Deutschsprachige Fachliteratur – komplizierter als anderswo?

Es gibt 12 Antworten in diesem Thema, welches 3.163 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Marypipe.

  • Hallo zusammen,


    muß Fachliteratur unverständlich sein? Schachtelsätze, Fremdwörter, geschraubte Formulierungen…Neulich hatte ich es mit Freunden davon, und die meinten, dass das wohl eine deutsche Eigenheit sei, die englischsprachige Fachliteratur sei deutlich einfacher zu verstehen. Da ich beruflich auf deutschsprachiges begrenzt bin, würde mich jetzt Eure Meinung interessieren: Sind mal wieder nur die Deutschen kompliziert? (Und wenn ja: warum? :zwinker: ).


    Liebe Grüße
    Manjula

  • Das kommt wohl mit auf's Fachgebiet an. In der Physik kann ich Deine Aussage nicht bestaetigen. Aber ich habe gehoert, das I. Kant in der englischen Uebersetzung besser "verdaulich" ist als im deutschen Original. :breitgrins:

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym, 2001

  • Hallo zusammen!


    Aber ich habe gehoert, das I. Kant in der englischen Uebersetzung besser "verdaulich" ist als im deutschen Original. :breitgrins:


    Er wurde simplifiziert, den englischen Aufklärern Hume und Hobbes angeglichen. Kant ist eines der idealen Beispiele, wo die Übersetzung gleichzeitig schon eine Interpretation darstellt.


    Im übrigen mache ich die Erfahrung, dass Fachliteratur in lateinischen Sprachen (Französisch, Spanisch, Portugiesisch ... ) tendenziell eher "verschachtelter" geschrieben ist als die in deutscher Sprache. Um bei den Philosophen zu bleiben: Man lese Sartre, Derrida, Foucault ...


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Hallo sandhofer,

    Im übrigen mache ich die Erfahrung, dass Fachliteratur in lateinischen Sprachen (Französisch, Spanisch, Portugiesisch ... ) tendenziell eher "verschachtelter" geschrieben ist als die in deutscher Sprache. Um bei den Philosophen zu bleiben: Man lese Sartre, Derrida, Foucault ...


    Lies die mal auf Deutsch, da fällt dir gar nichts mehr ein. Ich habe Foucault, Derrida etc. erst verstanden, als ich sie auf französisch gelesen habe. Es ist wohl einfach unheimlich schwierig, anständige Übersetzungen von wissenschaftlichen Texten zu machen. Und bei den Deutschen stellt man fest, dass gerne mal auf einem höheren Niveau geschrieben als gedacht wird :breitgrins: (diese Wendung stammt leider nicht von mir). Dieser Eindruck kommt aber wohl auf daher, dass wir von der ausländischen Wissenschaft immer nur das Beste wahrnehmen, während wir hier mittendrin stecken.
    Aber nichtsdestoweniger stimmt es wohl schon: In Deutschland wird nicht so großer Wert auf lesbaren Stil gelegt, während man im anglo-amerikanischen Raum alle naslang das Verfassen lesbarer Texte übt. Ob darunter die Komplexität leidet? Es gibt Leute, die das sagen. Ich gehöre nicht dazu.


    Herzlich, B.

  • Hallo zusammen!


    Lies die mal auf Deutsch, da fällt dir gar nichts mehr ein.


    Nun gut, Übersetzungen ins Deutsche sind immer ein Kapitel für sich. :smile:


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Und bei den Deutschen stellt man fest, dass gerne mal auf einem höheren Niveau geschrieben als gedacht wird :breitgrins: (diese Wendung stammt leider nicht von mir). ... Aber nichtsdestoweniger stimmt es wohl schon: In Deutschland wird nicht so großer Wert auf lesbaren Stil gelegt, während man im anglo-amerikanischen Raum alle naslang das Verfassen lesbarer Texte übt.


    Ich habe wissenschaftliche Arbeiten selber Korrektur gelesen und selber verfassen müssen. Wenn der Prof aus einem Satz Siebenzeiler gebastelt hat, haben wir das wieder zerlegt in appetitliche Häppchen. Das kostet beim Lesen sonst unnötig Zeit. Sich hochgestochen ausdrücken bedeutet noch lange nicht, dass der Inhalt auch wirklich eine wissenschaftliche Sensation birgt. Vielfach wird einfach so komplex geschrieben, weil eben alle so schreiben und ein gewisser Stil sich durchgesetzt hat. Den Inhalt so intellektuell wie möglich verpacken und ungeheure Wortwolken verfassen. Wer verständlich schreibt, fällt zumindest bei den Naturwissenschaften eher negativ auf - ist meine Erfahrung.


    Die englischen Texte waren in der Regel prägnanter geschrieben. Kürzere Sätze, viel stärker reduziert auf bestimmte Redewendungen oder Satzbausteine.


    Wozu die Fabulierlust führen kann? Beispiel aus dem Leben: Als eine Zeitungsredakteurin bei einer befreundeten Laborleiterin anrief und die wissenschaftliche Arbeit in der Zeitung erläutern wollte, fiel die Laborleiterin aus allen Wolken, weil z.B. Substanzen, die Wirkstoffe transportieren, im Artikel plötzlich als "Taxis" anschaulich umschrieben wurden. Die Laborleiterin lebte so sehr in der ihr bekannten Formulierungswelt, dass sie ganz übersehen hatte, dass man bei Erklärungen verständlich bleiben muss und (je nach Leserschaft) passende Vergleiche und "Übersetzungen" finden muss. Der Name der Laborleiterin musste aus dem Artikel gestrichen werden, weil sie nicht mit diesem "unsachlichen Geplapper" identifiziert werden wollte.

    ☞Schreibtisch-Aufräumerin ☞Chief Blog Officer bei Bleisatz ☞Regenbogen-Finderin ☞immer auf dem #Lesesofa

  • Hallo zusammen!


    [...] weil z.B. Substanzen, die Wirkstoffe transportieren, im Artikel plötzlich als "Taxis" anschaulich umschrieben wurden. Die Laborleiterin lebte so sehr in der ihr bekannten Formulierungswelt, dass sie ganz übersehen hatte, dass man bei Erklärungen verständlich bleiben muss und (je nach Leserschaft) passende Vergleiche und "Übersetzungen" finden muss. Der Name der Laborleiterin musste aus dem Artikel gestrichen werden, weil sie nicht mit diesem "unsachlichen Geplapper" identifiziert werden wollte.


    Nun, es müsste ja wohl auch einen Mittelweg geben zwischen "hochgestochen" und "Boulevard" ... :zwinker:


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Hallo Bettina,


    Ich kenne einige Leute, die der Auffassung sind, mit einer unterkomplexen Sprache seien komplexe Gedankengänge nicht angemessen wiederzugeben. Ich stehe dem, wie gesagt, zwiespältig gegenüber, aber jedenfalls kannst du nicht jeden Text durch das Kürzen eines Satzes oder durch das einfügen einer griffigen Metapher in einen leicht verständlichen verwandeln. Es mag Fälle geben, in denen das so funktioniert, aber das ist eher die Ausnahme.


    Manchmal musst du dich ja auch auf eine bestimmte Terminologie beziehen und sie schon deshalb verwenden. Und eine neue Terminologie ist oft Zeichen der Kritik an einer alten. In wissenschaftlichen Texten kann man also nicht einfach ein Wort durcvh ein gängigeres ersetzen, das würde unter den Fachleuten wieder zu heilloser Verwirrung führen.


    Das Problem ist in meinen Augen viel eher, dass eine aufgeblasene Sprache manchmal den mangelnden Inhalt verbergen soll.


    sandhofer, ja, Übersetzungen sind ein Problem, aber ich wollte damit auch sagen: Weder Derrida noch Foucault schreiben besonders verquast. Da gibt es ganz andere Kaliber.


    Herzlich, B.

    Einmal editiert, zuletzt von Bartlebooth ()


  • Das kommt wohl mit auf's Fachgebiet an. In der Physik kann ich Deine Aussage nicht bestaetigen. Aber ich habe gehoert, das I. Kant in der englischen Uebersetzung besser "verdaulich" ist als im deutschen Original. :breitgrins:


    Also bei philosophischen Texten kann ich das auf jeden Fall bestätigen. Ich lese gerade Hegel und komplizierter geht es wahrscheinlich wirklich nicht mehr. Englische Philosophen (englische Übersetzungen von deutschen Philosophen hab ich noch keine gelesen) schaffen es irgendwie, das was sie sagen wollen auch noch dann verständlich auszudrücken, wenn es sich wirklich um schwierige Themen handelt.

    Life is so much cleaner on the page.

  • Moin,


    das gehäufte verwenden von Fachsprache bzw. Termini ist m.E. nur ein Versuch sich vom "Rest der Welt" abzugrenzen und nicht Fachangehörige auszugrenzen. Man will damit aber auch ein Zusammengehörigkeitsgefühl schaffen (Zumindest gilt dies für Texte, die für Fachangehörige geschrieben worden sind).


    Gruß
    Nischa

    Habent sua fata libelli

  • Hegel ist sehr verquast, das stimmt schon; aber sind Locke oder Hume wirklich um so vieles leichter zu lesen als Rousseau oder Voltaire (die ich beide ziemlich leicht lesbar finde, wobei Rousseau mich wegen seiner weinerlichen Art nervt :breitgrins:) oder Kant? Ich weiß nicht. Ich bin übrigens nochmals durch mein Fachliteraturregal gegangen auf der Suche nach schwer lesbaren Angloamerikanern. Und zwei echte Brocken habe ich jedenfalls auch hier gefunden: Homi Bhabha ist wirklich absolut superverquast und ich glaube nur einem Viertel der Menschen, die ihn zitieren, dass sie wirklich verstanden haben, was er sagen wollte ;-): und Paul de Man toppt auch ganz leicht Derrida, was aber zum Teil auch an der etwas durchgeknallteren Form von Dekonstruktion liegen mag, die er vertritt.


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    Herzlich, B.

    Einmal editiert, zuletzt von Bartlebooth ()

  • Hallo zusammen!


    Also bei philosophischen Texten kann ich das auf jeden Fall bestätigen. Ich lese gerade Hegel und komplizierter geht es wahrscheinlich wirklich nicht mehr. Englische Philosophen (englische Übersetzungen von deutschen Philosophen hab ich noch keine gelesen) schaffen es irgendwie, das was sie sagen wollen auch noch dann verständlich auszudrücken, wenn es sich wirklich um schwierige Themen handelt.


    Öhm ... hast Du mal in die Principia Mathematica von Russell / Whitehead geguckt?

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    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Oh, das ist eigentlich genau mein Thema. Damit befasse ich mich nämlich in meinem Studium als Technische Redakteurin. Nicht selten werden Fachbücher nämlich von solchen geschrieben. Aber im Moment habe ich nicht viel Zeit zu antworten, ich melde mich wieder. :winken:


    Grüße,


    Marypipe