Claire Beyer – Rauken

Es gibt 4 Antworten in diesem Thema, welches 4.538 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von illy.

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    Eine Kindheit im idyllischen Allgäu der 50er Jahre, die leider so gar nicht idyllisch ist.
    Vroni, die Ich-Erzählerin, zu Beginn des Buches 6 Jahre alt, am Ende 12, wächst in einem Dorf auf, über das ihr Großvater, Bürgermeister, Metzger und Bäcker in Personalunion, ebenso tyrannisch herrscht wie über die Bewohner seines Hauses, Kinder, Enkelkinder, Dienstboten und Kriegsflüchtlinge sowie Iwan, den ehemaligen russischen Kriegsgefangenen. Dieser ist Vronis einziger Verbündeter gegen ihren Vater, der mit einem Splitter im Kopf aus dem Krieg nach Hause gekommen ist, und seitdem (wirklich erst seitdem?) ein brutaler Schläger ist, der einen besonderen Hass auf seine älteste Tochter hat, die "Schuld" daran ist, dass er heiraten musste und so in seinem Heimatdorf hängenblieb.
    Vronis einziger Freund ist Pierre, der Sohn einer jüdischen Familie, die zum Entsetzen aller Dorfbewohner eine Fabrik im Ort geerbt hat, aber durch die Machenschaften des Großvaters aus dem Dorf vertrieben wird.
    Schließlich muss auch Vronis Familie, das hat der Großvater bestimmt, das Dorf verlassen und zieht nach München, wo der Vater ein Kneipe eröffnet. Für Vroni verläuft das Leben wie gehabt: voller Angst vor dem prügelnden Vater, der aus jedem oder auch keinem Anlass zuschlägt. Nach einem Selbstmordversuch der Mutter und dem Verschwinden des Vater landet Vroni bei einem Onkel, bei dem sie erstmals ausatmen und ein "normales" Leben führen kann. Leider nicht lange, denn der Großvater kommt und holt sie zurück ins Dorf.
    Noch mehrere Stationen muss Vroni überstehen, teils glücklichere, teils furchtbare, je nachdem, ob der Vater gerade an- oder abwesend ist. Leider ist er meistens anwesend und wird, wenn überhaupt möglich nur noch brutaler. So bleibt Vroni nur die Hoffnung darauf, Pierre irgendwann wieder zu treffen. Als Vater, Mutter und Schwester schließlich für einige Tage wegfahren, sieht Vroni zum ersten Mal in die Chance, selbst ihr Leben in die Hand nehmen zu können.



    Diese Geschichte wird streng aus Vronis kindlicher Perspektive geschildert, was ihre furchtbaren Erlebnisse noch furchtbarer macht, denn sie werden als ganz unausweichlich dargestellt. "So ist es eben, das ist ganz normal", denkt ja jedes Kind von der eigenen Kindheit. Auch ihre Umwelt bestärkt sie darin. Ein Vater hat das Recht, sein Kind zu verprügeln, da wird nicht eingegriffen, auch wenn die Nachbarschaft genau weiß, was vorgeht.
    Dies wird in einem sehr einfachenen, nüchternen Stil erzählt, der den Horror von Vronis Lebens nur noch deutlicher macht, denn auf die Tränendrüse wird eben nicht gedrückt. Auch wenn das Kind sich dessen nicht bewusst ist, wird durch ihre Erzählung immer wieder deutlich, wie sehr die Nazizeit und der Krieg die Menschen geprägt und verkrüppelt hat, wie wenig diese ihre Erlebnisse verarbeitet haben und wie sehr so auch die nächste Generation unter den Geschehnissen zu leiden hat.


    Hervorragend geschrieben, ohne ein Wort zu viel oder zu wenig, wird dieses Buch garantiert in meiner "Highlights 2007"-Liste auftauchen.
    Glücklich darüber, dass ich dieses Buch auf meine SUBwettbewerbsliste aufgenommen habe - sonst hätte es wahrscheinlich weitere 3 Jahre hier herumgesubbt - und voller Überzeugung vergebe ich
    5ratten

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Hallo Saltanah,


    wenn Dir Rauken so gut gefallen hat, dann kann ich Dir ohne weiteres das neueste Buch der Autorin empfehlen:


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    Claire Beyer, Remis


    Das ist eine so feinfühlige, sprachlich tolle Geschichte... Vielleicht mache ich am besten einen eigenen Thread auf?


    Liebe Grüße
    dubh

    Liebe Grüße

    Tabea

  • Claire Beyer - Rauken


    Ein Dorf im Allgäu zu Beginn der 50er Jahre. Das Mädchen Vroni wächst in einer Großfamilie auf, die vom Großvater mit harter Hand regiert wird. Vroni ist den familiären Machtverhältnissen hilflos ausgeliefert. Besonders hat sie unter den unkontrollierten Wutausbrüchen ihres Vaters zu leiden, einem Kriegsversehrten, der selbst eine ganz und gar vom Großvater abhängige Existenz führt. Und niemand in der Familie hat den Mut oder die Kraft, Vroni beizustehen. Aber da gibt es Pierre, den Sohn einer jüdischen Fabrikantenfamilie, die nach dem Ende des Krieges aus dem Osten in das Dorf kam. Pierre, der so wunderschön Klavier spielt und Vroni eine ganz neue Welt eröffnet. Mit diesem Jungen, zu dem ihr der Kontakt strengstens untersagt ist, verbindet sie eine innige Freundschaft. Doch durch die Intrigen der Dorfbewohner wird Pierrres Familie vertrieben. Für das Mädchen bricht eine Welt zusammen. Dennoch gelingt es ihr, in diesem Klima aus Lieblosigkeit, Vernachlässigung und Brutalität zu überleben. Denn immer wieder gibt es Menschen wie Pierre, Menschen, die anders sind, bei denen sie für kurze Momente Zuneigung und Menschlichkeit erfährt.



