[Umfrage] Friedrich Dürrenmatt - Der Besuch der alten Dame

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  • Hallihallo,


    wieso gibt es nur eher ja und eher nein, wieso kein ganzes ja oder ein ganzes nein?



    Rachegefühle sind zwar eine zutiefst menschliche Regung, aber auf Gewalt mit Gegengewalt zu reagieren, ist dumm und löst keine Probleme. Claire Zachanassians Leiden wird durch den Tod Ills höchstens kurzfristig gelindert, langfristig wird sich an ihrem seelischen Schaden (sofern sie überhaupt einen erlitten hat) nichts ändern, nur weil sie Ill umbringen lassen will. Im Gegenteil: Es wird schlimmer, weil man sich durch so einen Racheplan noch den Tod eines Menschen aufs Gewissen lädt. Und spätestens, wenn Ill tot und ihre Rachegelüste abgekühlt wären, würde sie sich fragen, ob die Strafe angemessen war.


    Ich weiß gar nicht, ob man diese Rachgefühle überhaupt als menschliche Regung bezeichnen kann. Es ist zwar schon etwas länger her, dass ich das Buch gelesen habe, aber besonders menschlich fand ich Claire nicht mehr. Mal davon abgesehen, dass die Hälfte ihres Körpers aus Plastik und Prothesen besteht, wirkt auch ihr ganzes Verhalten eher maschinell. Ich denke nicht, dass die Ermordung für Claire noch irgendetwas mit Hass oder Befriedigung zu tun hat, sondern dass es schlicht das Ende ihrer Liste ist.
    Ihr Leiden... sie leidet? Meiner Meinung nach hat sie einen Zustand erreicht, wo regliche menschlichen Empfindungen bedeutungslos sind. Glücklich wird sie ohnehin nie werden, und ich denke nicht, dass es einen Unterschied für sie macht, ob sie einen Mord auf dem Gewissen hat oder nicht. Und eigentlich geht es ihr doch auch nicht um den Tod Ills, sondern nur darum, dass sie ihn in die gleiche Situation bringt, in der sie früher war - außerhalb der Gesellschaft, die ihn trotzdem bestraft.


    lg,


    mondpilz

  • Es geht m.M.n. bei Dürrenmatt nicht darum, ob das Ausüben von Rache oder Recht (die beiden Wörter, die sich zum Verwechseln ähnlich sehen, und die für Dürrenmatt ein und dasselbe bedeuteten) nun ge"recht"fertigt ist oder sein kann. Gewissensbisse oder Moral sind irrelevant.


    Claire wird von Güllens Einwohnern nicht nur wie ein Götzenbild angebetet - sie ist ein Götze. Kein Mensch mit menschlichen Gewissensbissen. Der alte, grausame Jahwe jenes simplen Wüstenvolkes, der, nachdem er von den Menschen erniedrigt worden ist am Kreuz, wieder auferstanden und mächtiger denn je die alte Blutschuld am Juden zurückfordert ... archaische Verhältnisse in modernem Gewand ... Juden und Christen, die munter Bäumlein-wechsle-dich spielen und einander gegenseitig abschlachten ... Rache ohne Sinn ... Leben ohne Sinn ... Leiden ohne Sinn ...


    Ja, Ill findet zum Schluss einen ganz privaten Sinn in seinem Leiden. Als privater aber ist der nicht mit-teilbar ...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • [quote author=mondpilz]Ich weiß gar nicht, ob man diese Rachgefühle überhaupt als menschliche Regung bezeichnen kann. ... Ich denke nicht, dass die Ermordung für Claire noch irgendetwas mit Hass oder Befriedigung zu tun hat, sondern dass es schlicht das Ende ihrer Liste ist. [/quote]


    So herum habe ich die Sache noch gar nicht betrachtet. Ich war bisher immer der Meinung, dass Hass und folglich der Wunsch nach Rache aus Gefühlen entstehen muss. Und Gefühle sind für mich immer noch eine menschliche Regung.
    Andrerseits halte ich es durchaus für möglich, dass ein Mensch derart "aus den Fugen gerät", dass er tatsächlich nur noch eine Liste abarbeitet, wie du das so schön formuliert hast.


    [quote author=sandhofer]archaische Verhältnisse in modernem Gewand ... Juden und Christen, die munter Bäumlein-wechsle-dich spielen und einander gegenseitig abschlachten ... Rache ohne Sinn ... Leben ohne Sinn ... Leiden ohne Sinn ...[/quote]


    Und insofern natürlich auch keine Gerechtigkeit... jedenfalls nicht für mein Empfinden.


    Liebe Grüsse


    Alfa Romea

    Wer anderen folgt, wird nie zuerst ankommen.

  • Hallo :winken:


    Es wäre nett, wenn ihr nicht nur Stimmen abgebt, sondern auch einen kleinen Kommentar hinterlasst, damit die Ergebnisse verständlicher werden.


    Ich habe "höa.. das buch kenn ich ja gar nicht...??" angekreuzt. Bin schon sehr neugierig auf das Ergebnis von eurem Schulprojekt.


    Liebe Grüße
    wolves

  • Hmm. Für die Beantwortung der Frage müsste man zuersteinmal "Gerechtigkeit" definieren, was schon sehr weit führt. Wir halten es bspw. auch für gerecht, wenn eine Räuberbande ihr Diebesgut "gerecht" untereinander aufteilt. In der griechischen Antike wäre das nicht unbedingt der Fall gewesen: "Gerecht" konnte etwas nur sein, wenn es umfassend gerecht war.
    Hier wurde "gerecht" allerdings auch oft mit "legal" gleich gesetzt, was wir heute ja nicht unbedingt tun würden.
    Also gehen wir mal durch:
    legal- nö. Selbstjustiz ist ganz klar illegal.
    Gerecht im antiken Sinne- nein.
    "Gerecht" im unserem Verständnis?
    Auch hier würde ich verneinen, da die Ausgangslage nicht gerecht ist. In beiden Untaten gibt es Machthaber und Opfer. Die ersteren nutzen ihre Mittel um ihr Weltbild aufrecht zu erhalten: von Gemeinschaft oder eben von Gerechtigkeit.
    Wenn Macht also ausgenutzt wird, kann es sich nicht um Gerechtigkeit handeln. Die Vorstellung einer höheren Gerechtigkeit ist mir zu mystisch.


    Im Ggs. zu manch anderem erschien mir Claire im Übrigen nicht als unmenschlich, vll. auch, weil ich sie damals in der Schule gespielt habe.
    Ansonsten würde ich einem meiner Vorredner zustimmen, dass es hier nicht wirklich um "Gerechtigkeit" geht, auch wenn dem Leser/ der Leserin ein lappidares "selbst schuld" durchaus einfallen kann. Vll. geht es viel mehr um die Zerbrechlichkeit der bürgerlichen Vorstellung dieser. Aber um mich hier weiterzuversteigen liegt meine Lektüre definitiv zu lang zurück.


    gruß,
    n.