wenn zwischendurch der ein oder andere Ausflug zu Wikipedia o.ä. nötig wird. Eine gewisse Vorbildung in Bezug auf griechische und ägyptische Mythologie sowie ein theologisches Grundvokabular erleichtern das Verständnis auf jeden Fall ungemein.


    Leider kommt die “moderne” Handlungsebene um Beulah bei aller barocker Pracht, in der die Juana-Geschichte präsentiert wird, fast ein wenig zu kurz, obwohl sie mit geschätzten gut 300 Seiten eigentlich schon genug Stoff für ein eigenes Buch bieten würde. Dennoch wird zwar die Faszination, die die Nonne auf die Studentin ausübt, sehr plakativ beschrieben, aber die intellektuelle und thematische Verbindung zwischen den beiden Frauen kommt fast zu kurz, zumindest hat sie sich mir vor allem auf den ersten 1000 Seiten nicht wirklich erschlossen.


    Ich habe an diesem Epos fast drei Monate gelesen, und das Buch ist sofort nach dem Zuklappen auf meine Stapel wiederzulesender Bücher gelandet - wobei ich mir fest vorgenommen habe, es mir das nächste Mal nur in einem langen und ruhigen Urlaub wieder vorzunehmen.


    Weiterführende Links:
    - hungersbrides.net - die Seite zum Buch
    - Das Blog des Autors
    - Sor Juana bei Wikipedia


    Kaufen* bei

    Amazon
    Bücher.de
    Buch24.de

    * Werbe/Affiliate-Links

    Viele Grüße aus dem Zwielicht<br />[size=9px]Rihla.info | blooks - Rezensionen und mehr<br />[b][url=http://www.librarythi

    Einmal editiert, zuletzt von Seychella ()

  • Bei mir steht das Buch auch schon längst auf der Leseliste - es ist für mich zur Zeit nur leider recht teuer und keine der Bibliotheken in meinem Umfeld hat es bisher im Bestand. :heul:


    Tolle Rezension, die mich noch darin bestärkt, dieses Buch unbedingt mal lesen zu wollen ... wann auch immer!


    Dank an die "Forenmama" für's Insistieren! :smile:

  • Liebe Twilight,


    vielen Dank für die wunderbare Rezension! :anbet:
    Nun kann ich es wohl gar nicht vermeiden, dieses Buch meinem SUB einzuverleiben :breitgrins:


    Liebe Grüße
    nimue

    Rechtsextremismus ist wieder salonfähig gemacht worden, durch CDU/CSU und FDP.

  • Das Buch gibt's neuerdings auch beim Club *listefürnachderbuchkauffastenzeitzück*

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Zitat von "Valentine"

    Das Buch gibt's neuerdings auch beim Club *listefürnachderbuchkauffastenzeitzück*


    Genau :breitgrins: Bei so einer tollen Rezi bin ich absolut neugierig auf das Buch geworden.

  • @ Twilight: Danke für Deine tolle Rezi! Du hast mir wirklich richtig Lust gemacht das Buch zu lesen! :winken:
    Schade, dass ich den Stapel im Laden schon remittiert hab... :rollen: Ich Dussel. :grmpf:

    Liebe Grüße

    Tabea

  • Super Rezi, Twilight!


    Hab mir die englische Taschenbuchausgabe direkt mal auf den Amazon- Wunschzettel gesetzt, damit ich s nicht vergesse :zwinker:


    lg, adia

  • Hallo Twilight,


    wenn ich Deine Rezi zuerst gelesen hätte, wäre ich noch neugieriger auf das Buch geworden, als ich es ohnehin schon war. Alles so schön kurz und prägnant beschrieben.


    In Wirklichkeit bin ich ziemlich enttäuscht worden. Wodurch das Buch für mich glänzt, ist der Abwechslungsreichtum, in dem es geschrieben ist. Ich hatte tatsächlich den Eindruck, dass es von mehreren Autoren geschrieben sein musste. Die Geschichte der Juana Ines ist auch sehr interessant, keine Frage. Allerdings wurde das Ganze derart platt gewälzt und breit getreten, dass ich schlicht die Ausdauer verlor, alles in dieser Ausführlichkeit zu lesen. Seitenlange Briefe und Gedankengänge - irgendwann kam mir ständig das Sprichwort Weniger ist mehr in den Sinn. Da waren die Gedichte, die in so wenigen Worten so viel aussagen, Balsam für mein Hirn.


    Die Berichte von Beulah sind sehr gelungen - sie klingen wirklich so, wie ich es von einer derart verwirrten Person, die kurz vor dem Selbstmord steht, erwarten würde. Für mich war es zu viel, an dem Punkt hatte ich schon längst die Ausdauer und den Willen verloren, mich darauf einzulassen und überflog diese Passagen zum Großteil. Diesen Part des Romans hätte man auch gut weglassen können, er passte nicht zwischen die historische Realität.


    Ich muss ganz ehrlich sagen, dass es für mich besser gewesen wäre, die Geschichte von Sor Juana in Sachbuchform zu lesen, auch wenn ich dann auf die teilweise wunderschöne Sprache des Buches verzichten müsste. Hätte der Autor nur halb so dick geschrieben, wäre es sicher auch für mich ein Highlight geworden. Ich sehe mich mit meiner Meinung zwar ziemlich alleine dastehen, denn die Rezis, die ich im Internet gefunden haben, waren durch die Bank positiv, aber ein bisschen drängt sich mir schon die Frage auf, warum das Buch in keiner Verkaufsliste erscheint.


    Von mir gibts dafür 2ratten


    Liebe Grüße
    Doris

  • So unterscheiden sich die Geschmäcker :zwinker:


    Für mich war es eben gerade die Ausführlichkeit (die Dir als Langatmigkeit vorgekommen ist), die den Reiz ausgemacht hat. Vor allem wegen diesern wunderbaren sprachlichen Vielfalt hätte das Buch für mich keine Seite kürzer sein dürfen.


    Zitat

    aber ein bisschen drängt sich mir schon die Frage auf, warum das Buch in keiner Verkaufsliste erscheint.


    Ich glaube, weil es kein Buch für den Massenmarkt bzw. Massengeschmack ist; kein Sex, keine Action und sicher keine Geschichte, die man mal eben so nebenbei wegschmökern kann. Für die meisten "Gelegenheitsleser" dürfte es schlicht zu anspruchsvoll sein.

    Viele Grüße aus dem Zwielicht<br />[size=9px]Rihla.info | blooks - Rezensionen und mehr<br />[b][url=http://www.librarythi

  • In den wenigsten Klassikern kommen S.e.x. und Aktion vor, und doch haben sie heute noch ihre Leser. Spannung gab es ja auch in den Hungersbräuten, das wäre nicht mein Problem gewesen. Was mich störte, waren die häufigen Wiederholungen von Handlungen und Gedankengängen, die seitenlang beschrieben wurden. Zum nebenbei wegschmökern war es auch für mich nichts, aber eher deshalb, weil es mir doch zu eintönig wurde. Da half auch der schöne Stil nicht mehr.


    Ein weiterer Grund dürfte - wie so oft bei mir - meine hoch geschraubte Erwartung angesichts der tollen Rezensionen gewesen sein. Wäre ich unvorbereitet auf das Buch gestoßen, könnte meine Reaktion eine ganz andere gewesen sein.


    Liebe Grüße
    Doris

  • wow, bei der Rezi kann man ja nicht nein sagen!!


    In den Urlaub werde ich es nicht mitnehmen können (hat sich jetzt einiges gesammlet) aber ich mache mir eine kleine Vorfreude auf die Heimfahrt und lese es wenn ich wieder da bin!!


    tolle Rezi, nochmal!!


    liebe grüße
    Chrissi

    &quot;Lesen war ein Zustand, in dem die Zeit verstrich, weil sie nicht anders konnte, während Adas Verstand in Nahrung eingelegt wurde, so dass seine hektische Gier in ein gleichmäßiges Einsaugen und Verwe

  • Meine Meinung:


    Ja dieser Roman hat es ganz schön in sich. Leicht zu lesen fand ich ihn ehrlich gesagt nicht. Ich habe dann auch über ein halbes Jahr gebraucht um ihn zu beenden. Vor allem die Rahmenhandlung rund um Beula fand ich oft eher verwirrend und zeitweise wusste ich nicht so recht was gerade passiert. Die Rahmenhandlung hätte meiner Meinung nach nicht sein müssen, irgendwie war sie für mich eher überflüssig und hat mich eher aus der eigentlichen Geschichte herausgerissen.


    Vielleicht hätte ich sogar aufgegeben wenn da nicht die überaus faszinierende Sor Juana gewesen wäre, die zum Glück den Haupteil dieses Romans ausmacht. Ihre Geschichte wird hier in wunderbaren Bildern erzählt, obwohl nicht sehr viel passiert wird man schnell in ihren Bann gezogen. Ihre Intellektuellen Diskussionen, ihre Gedichte, überhaupt ihre Fähigkeiten stehen im Mittelpunkt. Irgendwie kann man verstehen weshalb die Studentin Beula immer tiefer in ihr Leben gezogen wird. Man ist Hautnah dabei wenn Sor Juana von der Inquisition bedrängt wird. Wie sie Jahrelang immer wieder kritisiert wird, gerade weil sie eine Nonne ist die ihre Intellektuellen Fähigkeiten voll ausschöpft.


    Anderson hat eine wunderbare Sprache die dem Thema die nötige Tiefe gibt. Gerade die Sprache war es auch die mir den Roman noch näher gebracht hat. Die wunderbaren Gedichte der Dichterin gaben dem Ganzen dann noch den Anschein von Autänsität. In wie weit der Autor hier nah am Leben von Sor Juana war, kann ich leider nicht beurteilen, aber ich hatte nicht nur einmal den Eindruck: wenn es so nicht war, dann ist es verdammt gut erfunden! Irgendwie sah ich zwischen den Zeilen, die Dichterin immer wieder hervortreten. Sie hat mich sehr lange begleitet und ich wurde auf jedenfall neugierig auf sie gemacht, nächstes Jahr werde ich sicher noch das ein oder andere Sachbuch zu ihrem Leben in die Hand nehmen.


    Für mich einer der besten Romane die ich in diesem Jahr gelesen habe. Wenn man sich darauf einlässt, einfach wunderbar zu lesen!


    5ratten

  • Für den Inhalt verweise ich auf Twilights Rezi. Der Roman ist zwar umfangreich genug, daß auch noch anderes zu berichten wäre, aber schließlich soll das hier keine Nacherzählung werden :zwinker:


    Auch in der Bewertung kann ich mich Twilight in vielem anschließen. Hungersbräute ist in jeder Hinsicht opulent, und das ist tatsächlich ein Kompliment. Ich finde nur noch selten Bücher, die mich über eine solche Anzahl von Seiten hinweg zu tragen vermögen, obwohl eigentlich nichts darin passiert. Gerade das macht aber eine angemessene Würdigung von Andersons Leistung so schwierig. Daher zunächst einmal zu den formalen Aspekten.


    Die Trinität der Erzählperspektiven ist sicher nicht zufällig gewählt, und wie schon gesagt wird das Ganze durch die verschiedene Präsentationsformen sehr schön abgewechselt und verdeutlicht. Ein einzelner auktorialer Erzähler hätte niemals die gleiche Wirkung erzielen können, wie es durch diese Darstellungen erreicht wird. Dokumente der Inquisition neben den inkriminierten Gedichten zu lesen, ließ mich manches Mal heftig schlucken. Dagegen fand ich die Verschränkung mit dem „modernen“ Erzählstrang weniger geglückt. Auch mir fehlte lange eine Erklärung für die Faszination, die Sor Juana auf Beulah ausübt, und selbst nach Beendigung der Lektüre und mit dem Abstand einiger Tage ist mir das zu dünn geraten. Ich will gar nicht einmal sagen, daß ich auf diesen Teil hätte verzichten können, aber er bekommt erst im letzten Viertel einiges Gewicht, das aber auch nur bedingt aus der Verbindung zwischen Juana und Beulah entsteht, und bis dahin wirkte er schon eher überflüssig. Darüber war ich nicht einmal enttäuscht, da ich es sowieso sehr viel interessanter fand, Sor Juana in ihrer Entwicklung zu verfolgen als Beulah.


    Bemerkenswert ist vor allem die Fülle an Informationen, die Anderson geschickt in Sor Juanas Ausführungen verpackt. Wie Twilight schon sagte, erleichtern Vorkenntnisse in griechischer und ägyptischer Mythologie, antiker Dichtkunst sowie theologischer Grundbegriffe und Konzepte das Verständnis sicher enorm. Vieles davon ist aber so gut eingebunden, daß man sogar ohne Lexikon in Griffweite auskommen kann, aber viele Spuren werden zum Nachverfolgen reizen. Mit diesen Bezügen läßt es Anderson aber nicht bewenden. Zusätzlich erfährt man als Leser noch vieles über die Lebensbedingungen in Mexiko in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert sowie über das Verhältnis zwischen Spaniern, Kreolen, Mestizen, Indianern, Afrikanern, Mulatten und Zambos. Auch präkolumbianische Geschichte findet dank Sor Juanas Freund Carlos de Sigüenza y Góngora und ihrer Amme Xochitl Eingang. Und nicht zuletzt verfolgt man eine Reihe kirchlicher Intrigen, die mehr oder weniger direkten Bezug zur Inquisition, manchmal aber auch einfach zu weltlicher Macht haben.


    Hier setzt dann auch der Aspekt an, in dem ich diesen Roman wohl anders gelesen habe als Twilight, was aber überhaupt nicht gegen ihn spricht, im Gegenteil. Sor Juanas Widerstand gegen die Inquisition ist sicher eine intellektuelle Auseinandersetzung, in der sie von ihrer, zunächst vielleicht durch den Großvater etwas erratisch zugeführten und geförderten, letztlich aber doch sehr universell gewordenen Bildung profitiert. Ich muß aber gestehen, daß ich mich aus diesen Details doch irgendwann ausgeklinkt habe, und zwar sowohl aus den Argumentationen an sich, als auch vor allem aus den innerkirchlichen, machtpolitischen Verwicklungen. Stattdessen habe ich Sor Juanas Briefe, Aufzeichnungen, innere Monologe als Beispiel dafür gelesen, wie ein repressives Regime Menschen in Unsicherheit und letztlich in den buchstäblichen Wahnsinn treiben kann, indem die Gedanken ständig um die gleichen Fragen kreisen: Was habe ich eigentlich gesagt? Wie habe ich es gesagt? Was wissen sie? Was spiegeln sie mir nur vor? Wenn ich bestimmte Dinge sage: schade oder nutze ich mir damit? Was wollen sie konkret von mir: meine Niederlage und Demütigung oder bin ich nur ein Werkzeug zu anderen Zwecken? All dies läßt sich aus Sor Juanas Gedankengängen sehr gut ableiten, und hier setzen auch die drastischsten Wiederholungen im Text an. Aber gerade deshalb wird besonders klar, wie diese Mechanismen funktionieren, und sie funktionierten nicht nur in den Händen der Inquisition, sie funktionieren genauso bis heute in den Händen diktatorischer Regime rund um die Welt mit ihren Geheimpolizeien und Folterkellern. Das war für mein Empfinden außerordentlich beklemmend, und dies wird auch dafür sorgen, daß ich diesen Roman nicht so schnell vergesse.


    4ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:


    Schönen Gruß
    Aldawen

  • Dieses Buch ist alleine aufgrund seines Umfangs ein guter Kandidat für kleine Zwischendurchmeldungen. :zwinker: An zwei Abenden habe ich es bis Seite 152 geschafft, bevor ich zu einem wortwörtlich leichteren Buch gegriffen habe. Allein die dicht bedruckten Seiten geben mir schon das Gefühl, deutlich mehr gelesen zu haben, mal schauen, wie es mir am Ende dieses Buches gehen wird.


    Bisher gefällt es mir gut und ich bin neugierig auf das Leben der Sor Juana. Schon ihre Kindheit und Jugend bietet viel Stoff zum Erzählen: von ihrem Alltag, dem Land um sie herum, natürlich den Menschen, mit denen sie lebt, und den Büchern. Sie lässt uns teilhaben an ihrer Lektüre, an ihrer Meinung zu den griechischen Philosophen oder Cervantes Don Quichotte, genauso an den Diskussionen, die sie mit ihrem Großvater darüber führt. Wenn man sich bewusst macht, dass sie mit drei Jahren Lesen lernte und daraufhin über verschiedene wissenschaftliche Fragestellungen nachdachte, kann man entweder in Bewunderung für dieses Wunderkind verfallen oder das Ganze als mythisierende Verklärung abtun. Mir geht diese Besonderheit, die manchen ihrer Mitmenschen Angst bereitet, ein wenig auf die Nerven, jedes Mal, wenn ihr Alter erwähnt wird, mag ich es nicht glauben. Ob wahr oder nicht ist es natürlich die perfekte Voraussetzung für diese Romanbiografie. Trotz der zwischendurch aufgeworfenen komplexen Fragestellungen, die mich dazu veranlassen beim Lesen langsamer zu werden, lässt sich das Buch angenehm "wegschmökern", besonders sobald Juana von ihrem Alltag berichtet. Die Sprache ist dabei nicht einfach, aber wunderschön zu lesen, teils sehr bildhaft.


    Das einzige was mich noch etwas stört ist die Rahmenhandlung. Der Universitätsprofessor Donald J. Gregory erzählt von seiner Studentin Beulah Limosneros, die wiederum das Leben der Sor Juana erforscht hat. Irgendwas scheint vorgefallen zu sein, denn nun schreibt er das Buch über die Dichterin, und natürlich erfährt der Leser es nicht sofort. Die zwei, drei Einschübe aus der Gegenwart (1995) waren meiner Meinung nach überflüssig, Juanas Lebensgeschichte kann auch gut für sich allein stehen. Aber: abwarten, Anderson wird sich dabei sicherlich etwas gedacht haben.


    Viele Grüße
    Breña

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges

  • Ein Zitat gefällig? Über Nahuatl (Aztekisch):


    Zitat von S. 45f

    Das Idiom unserer Familie, Kastilisch, war ein süßer tiefer Atemfluss, klares Wasser über einem Strombett aus gleichmäßigen Steinen. Bei Nahuatl hörte man immerzu ein sanftes Klicken und Schnicken und das Zusammenstoßen von Zähnen und Zunge, so wie vielleicht die Geheimsprache der Sybillen klingen mochte. In der Mundhöhle, in den Mulden zwischen Wangen und Zähnen, war Nahuatl üppig wie atole - und dick wie pozole! - ja, genau, wie ein dicker Eintopf. Und darin schwimmen, wie Fleischbrocken, Stücke dieser Welt. Man will es kauen, aber behutsam, denn stets erwartet man etwas Hartes, einen Stein oder einen Knochensplitter, der gegen die Backenzähne knirscht, und ...
    Aber nein, das war es auch nicht. Erst später, als ich zum ersten Mal pulque* kostete, fand ich endlich den passenden Vergleich. Pulque, klebrig und zäh, legt sich wie ein Film über Gaumen, Backenzähne und Zunge. So fühlt sich Nahuatl im Mund an.


    Oder diese kurze:


    Zitat von S. 73

    Da ist uns nun die Gabe des Sprechens gegeben (manchen in verschwenderischem Maße), und sie erwarten von ihrer Umgebung, das man aus ihrem unverständlichen Schweigen klug wurde.


    *pulque: fermentierter Agavensaft

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges

  • In den letzten Tagen kam ich kaum zum Lesen und war dann nur selten aufmerksam genug, um mich den Hungersbräuten zu widmen. Dementsprechend bin ich gerade auf Seite 302 angelangt, angesichts des Gesamtumfangs habe ich nicht das Gefühl, wirklich weiter zu kommen. Dieser Eindruck des auf-der-Stelle-tretens trifft aber nur für die pure Seitenzahl zu, denn gelesen habe ich eine Fülle von Details und Zusammenhängen. Die eigentliche Handlung hätte man wiederum auf weniger Seiten unterbringen können, ohne dass ich Anderson das übel nehme. Was der Autor dem Leser vermittelt ist unglaublich.


    Nach einem Zeitsprung in die Zukunft - Juana ist vom Anwesen ihres Großvaters in die Stadt gezogen, wo sie bei einem Onkel lebt und mehr oder minder in das gesellschaftliche Leben eingeführt wird und die Schrecken der Inquisition erstmals wirklich greifbar werden - ging es wieder ein paar Jahre zurück in die Zeit, in der Juana einerseits die Schätze der großväterlichen Bibliothek, andererseits das Wissen der Azteken und die Natur entdeckt. Es gab auch eine Passage aus der Gegenwart, in der wir mehr über Beulah und ihre Beziehung zu Dr. Gregory erfahren, was nach wie vor der schwächste Teil der Erzählung ist.


    Jetzt erst aufgefallen ist mir, dass die kleinen Symbole, welche die Absätze innerhalb eines Kapitels am Rand markieren, je nach Erzähler variieren. Juana ist eine Muschel zugeordnet, ihren Gedichten eine Spirale, Beulah ein flammenähnliches Symbol und Dr. Gregory ein aztekischer Hund. Weitere Erzähler, die sich immer mal wieder zu Wort melden, bekommen ebenfalls eigene Zeichen. Eine schöne Idee, bei diesem Buch stimmen auch die Details. Wurden eigentlich schon die kleinen Worterklärungen erwähnt, die sich direkt neben dem Text befinden? Kein lästiges Blättern, höchstens für die wenigen Fußnoten.

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges

  • Inzwischen habe ich knapp die Hälfte des Buches gelesen, 670 Seiten, und die ersten drei der sechs "Bücher" beendet. Während Buch I sich in erster Linie mit der Jugend Juanas befasst, beschreibt Buch II ihre Zeit als Dichterin am Hof der Vizekönigin, die damit endet, dass sie in ein Kloster eintritt. Hier setzt Buch III ein, und zwar nach einem großen Zeitsprung, denn Juana ist inzwischen vierzig. Ihr Ruf als Gelehrte und Dichterin ist inzwischen bis nach Europa gelangt, doch bringt ihr das neben Bewunderern auch Feinde in den kirchlichen Reihen.


    Große Teile des dritten Buches bestehen aus Briefen Juanas, die Handlung wird von gelehrten Disputen bestimmt, entsprechend anspruchsvoller lässt das Buch sich lesen. Dennoch bleibt es interessant und nachvollziehbar, auch wenn ich weiteren Verwicklungen und Intrigen zwischen den Kirchen- und Staatsmännern bestimmt nicht folgen kann. Schön finde ich, dass jedes der Bücher neben der zeitlichen Eingrenzung auch ein Thema umfasst, mit dem sich Juana besonders intensiv auseinandersetzt. Es beginnt mit der Nymphe Echo, dann folgt die ägyptische Göttin Isis und zuletzt war die griechische Dichterin Sappho Namensgeberin. Gekonnt hat Anderson hier die Geschehnisse mit dem Werk der Dichterin und seinem eigenen verknüpft.


    Gut gefällt mir auch, wie er den verschiedenen Erzählern jeweils eigene Stimmen gibt. Im Wesentlichen geht es hierbei um Juana selbst, den Professor und die Studentin Beulah, aber auch weitere Stimmen kommen zu Wort. Juana zeichnet sich durch eine ruhige Erzählweise aus, während Beulah hingegen sehr unruhig und getrieben wirkt. Ein sprachliches Highlight war sicherlich die Nacherzählung der Schöpfung durch Isis.

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges

  • Guten Morgen Breña, mal ein kleines Statement von mir: Ich lese Deine Beiträge zu dem Buch sehr gerne, kann aber leider sonst nichts dazu beitragen. Neugierig machst Du mich sehr auf das Buch, aber ich weiß, dass es momentan so gar nichts für mich wäre :rollen:

    Rechtsextremismus ist wieder salonfähig gemacht worden, durch CDU/CSU und FDP.