    Vroni, zu Beginn der Geschichte sechs Jahre alt, erzählt von ihrer Kindheit im Allgäu bis etwa zu ihren 13. Lebensjahr. Sie lebt in einer Großfamilie, die vom herrischen Großvater mit strenger Hand geführt wird. Ihr Vater, mit einem Splitter im Hirn aus dem Krieg zurückgekehrt, findet immer einen Grund sie zu schlagen.


    Vronis Leben ist angefüllt mit offener Gewalt und Unterdrückung. Sie zeigt fast keinen Widerstand. Zu übermächtig ist die Welt der Erwachsenen für sie. Eigentlich verläuft ihre Kindheit unter dem Motto "Schweig und tu was man dir sagt!".
    Das Wenig an Zuneigung, das sie erhält kommt nie von der Familie. Menschen wie Pierre, der bucklige jüdische Junge, oder Ivan, der ehemalige russische Kriegsgefangen, schenken ihr menschliche Wärme.


    Die Mutter ist ihr gar keine Hilfe. Es ist anzunehmen, dass der Großvater sie von klein auf unterdrückt hat. Er ist der einzige, der in dieser Familie etwas entscheidet. Die Mutter durfte ihren Mann sicher nur wegen der Schwangerschaft heiraten. Vielleicht hat sie damals geglaubt sich von ihrer Familie lösen zu können. Aber das Gegenteil war der Fall. Jetzt hängen sie in dieser Sippe fest. Der Vater rebelliert dagegen - indem er seine Tochter schlägt. Sie ist schuld!
    Alles nur wegen ihr.


    Da nur aus Vronis Sicht erzählt wird, erfährt man nicht wie der Vater früher war. Vor dem Krieg, vor der Eingliederung in diese Familie. Sein Bruder sagt, Schuld ist der Krieg und die alte Hexe (gemeint ist damit die Stiefmutter des Vaters). Der Krieg hat ihm ein Souvenir hinterlassen. Den Splitter im Kopf.
    Ein Hirntrauma kann eine Persönlichkeitsveränderung bewirken. Die Betroffenen werden aggressiv, enthemmt, unfähig Krisen zu meistern oder werden antriebsarm. Ich habe auf diesem Gebiet keine Erfahrung um beurteilen zu können in wie weit das beim Vater gezeigte Verhalten "normal" bei dieser
    Diagnose ist. Selbst wenn das Verhalten des Vater darauf zurückzuführen ist, entschuldigt es nicht das Verhalten des Großvaters beziehungsweise die Passivität der anderen Familienmitglieder.
    Die Prügelstrafe war zu dieser Zeit gang und gebe, sein Kind krankenhausreif zu schlagen sicher auch damals nicht.


    Der Inhalt der Geschichte ist schon schlimm genug, aber was sie erst so richtig unter die Haut gehen lässt, ist Vronis Art sie zu erzählen. In einfachen Sätzen berichtet sie von dem für sie unabwendbaren; kein großartiges Selbstmitleid, kein Hass. Nur Angst, immer und immer wieder die Angst.
    Selbst die wenigen Freunde werden ihr durch das Schicksal entrissen und hinterlassen neue Einsamkeit.
    Wie schafft ein Kind es so ein Leben zu meistern? Unbeschadet, behaupte ich mal, ganz bestimmt nicht.


    Das Buch hat nur 125 Seiten. 125 Seiten geballtes Gefühl, die ich nur in Etappen lesen konnte.
    Rauken ist ein Buch, das niemanden kalt lassen kann. Für sensible Menschen ist es nicht geeignet.
    Eins der Bücher, die man sein Leben lang nicht mehr vergißt.



    5ratten

  • Vroni lebt in den 1950er Jahren in einem Dorf im Allgäu, unterdrückt und geprügelt von ihrem Vater. Ihr einziger Freund ist Pierre, Sohn einer jüdischen Familie, die nach dem Krieg ihr Erbe im Dorf angetreten hat. Doch seine Familie wird durch Vronis Großvater, den unumstrittenen Herrscher der Dorfgemeinschaft, vertrieben und als eine Folge seiner Intrigen müssen auch Vroni und ihre Eltern das Dorf verlassen. Sie hofft sie auf eine bessere Zukunft, doch der Abschied aus dem Dorf bringt keine Erleichterung, das Wirtshaus in München, das die Familie bezieht, wird noch weniger zur Heimat.


    Vroni zuzuschauen wie sie lernt, ihr Herz an nichts zu hängen, weil alles Schöne und Gute nicht lange währt, sondern ganz schnell wieder zerstört wird, ist bedrückend. Ich finde es fürchterlich, wie jeder Ansatz von Freude aus ihr herausgeprügelt wird, aber auch dem Vater gegenüber empfinde ich Mitleid, er war früher anders, seine Gewalttätigkeit ist nur aus seiner Frustration geboren, in einem unerwünschten Lebensweg gefangen zu sein. Er wird vom allmächtigen Großvater nur geduldet, der Dorf und Familie mit eiserner Hand regiert. In seinem brutalen Machtmenschenhaushalt kann einfach keinerlei Freundlichkeit gedeihen. In lyrisch anmutender Sprache wird ein Bild aus Nachkriegstristesse und Zerstörung gezeichnet, wobei einen die zerstörerische Wut und die aus Hilflosigkeit und erlernter Gefühlskälte entstandene Grausamkeit ohnmächtig zurück lassen. „Rauken“ ist ein Buch, das man nur in kleinen Dosen lesen kann, um nicht von der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, die es ausstrahlt, mitgerissen zu werden – doch lesenswert ist es.


    4ratten + :marypipeshalbeprivatmaus: