Unser Leben mit den Grizzlys von Kamtschatka
Bären, vor allem Grizzlys und Braunbären, sind von Natur aus aggressiv und bei zu engem Kontakt eine automatische Bedrohung für den Menschen. Eine friedliche Koexistenz ist nicht möglich, und eine Auswilderung von von Menschen groß gezogenen Bärenjungen führt nur zu Konflikten; dies war Jahrzehnte lang die Meinung von Experten und Wissenschaftlern. Daraus resultierend wurde ebenso lange davon ausgegangen, dass im Konfliktfall von menschlicher Besiedelung und Erhaltung eines Lebensraumes der Abschuss der Bären die logische Folge sein musste.
Charlie Russell, selbst jahrelang durch seine Tätigkeiten als Naturforscher, Biologe und Rancher im Umgang mit kanadischen Bären geschult, wollte dieses Dogma nicht länger hinnehmen, sagte ihm doch seine eigene Erfahrung etwas ganz anderes. Seiner Meinung nach sind Bären, obwohl selbst Einzelgänger, aufgrund ihrer Verhaltensmuster, ihrer Intelligenz und ihres guten Gedächtnisses durchaus in der Lage, konfliktfrei mit Menschen auch auf engem Raum zusammenzuleben. Das richtige Verhalten des Menschen und einige Regeln im Umgang könnten den Abschuss vieler vermeintlich aggressiver Bären überflüssig machen. Doch wie diese These beweisen? Die Populationen in Nordamerika waren durch jahrelange Jagd-Politik für Generationen darauf getrimmt, den Menschen als Feind wahrzunehmen.
Die Lösung lag in der Einsamkeit der russischen Halbinsel Kamtschatka, die, als Naturreservat ausgewiesen, ein Paradies für Wildtiere aller Art und eben auch für eine große, relativ ungestörte Grizzly-Population war. Fernab jeder Zivilisation haben Charlie Russell und seine Partnerin, die Fotografin und Künstlerin Maureen Enns, sechs Sommer lang ihr Lager aufgeschlagen, um die Bären zu beobachten und um ihnen so nahe wie möglich zu kommen. Und nicht nur das: Sie haben auch drei verwaiste Bärenjungen aus einem russischen Zoo entführt und sie in ihrer neuen Heimat groß gezogen.
Das sechsjährige Erleben von Natur pur, das Bemühen um die nötigen Finanzmittel, die Überzeugungsarbeit bei sogenannten Experten, der Kampf gegen die russische Bürokratie und gegen die Wilderei im Naturpark werden in diesem Buch sehr anschaulich beschrieben. Alle Rückschläge werden aber wieder aufgewogen durch die Erfolge, die sie zu verzeichnen haben. So gestaltet sich das Zusammenleben mit der Bärenpopulation erstaunlich und erfreulich konfliktlos, und auch die drei Kleinen wachsen unter der Obhut der Menschen zu vollkommen selbständigen Exemplaren ihrer Gattung heran, die zwar eine sehr vertraute Beziehung zu ihren “Eltern” haben, aber dennoch auch ohne sie gut zurecht kommen. Dennoch sind auch, neben vielen berührenden, spannenden und lustigen Episoden auch immer wieder Katastrophen zu verzeichnen, die den Leser mitleiden lassen und das ganze Projekt fast scheitern lassen.
Obwohl das Verhältnis der beiden Forscher zu “ihren” Bären natürlich ein sehr persönlich ist, geprägt von Zuneigung, Fürsorge und Respekt, bleibt dennoch immer der naturgegebene Abstand zwischen Wildtier und Mensch erhalten. Die Bären sind keine Haus- oder Schmusetiere, gesunder Respekt ist für das Projekt unverzichtbar, ebenso wie profundes Wissen über die Lebensgewohnheiten und Bedürfnisse. So wird in den Texten von Charlie Russell, die direkt aus seinen Tagebuchaufzeichnungen entstanden sind, auch viel Hintergrundwissen über diese faszinierenden Tiere vermittelt, immer wieder unterbrochen von persönlicheren Einschüben von Maureen Enns. Abgerundet wird dieser faszinierende Bericht von traumhaften Fotos im Mittelteil des Buches, die aufgrund des großen Formats des Buches besonders gut zur Geltung kommen.
Bewertung: